Technologie Infineon-Aktie ereilt der Fluch des Chipbooms

Europas größter Chiphersteller kann längst nicht so viel liefern, wie die Kunden bestellen. Das bremst den Kursanstieg.
München Reinhard Ploss hat viele Höhen und Tiefen erlebt in seinen 35 Jahren in der Halbleiterindustrie. Doch einen Auftragsbestand von zwei Jahren hatte der Infineon-Chef selten einmal in den Büchern. „Das ist schon eine besondere Situation“, konstatiert der Konzernherr. Es sei zudem damit zu rechnen, dass im Herbst noch viel mehr Bestellungen eingingen.
Die Investoren könnten also zufrieden sein mit Europas größtem Chiphersteller. Sind sie aber nicht. Oder jedenfalls nicht so, wie es angesichts des Auftragsbooms zu erwarten wäre. Denn Infineon kann längst nicht so viel liefern, wie es die Kunden gerne hätten. Das Unternehmen sei gut positioniert für weiteres Wachstum, meint Berenberg-Analystin Tammy Qiu. Die Frage sei aber, ob die Münchener überhaupt über ausreichend Kapazitäten verfügten.
Die akuten Lieferengpässe sind wohl das größte Problem von Ploss in seinen letzten knapp anderthalb Jahren an der Spitze von Infineon. Und ob er die Chipknappheit schnell in den Griff bekommt oder nicht, dürfte ausschlaggebend für die weitere Entwicklung des Aktienkurses sein.
In diesem Frühjahr hinkte Infineon dem deutschen Leitindex Dax lange hinterher. Erst in den vergangenen Tagen hat der Konzern aufgeholt. So gewann der Index seit Jahresbeginn rund 15 Prozent, Infineon kommt auf ein Plus von etwa 14 Prozent. Die Konkurrenten haben sich derweil allerdings zum Teil deutlich besser entwickelt als Infineon: So verzeichnet NXP Semiconductors einen Kursanstieg seit Anfang Januar von rund einem Drittel.
Ein Blick auf die Wettbewerber zeigt, warum die Börse trotz der Orderflut skeptisch ist. Die Münchener haben im zweiten Quartal Marktanteile an einige der wichtigsten Konkurrenten verloren, die den gewaltigen Halbleiterbedarf besser befriedigen konnten. Denn mit einem Umsatzplus im Vergleich zum Vorjahr von 25 Prozent auf mehr als 2,7 Milliarden Euro lief das Geschäft bei Infineon nur vordergründig rund.
Infineons größte Schwäche
Beim französisch-italienischen Rivalen ST Microelectronics sind die Erlöse um 43 Prozent auf gut 2,5 Milliarden Euro gestiegen. Die Einnahmen von NXP aus den Niederlanden kletterten ebenfalls um 43 Prozent, und zwar auf 2,2 Milliarden Euro. Und der Umsatz von On Semiconductor aus den USA ist um 38 Prozent auf umgerechnet 1,4 Milliarden Euro gewachsen.
Die größte Schwäche von Infineon: Die Münchener bekommen nicht genug Ware von Auftragsfertigern, den sogenannten Foundries. Diese Spezialisten produzieren die Chips für Konzerne wie Infineon, die sich in bestimmten Bereichen keine eigenen Fabriken leisten können oder wollen. Es fehle vor allem an Kapazitäten für reifere Technologien, klagte Chef Ploss vorige Woche. Daran kann der Manager wenig ändern. Der 65-Jährige ist darauf angewiesen, dass Foundries wie TSMC, Samsung oder Globalfoundries mehr investieren.
Das haben die Konzerne zwar auch versprochen. Nur: Bis neue Maschinen installiert sind, vergehen noch Monate. Zusätzliche Werke sind frühestens in zwei bis drei Jahren fertig. Die Lieferengpässe, die vor allem die Autoindustrie treffen, würden daher nicht so schnell vorübergehen, fürchtet Marcus Kleinfeld von der Beratungsgesellschaft Alix Partners: „Das Thema wird uns bis weit ins nächste Jahr beschäftigen.“
Dieses Frühjahr hatte Infineon außerdem auch großes Pech. „Die Vorräte sind auf einem historischen Tiefstand, unsere Chips gehen aus der Fertigung direkt in die Endanwendungen“, sagte Ploss vergangene Woche. „In diesem Umfeld wiegen Pandemie-bedingte Einschränkungen der Fertigung wie jüngst in Malaysia doppelt schwer.“
Das Unternehmen betreibt zwei große Werke in dem asiatischen Land. Die Fabrik in Melaka sei vom jüngsten Lockdown in dem Land stark betroffen gewesen, teilte der Konzern mit. Insgesamt 20 Tage habe die Fertigung auf Anweisung der Behörden stillgestanden, so Produktionsvorstand Jochen Hanebeck. In Melaka veredelt Infineon vor allem Halbleiter für die wichtige Autosparte. Diese steht für mehr als 40 Prozent vom Umsatz des Unternehmens.
Ein Wintersturm bremst Infineon
Zudem spüre der Konzern die Auswirkungen eines Wintersturms in Texas. In dem US-Bundesstaat hatten die Bayern ein Werk zu Jahresbeginn zeitweise komplett stilllegen müssen. So kommt es, dass der Umsatz in der Autodivision trotz voller Auftragsbücher im abgelaufenen Quartal gegenüber dem Vorquartal sogar leicht gesunken ist.
Dennoch geht es natürlich bei Infineon insgesamt aufwärts, so wie in der gesamten Branche. Sämtlichen Herstellern werden die Bauelemente aus den Händen gerissen, von der Autobranche genauso wie von den Computermarken oder den Netzwerkausrüstern des neuen Mobilfunkstandards 5G. Die Branchenbeobachter der World Semiconductor Trade Statistics rechnen für 2021 mit einem globalen Umsatzzuwachs von rund einem Fünftel.
Das wird nach Ansicht von Analysten früher oder später auch den Kurs von Infineon in Schwung bringen. Im Schnitt rechnen die Banker mit einem Plus von knapp 20 Prozent auf gut 41 Euro binnen Jahresfrist. Berenberg-Expertin Qui sagt sogar einen Kurs von 45 Euro voraus, das entspricht einem Anstieg von rund 30 Prozent gegenüber dem aktuellen Stand. Falls es tatsächlich so gut läuft an der Börse, wäre dies der mit Abstand höchste Aktienkurs für Infineon seit 20 Jahren. Siemens brachte Infineon, seine ehemalige Halbleitersparte, im März 2000 zu 35 Euro je Aktie aufs Parkett. Im Börsenhype jener Zeit schoss der Kurs zeitweilig auf mehr als 80 Euro in die Höhe.
Der Konzern geriet in der Vergangenheit nach solchen Hochs allerdings schnell in wirtschaftliche Turbulenzen, der Wert stürzte ab. Ihren Tiefpunkt markierten die Anteilsscheine während der Finanzkrise 2009, als eine Aktie für 39 Cent zu haben war. Infineon stand damals kurz vor der Pleite. Zwischenzeitlich flogen die Bayern denn auch aus dem Dax.
Infineon steht heute wirtschaftlich wieder auf festem Fundament. Im laufenden Geschäftsjahr, es endet am 30. September, hat Vorstandschef Ploss die Prognose schon zweimal angehoben. Der Manager verspricht einen Umsatz von elf Milliarden Euro und eine operative Marge von 18 Prozent.
Am 5. Oktober wird es spannend
Einen Schub für den Kurs erwarten Analysten, wenn sich eine Entspannung in den Fabriken abzeichnet. Der Markt dürfte den Fokus auf das kommende Jahr richten, meint Sandeep Deshpande von JP Morgan. Dann könnten Kapazitätsengpässe in der Produktion ausgeglichen werden. Im Oktober oder November sei mit positiven Nachrichten in dieser Hinsicht zu rechnen. Der Banker hat sein Kursziel gerade von 40 auf 42 Euro angehoben.
Die Aktie habe zwar Potenzial nach oben, findet auch Barclays-Analyst Andrew Gardiner. Dieses sei aber geringer als bei den günstiger bewerteten Papieren von ST Microelectronics. Der Banker erwartet einen Kursanstieg auf 41 Euro.
Anleger sollten sich unterdessen schon einmal den 5. Oktober dick im Kalender ankreuzen. Dann wird der Vorstand in London seine weiteren Pläne vorstellen. Für Ploss beginnt gleichzeitig das letzte volle Geschäftsjahr an der Spitze von Infineon. Der Elektroingenieur führt den Konzern seit Herbst 2012 und hört an Silvester 2022 auf. Als der Franke auf dem Chefsessel Platz nahm, notierten die Papiere bei rund 4,40 Euro. Das heißt: Er hat den Kurs verachtfacht. Ob das wohl auch seiner Nachfolgerin oder seinem Nachfolger gelingen wird?
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