Patient21 Nach Krebsdiagnose: Das hat Ex-Auto1-COO Christopher Muhr mit seinem Medizin-Start-up vor

„Wir wollen das Gesundheitssystem in das 21. Jahrhundert bringen“, so Muhr.
Düsseldorf, Frankfurt „Hodenkrebs“, sagt Christopher Muhr. Es ist die Antwort auf die Frage, warum er ein Gesundheits-Start-up gegründet hat. In der Start-up- und E-Commerce-Branche kennt man ihn als den Mann, der beim Online-Autohändler Auto1 die Expansion vorangetrieben hat. Bis Mitte 2018. „Ich bin Ende 2017 an Hodenkrebs erkrankt und habe sehr intensive Erfahrungen mit dem deutschen Gesundheitssystem gemacht“, führt er aus.
Für einen, der damals schon Gebrauchtwagen quer durch Europa im Internet verkaufte, waren diese Erfahrungen unerträglich analog. MRT-Termine seien verschoben worden, weil Ärzte seine Laborwerte nicht übersendet hatten. Röntgenbilder hätten per Taxi durch Berlin transportiert werden müssen, sagt Muhr. Jetzt ist er genesen und will all das smarter machen.
Patient21 ist eins von vielen Start-ups, das den Gesundheitssektor digitalisieren will. Jedem für sich schwebt vor, mit einer besseren Vernetzung und Nutzung von Daten letztlich sogar Menschenleben zu retten. Aber selten ist das Geschäftsmodell so radikal, sind die Ambitionen so groß: Muhr will nämlich nicht nur intelligentere Software liefern, er will gleich ganze Arztpraxen übernehmen – und er zielt auf einen riesigen Markt.
Muhr hat Patient21 2019 gegründet, bereits mehr als 125 Millionen Euro von Investoren eingesammelt, ein Belegkrankenhaus in Heidelberg und 25 Arztpraxen etwa für Gynäkologie und Zahnheilkunde gekauft. Doch bislang hat er nie öffentlich erklärt, was er genau vorhat.
Die Vision: eine moderne Form der Polyklinik, in der Fachärzte an verschiedenen Standorten digital vernetzt zusammenarbeiten. Patienten können einwilligen, allen Ärzten im Netzwerk ihre Krankheitsgeschichte offenzulegen. Das soll den administrativen Aufwand reduzieren und mehr Zeit für die Patienten lassen – aber vor allem eine datenbasierte Behandlung innerhalb des eigenen Ärztenetzwerks ermöglichen.
Viele Firmen drängen in den attraktiven Markt
Der adressierte Markt ist riesig: Allein in Deutschland flossen in Arzt- und Zahnarztpraxen laut Statistischem Bundesamt zuletzt mehr als 85 Milliarden Euro an Gesundheitsausgaben. Ambulante Einrichtungen machen mehr als 200 Milliarden Euro Umsatz. In der Coronapandemie dürften sich diese Zahlen weiter erhöht haben.
Die Netzwerkidee verfolgen aber auch schon andere Akteure im Markt: So arbeitet der private Krankenhauskonzern Asklepios mit mehr als vier Milliarden Euro Umsatz seit 2017 mit Samedi zusammen. Mit der Samedi-Software können Behandlungspfade in den mehr als 150 Asklepios-Krankenhäusern und medizinischen Einrichtungen verfolgt werden. Zwischen stationärem und ambulantem Bereich sollen keine Informationen mehr verloren gehen.
Andere Digitalunternehmen wollen Ärzte und Patienten besser vernetzen. Dazu gehört Docplanner, das kürzlich die Burda-Tochter Jameda übernahm, und das französische Doctolib. Das Technologieunternehmen mit 2300 Mitarbeitern bietet in mehreren europäischen Ländern eine Software an, mit der Patienten online Termine buchen, Praxen sich digital managen und Ärzte Videosprechstunden anbieten können.
>> Lesen Sie hier mehr zum Jameda-Deal und dem Geschäft der Ärzte-Bewertungsplattformen
Sievert Weiss ist studierter Mediziner und bietet mit seinem Berliner Start-up Amboss ein digitales Nachschlagewerk für medizinisches Wissen an. Mit seiner Software lernen Medizinstudenten vor der Prüfung, Klinikärzte schlauen sich damit vor Operationen auf. Er kennt sich gut aus mit den Problemen in den Betrieben: „Heute werden Ärzte damit beschäftigt, Faxe hin und herzuschicken, das ist natürlich absurd. Wenn es eine Schnittstelle gäbe und die Bereitschaft mitzumachen, wäre sofort etwas gewonnen.“
Datenschutz kann zur großen Bremse werden
Aber einfach wird es nicht, Weiss sieht auch Fallstricke: „Wie werden sie mit den Patientendaten umgehen? Lassen sich Ärzte und Patienten auf breiter Front darauf ein? Es gibt gerade in Deutschland Menschen, die fordern, jeder müsse seine Gesundheitsdaten etwa über eine Blockchain selbst kontrollieren können.“ Zudem würden die Vorteile nur innerhalb des Netzwerks generiert. Und auch Weiss sieht viele Wettbewerber in der Lage, einen ähnlichen Weg wie Patient21 einzuschlagen.
Muhr will bis Ende nächsten Jahres hundert Einrichtungen an sein Netzwerk anschließen. Der hohe Kapitalbedarf macht ihm keine Sorgen. Das dürfte auch an Shmuel Chafets liegen. Der Investor von Target Global hat Patient21 von der Gründung an zusammen mit weiteren Wagniskapitalgebern unterstützt und kennt Muhr von seinem Investment in Auto1. „Als Chris entschieden hat, in eine neue Richtung zu gehen, war mir klar, dass ich alles finanzieren würde, egal, was er tun würde“, sagt er.
Mit ihm hat Muhr auch einen Unterstützer an Bord, der in Israel lebt und die Möglichkeiten eines digitalen Gesundheitssystems kennt: „Wenn ich zu irgendeinem Arzt gehe und der in seinen Computer guckt, sieht der meine gesamte Krankheitsgeschichte“, sagt Chafets. Vielleicht ist das bald auch bei seinen häufigen Besuchen in Berlin möglich.
Mehr: Das sind die wertvollsten Start-ups in Deutschland, Europa und der Welt
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.