Ada Die digitale Transformation macht ganz Finnland zum KI-Testlabor

Roos' und Valtonens bescheidenes Ziel war es, ein Prozent der finnischen Bevölkerung, also 55.000 Menschen, dazu zu bringen, am Kurs „Elements of AI“ teilzunehmen.
Düsseldorf Juha Paananen kann kleine Pfeile in Autos, Feen oder Schmetterlinge verwandeln. Er drückt dazu einfach ein paar Tasten auf seinem Laptop, dann Enter – und schon erscheint ein kleines, gelbes Auto auf dem Bildschirm. Mit großen Augen schauen die Kinder erst das Auto, dann Paananen an.
Dann wollen sie es selbst ausprobieren und beugen sich tief über ihre Laptops, sodass die Nasenspitzen fast die Tastatur berühren. Ein blonder Junge tippt: „setshape buterfly“. Auf seinem Bildschirm erscheint aber kein Schmetterling, sondern eine rote Fehlermeldung. Paananen schaut ihm über die Schulter und zeigt auf das Wort: Butterfly muss man mit zwei t schreiben, sonst klappt es nicht. Zweiter Versuch, diesmal mit Doppel-t, und schon ist aus dem kleinen schwarzen Pfeil ein Schmetterling geworden.
Paananen lächelt. „Die Neugier ist meist sofort geweckt. Dann geht es ums Ausprobieren“, sagt er. Dieses Grundprinzip gilt nicht nur für die Sechs- bis Zehnjährigen, die in seinem Unterricht spielerisch Programmieren lernen, sondern für ganz Finnland.
Überall im Land werden Lehrer*innen, Kinder und Senior*innen im Umgang mit neuen Technologien geschult. Die Grundlagen in künstlicher Intelligenz erlernen die Finn*innen in einem eigens entwickelten kostenlosen Onlinekurs, der auch über die Grenzen Finnlands hinaus beliebt ist.
Das kleine Land im Norden Europas macht vor, wie die digitale Transformation für die ganze Gesellschaft zum Lernerlebnis wird. Und dass auch vor neuen Technologien wie KI niemand Angst haben muss.
Der finnische Fokus auf künstliche Intelligenz ist kein Zufall. Im Frühjahr 2017 veröffentlichte die Beratung Accenture eine Studie, die Finnland nach den USA als Land mit dem höchsten Wirtschaftswachstumspotenzial durch KI einschätzt. Im selben Jahr verordnete sich das Land eine klare KI-Strategie mit acht konkreten Zielen: zum Beispiel die gezielte Investition in Ökosysteme aus Unternehmen und Forschungseinrichtungen, die KI entwickeln und anwenden, die Einrichtung eines nationalen Kompetenzzentrums für KI oder die Entwicklung eines Smart Assistants für digitale Behördengänge. Finnland treibt diesen Prozess mit einer Entschlossenheit voran, von der wir uns auch in Deutschland etwas abgucken können.
Einfach mal machen
Das Erfolgsgeheimnis der Finn*innen: Sie fangen ganz klein an, statt auf den großen, perfekt ausgearbeiteten Plan zu warten. So wie Juha Paananen. Der 42-Jährige mit dem dunkelblonden Pferdeschwanz arbeitet als Softwareberater bei der Strategieberatung Reaktor in Helsinki. Vor fünf Jahren war er frustriert darüber, dass Kinder Tablets geschenkt bekommen und diese nur zum Spielen nutzen, nicht, um damit zu lernen oder selbst etwas zu entwickeln.

Das Cover der aktuellen Ausgabe.
Also begann er, seiner damals vierjährigen Tochter mit spielerischen Methoden Programmieren beizubringen. „Wir haben gemeinsam gelernt, wie Computer funktionieren und wie wir sie dazu bringen, das zu tun, was wir wollen – das hat uns großen Spaß gemacht“, erzählt er. Er begann, darüber zu bloggen – in einem Blog mit dem ironischen Titel „Girls can’t code“.
Bald schon organisierte er auch Coding-Schulungen für die Kinder seiner Kolleg*innen – und daraus wurde kurze Zeit später eine offene Coding-Schule im Reaktor-Büro in Helsinki. „Nach einem einzigen Post auf Facebook hatten wir gleich 400 Anmeldungen“, sagt Paananen. Wenig später entstanden ähnliche Coding-Schulen im ganzen Land.
Fußläufig vom Reaktor-Büro entfernt liegt das finnische Ministerium für Bildung und Kultur. Die damalige Bildungsministerin erfuhr von Paananens Aktion, besuchte die Coding-Schule und verkündete, Programmieren als Pflichtbestandteil in den Lehrplan aller finnischen Schulen aufzunehmen. Seit 2016 lernen alle finnischen Schüler*innen ab der ersten Klasse Programmieren – nicht als einzelnes Schulfach, sondern kursübergreifend in allen Disziplinen.
Was klingt wie das Einmaleins des Innovationslexikons – klein anfangen, experimentieren und dann groß aufziehen –, war auch der Ansatz, den Teemu Roos gewählt hat. Der Informatikprofessor wollte seinen Onlinekurs „Einführung in die künstliche Intelligenz“, zugänglich für alle machen, nicht nur für seine Student*innen mit Programmierkenntnissen. Denn ihm sei aufgefallen, dass die breite Öffentlichkeit zu wenig über KI wisse oder Angst davor habe.
Roos sitzt mit schwarzem Kapuzenpulli in der Think Corner, einer Art Wohnzimmer der Universität Helsinki, das ein offenes Café, Open-Space-Flächen zum Lernen und separate Gruppenräume beherbergt. „Wenn Sie diese Geschichte mit einem Bild vom Terminator illustrieren, gebe ich Ihnen nie wieder ein Interview“, sagt er mitten im Gespräch und lacht.
Der Killer-Cyborg aus dem gleichnamigen Science-Fiction-Film ist schuld am gruseligen Image künstlicher Intelligenz, glaubt Roos. Er will, dass Menschen besser verstehen, was KI ist und wofür sie angewendet werden kann.
„Nicht jeder muss in der Lage sein, KI zu programmieren und anzuwenden, aber jeder sollte verstehen, wie Filterblasen in den sozialen Netzwerken funktionieren“, sagt er. Nur wenn die Grundprinzipien allen bekannt seien, könne sich auch wirklich jede*r an der öffentlichen Diskussion um KI beteiligen und die politische Regulierung von KI mitbestimmen. Deshalb hat sich Roos mit Ville Valtonen von Reaktor zusammengesetzt und überlegt, wie sich sein Kurs für Informatikstudent*innen so umgestalten ließe, dass auch Nichttechies ihn verstehen und Spaß daran haben.
Das Ergebnis ist der Onlinekurs „Elements of AI“, der insgesamt sechs Lektionen umfasst und auf sechs Wochen angelegt ist. Mit simplen Texten, anschaulichen Beispielen und Logikübungen, unterstützt durch bunte Illustrationen und Grafiken, lernen die Teilnehmer*innen die Grundlagen der KI, Machine Learning, Robotik und neuronale Netze, deren Anwendungsmöglichkeiten und gesellschaftliche Auswirkungen. Die Teilnahme ist kostenlos, der Kurs sowohl auf Finnisch als auch auf Englisch verfügbar.
Roos' und Valtonens bescheidenes Ziel war es, ein Prozent der finnischen Bevölkerung, also 55.000 Menschen, dazu zu bringen, am Kurs teilzunehmen. Mittlerweile haben sich 140.000 Menschen aus 110 Ländern registriert. Zum Erfolg beigetragen habe, dass sie die Teilnahme am Kurs an eine „Challenge“ geknüpft haben, glaubt Ville Valtonen, der sich das Marketingkonzept ausgedacht hat.
Er forderte Unternehmen dazu auf, sich an der AI Challenge zu beteiligen und ihre Mitarbeiter*innen mithilfe ihres Kurses weiterzubilden. Große finnische Unternehmen wie Nokia, der Telekomanbieter Elisa oder der Papierhersteller Stora Enso ließen sich auf den Wettbewerb ein, 250 weitere Firmen folgten. Die Zielmarke von 55.000 Teilnehmer*innen war nur vier Monate nach dem Start erreicht.
Besondere Aufmerksamkeit verschaffte dem Kurs, dass die finnische Regierung sich früh an der Challenge beteiligte und Mitarbeiter*innen in den Ministerien am Kurs teilnahmen. Zur ersten Abschlussfeier des Kurses im Herbst 2018, bei der die ersten Absolvent*innen ihr Teilnahmezertifikat erhielten, kam Finnlands Präsident höchstpersönlich.
Und im Frühjahr rief der finnische Wirtschaftsminister Mika Lintilä das Nachbarland Schweden per Videobotschaft dazu auf, am Kurs teilzunehmen. „Wer von uns wird bis Ende 2019 mehr Elements-of-AI-Absolventen haben? Möge das bessere Land gewinnen!“
KI fürs ganze Land
Der spielerische Wettbewerb ist nicht nur eine geschickte Marketingstrategie für den Kurs. Die finnische Regierung hat bereits früh erkannt, dass KI für Finnland wichtig ist. 2017 verabschiedete sie eine KI-Strategie, als erstes europäisches Land überhaupt.
Darin heißt es zum Beispiel: „Künstliche Intelligenz wirkt sich auf jeden Einzelnen in Finnland aus. Den Finnen muss Bildung zu künstlicher Intelligenz garantiert werden.“ Der Text verwendet in dem Zusammenhang das englische Wort „literacy“: Die Bevölkerung soll sozusagen digital alphabetisiert werden, explizit auch ältere Menschen. Gelingen soll das durch neue Formen lebenslangen Lernens.
Ilona Lundström leitet die Innovationsabteilung im finnischen Wirtschaftsministerium. Sie spricht klar, laut und deutlich – und nicht drum herum: „Europa muss wettbewerbsfähig bleiben. Wir wollen kein Outdoor-Museum werden, das andere nur besuchen. Wir wollen ein guter Standort für Unternehmen sein und ein guter Ort zum Leben.“ Und wenn Europa sich nicht um die digitale Bildung seiner Bürger*innen kümmere, werde es in Zukunft nicht mehr relevant sein, glaubt Lindström. Immerhin entstehen die meisten KI-Start-ups und die größten KI-Investments derzeit in den USA und in China.
Aber Europa habe gute Voraussetzungen, glaubt Lindström, und Finnland ohnehin. Der kleine Ostseestaat galt immerhin lange als Vorreiter, was technologische Innovation anging: Mit Nokia beherbergt er den einstigen Weltmarktführer für Mobiltelefonie. Nokias Erbe ist eine techaffine Bevölkerung mit hoher Digitalkompetenz, die neuen Technologien offen gegenübersteht. Hinzu kommt ein Wirtschaftssystem mit vielen kleinen und mittleren Unternehmen, flachen Hierarchien und flexiblen Strukturen.
„Wir können hier in Finnland eine Art Testlabor für Europa sein, um zu zeigen, was mit neuen Technologien wie künstlicher Intelligenz möglich ist“, sagt Lundström. Deshalb hat die öffentliche Förderagentur Business Finland, die vom Wirtschaftsministerium gesteuert wird, Wirtschaftsbereiche identifiziert, die sie gezielt fördern will: von Gesundheit und Energie bis hin zur industriellen Fertigung oder der Seefahrt. Mit insgesamt 200 Millionen Euro werden Projekte von Forschungseinrichtungen und Unternehmen unterstützt, die KI und Plattformlösungen entwickeln und in Experimenten anwenden.
Wer eines dieser staatlich geförderten Laborexperimente begutachten will, in denen KI nicht nur besprochen, sondern angewendet wird, muss von Helsinki aus gut 170 Kilometer nach Turku fahren. Hier stach im vergangenen Winter das weltweit erste autonom fahrende Schiff in See. Die Autofähre Falco des staatlichen Schiffsbetreibers Finferries und des britischen Maschinenbaukonzerns Rolls-Royce navigierte ohne menschliches Eingreifen durch den Archipel südlich von Turku.
Mithilfe vernetzter Sensoren, hochauflösender Kameras und KI-gestützter Objekterkennung kann das Schiff Hindernisse im Umkreis von einem Kilometer erkennen und ihnen ausweichen. Die Testfahrt lief erfolgreich.
Falcos einziger Fehler (laut Rolls-Royce): Er konnte einen schwimmenden Elch im Wasser zwar als Objekt erkennen, aber nicht eindeutig identifizieren. Seitdem trainiert KI-Entwickler Jussi Poikonen sein neuronales Netz – das selbstlernende System zur Bild- und Mustererkennung – auch mit Bildern von Elchen.
In Fällen, in denen das KI-System ein Hindernis nicht erkennen kann, wird der Kapitän oder die Kapitänin benachrichtigt. Diese*r steht nicht auf der Brücke, sondern sitzt in einem „Star Trek“ -ähnlichen Kommandozentrum auf dem Festland, vor einer Wand mit mannshohen Bildschirmen. Im Rolls-Royce-Forschungszentrum in Turku lässt sich ein Nachbau dieser virtuellen Schaltzentrale besichtigen.
Entwickler Poikonen nimmt auf dem schwarzen Ledersessel vor den Bildschirmen Platz. Vor sich sieht er die virtuelle 3-D-Ansicht eines Schiffs, das er mithilfe eines Joysticks durchs Gewässer steuert. In Echtzeit werden der Abstand zum Ufer, die aktuelle Geschwindigkeit und die Entfernung zu anderen Schiffen in der Umgebung angezeigt.
Auch wenn das Schiff autonom fährt, ist es nie ohne menschliche Kontrolle, betont Oskar Levander, der die Bereiche Innovation und Konzeption bei Rolls-Royce leitet. Der Mensch könne jederzeit die Fernsteuerung übernehmen. Auf einem Bildschirm zeigt er, wie er sich die Kommandobrücke der Zukunft vorstellt: ein Großraumbüro, in dem Menschen vor großen Bildschirmen ihre Schiffe überwachen – und abends nach Hause zu ihrer Familie zurückkehren, statt tagelang auf See unterwegs zu sein.
Bis es so weit ist, gibt es allerdings noch einige Hindernisse zu bewältigen – insbesondere müssen die vernetzten Schiffe ausreichend vor Cyberangriffen geschützt sein und die Erlaubnis bekommen, auf internationalen Gewässern zu fahren. Rolls-Royce will die ersten smarten Schiffe 2020 in Finnland einsetzen.
Bei aller Offenheit für neue Technologien werden allerdings bereits Stimmen laut, die finden, dass Finnland es bisweilen übertreibe mit der KI-Euphorie. Das KI-Start-up Vainu in Helsinki nutzt neuerdings Gefängnisinsassen für die ermüdende Aufgabe, ihre selbstlernenden Algorithmen zu trainieren – etwa, indem, sie dem System beibringen, wann sich in einem Text das Wort „apple“ auf eine Frucht oder auf die gleichnamige Firma bezieht. Vainu und die Gefängnisbehörde preisen die Aktion als Ausbildungs- und Rehabilitationsmaßnahme. Andere sehen sie als Ausbeutung billiger Arbeitskräfte für stupide Tätigkeiten.
„Sind Computer schlau?“, fragen Juha Paananen und sein Kollege Ian Tuomi die Kinder zu Beginn des Coding-Unterrichts. „Ja!“, rufen die Kinder. Dann spielt Ian einen Roboter und bewegt sich nach links und rechts, so wie die Kinder es ihm befehlen. Die Botschaft: Computer tun nur dann schlaue Dinge, wenn wir es ihnen sagen. Und wir Menschen müssen uns deshalb genau überlegen, was wir ihnen beibringen – und wie.
Der Text ist in der aktuellen Ausgabe des neues Magazins „ada“ der Handelsblatt Media Group erschienen.
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