Bilanzfälschung Druck im Wirecard-Skandal wächst: EY wappnet sich für Klagewelle

Das Unternehmen mit 270.000 Mitarbeitern in 150 Ländern zählt zu den sogenannten Big Four seiner Branche.
Düsseldorf Ein Weltverbesserer sei sein Unternehmen, das ist Hubert Barth wichtig. „Mit unserem umfassenden Wissen und der Qualität unserer Dienstleistungen stärken wir weltweit das Vertrauen in die Kapitalmärkte und Volkswirtschaften“, erklärt der Deutschlandchef von EY auf der Webseite der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft. „Bei EY setzen wir alles daran, dass die Welt besser funktioniert.“
Je höher der Anspruch, desto härter der Absturz. Nach dem Wirecard-Skandal rollt jetzt nach Informationen des Handelsblatts eine Welle an Schadensersatzklagen auf EY, den Prüfer des Finanzdienstleisters, zu – und auch strafrechtliche Ermittlungen drohen.
Ernst & Young, das seit 2013 unter dem Namen EY firmiert, kann seine Geschichte bis ins Jahr 1849 zurückverfolgen. Das Unternehmen mit 270.000 Mitarbeitern in 150 Ländern zählt zu den sogenannten Big Four seiner Branche. Gemeinsam mit Deloitte, KPMG und PwC dominiert es den Markt für Wirtschaftsprüfung. Nun wird EY eine Dekade der Inkompetenz vorgeworfen.
Wirecard ist pleite. Ein Bankenkonsortium wird einen 1,75 Milliarden Euro schweren Kredit für den Münchener Zahlungsdienstleister weitgehend abschreiben. Aktionäre haben bereits mehr als 23 Milliarden Euro verloren, so viel war der Konzern einmal an der Börse wert.
Angebliche Guthaben des Unternehmens auf den Philippinen existieren nicht, Umsätze mit Partnerunternehmen im Nahen Osten und Asien waren ausgedacht. EY erteilte den Fantasieberichten der Wirecard-Führung zehn Jahre lang uneingeschränkte Testate.
Jetzt stehen gewaltige Schadensersatzklagen an. Adressaten dafür sind zwar zunächst Wirecard und seine Führungskräfte. Doch Wirecard ist insolvent und die verantwortlichen Vorstände und Aufsichtsräte entweder nicht greifbar oder nicht vermögend genug, um die Ansprüche zu befriedigen. Immer stärker rücken die finanziell gut ausgestatteten Prüfer von EY ins Visier der Kläger.
Juristen wie Andreas Tilp haben schon Zehntausende von Anlegern eingesammelt, um angestrebten Masseklagen die nötige Wucht zu geben. „EY gehört zu den zentral Verantwortlichen bei Wirecard“, sagt der Anwalt, dessen Tübinger Kanzlei mit großen Verfahren Erfahrung hat.
Tilp streitet im Dieselskandal für Aktionäre gegen Volkswagen, auch im Telekom-Verfahren vertritt er die Musterklage. Wo Schuld ist, davon ist Tilp überzeugt, sind auch Schadensersatzansprüche. Bei EY glaubt er an den Erfolg.
Institutionelle Investoren bereiten Klagen vor
Tilp ist bei Weitem nicht der einzige Anwalt, der EY zur Kasse bitten will. Im Internet stehen allerorts Anzeigen von Kanzleien, die um die Mandate von Geschädigten werben. „Sofortprüfung“, „Erstberatung kostenlos“, „Wir prüfen Ihre Ansprüche“ lauten die Werbetexte. Auch die auf große institutionelle Anleger spezialisierte US-Kanzlei Quinn Emanuel ist im Spiel.
„Es wurden eklatante Fehler gemacht, die Testate hätten nie erteilt werden dürfen“, sagt Nadine Herrmann, Partnerin im Hamburger Büro der Kanzlei. Auch sie hat keinen Zweifel, dass EY als Wirtschaftsprüfer nicht nur schuldhaft gehandelt hat, sondern auch schadensersatzpflichtig ist. „Wer als Wirtschaftsprüfer Bankguthaben bestätigt, ohne sich Kontoauszüge vorlegen zu lassen, verletzt bewusst das absolute Mindestmaß an Sorgfalt.“ In der Sprache des Bürgerlichen Gesetzbuches sei das eine „vorsätzliche sittenwidrige Schädigung.“

Der Anwalt will EY zur Kasse bitten.
Würde dies EY tatsächlich nachgewiesen, wären Schadensersatzklagen ein Selbstläufer. So wie im Bilanzskandal Flowtex. Damals musste KPMG geschädigten Banken 100 Millionen Deutsche Mark Schadensersatz zahlen. Im Fall Wirecard könnte es teurer werden. Drohende Zahlungen in Milliardenhöhe wären für die deutsche EY-Gesellschaft existenzgefährdend. EY wollte sich gegenüber dem Handelsblatt nicht zu den Klagen und zur Prüfung von Wirecard äußern. Die Klägeranwälte sammeln derweil Belege für mögliche Fehler von EY und holen auch Einschätzungen anderer Wirtschaftsprüfer ein, heißt es in der Branche.
Allein die Sonderprüfung von KPMG lässt Zweifel an der Arbeit von EY aufkommen: Als die Geschäftspraktiken von Wirecard im Herbst 2019 immer stärker in die öffentliche Kritik gerieten, setzte sich Wirecard-Investor Softbank für diese Sonderprüfung ein. KPMG zeichnete Ende April ein verheerendes Bild vom internen Rechnungswesen und Kontrollsystem bei Wirecard, auf die es in früheren Prüfungsberichten von EY keine derartigen Hinweise gab.
Entscheidend für den Klageerfolg wird die Bewertung sein, ob EY die Existenz der Beträge auf Treuhandkonten auf den Philippinen ausreichend geprüft hat. Kontoüberprüfungen gelten als das kleine Einmaleins des Prüfungswesens. Tatsächlich aber lassen die Prüfungsnormen Spielraum für Interpretationen: Spezielle Normen zu Treuhandkonten gibt es nicht, über die Anwendung der bestehenden Standards in diesem Fall streitet die Wissenschaft. „Ein vorsätzliches Fehlverhalten wird EY nicht einfach nachzuweisen sein“, heißt es in Branchenkreisen.
Experten erwarten eine langwierige juristische Schlacht
Schon jetzt ist daher absehbar, dass es vor Gericht zu einer Schlacht mit Gutachten von beiden Seiten kommen würde. EY verschanzt sich in einer der wenigen öffentlichen Erklärungen hinter dem Betrugsvorwurf. Bei Wirecard seien daran „mehrere Parteien rund um die Welt und in verschiedenen Institutionen mit gezielter Täuschungsabsicht beteiligt“ gewesen.
Die Erklärung zielt ins Herz der Branche: War die Wirecard-Führung zu gut beim Betrug? Oder war EY zu schlecht beim Prüfen? „Wirecard fesselt uns alle“, sagt ein Angestellter einer anderen Big-Four-Gesellschaft. Der Fall wecke ungute Erinnerungen an das, was vor 18 Jahren der Prüfgesellschaft des US-Konzerns Enron passierte: Arthur Andersen.
Die Gesellschaft zählte zu den größten der Branche, damals noch Big Five genannt. Auch damals rollten gewaltige Schadensersatzklagen gegen die Wirtschaftsprüfer, die Enrons dreist manipulierte Bilanzen testiert hatten. Arthur Andersen zerbrach – und deren deutsche Einheit wurde 2002 ausgerechnet von EY übernommen.
Seither, so sagt der Insider, hätten sich alle Prüfgesellschaften rechtlich so aufgestellt, dass ein Schadensersatzverfahren gegen eine einzelne Landesgesellschaft nicht das ganze Unternehmen umwirft. Freilich – auch der Wegfall des Deutschlandgeschäfts würde EY schwer treffen. Ab dem Jahr 2020 wird EY jedes vierte Dax-Unternehmen prüfen, 2019 setzte die Gesellschaft hierzulande 2,1 Milliarden Euro um.
Die Prüfungsgesellschaft hat zuletzt im Zuge der verpflichtenden Rotation mehrere renommierte Mandate eingesammelt: Allein in diesem Jahr kommt die Abschlussprüfung von Volkswagen, Deutscher Bank, Lufthansa und Munich Re hinzu. EY gilt als erfolgreicher Angreifer unter den „Big Four“ in Deutschlands oberster Börsenliga.
Diskussion um das Haftungsprivileg
Ist all das wegen Wirecard und der Klagewelle in Gefahr? Nein, sagt EY und verweist auf das sogenannte Haftungsprivileg. Das deutsche Handelsrecht sieht vor, dass Abschlussprüfer bei der Arbeit für börsennotierte Aktiengesellschaften maximal mit vier Millionen Euro pro Prüfung haften müssen.
Das wäre zu verschmerzen – mag aber nicht reichen. Das Haftungsprivileg greift nur bei fahrlässigen Fehlern. Sollte gerichtlich geklärt werden, dass EY vorsätzlich zehn Jahre lang falsche Bilanzen testierte, gibt es kein Limit. Und überhaupt, sagt Nadine Herrmann von der klagebereiten Kanzlei Quinn Emanuel, gelte das Haftungsprivileg nur im Verhältnis zwischen Prüfer und der Wirecard AG. „Für die Verantwortung von EY gegenüber geschädigten Investoren spielt es keine Rolle.“
Branchenexperten sind sich einig: Wenn Fehler gemacht wurden, wird das Konsequenzen haben. „An einer sorgfältigen, sachgerechten Prüfung durch EY muss man im Fall Wirecard deutlich zweifeln", sagt Hansrudi Lenz, Professor für Wirtschaftsprüfung an der Uni Würzburg. Dies gelte laut Lenz umso mehr, nachdem etwa im März 2019 in einem Artikel der „Financial Times" schwerwiegende Vorwürfe über Unregelmäßigkeiten bei der Darstellung der über Drittpartner in Asien abgewickelten Umsätze im Konzernabschluss erhoben wurden.
„Das hätte intensive und erweiterte Prüfungshandlungen mit Hinzuziehung forensischer Experten auch in diesem besonders wesentlichen Geschäftsfeld erforderlich gemacht. Stattdessen testierte EY im April 2019 noch für das Geschäftsjahr 2018 uneingeschränkt“, rügt Lenz. „Das wird schwer zu erklären sein. Denn die zuvor aufgekommenen Vorwürfe erweisen sich rückblickend als richtig.“
Kai-Uwe Marten, Professor für Rechnungswesen und Wirtschaftsprüfung an der Universität Ulm, sieht ebenfalls Versäumnisse bei EY: „Der Abschlussprüfer hat auch bei der Prüfung von Treuhandkonten eine kritische Grundhaltung zu wahren. Bei Zweifeln an der Verlässlichkeit der Bestätigungsschreiben hat er seine Prüfungshandlungen auszuweiten.“ Beispielsweise könnten Prüfer vor Ort nachforschen oder Probeüberweisungen veranlassen. Im Zweifel müssten die Prüfer das Testat verweigern.
Vor dieser schärfsten Waffe aber schrecken Prüfungsgesellschaften oft zurück. Denn sie müssen Fehlverhalten stichfest beweisen können, andernfalls drohen wiederum Schadensersatzklagen, wenn nach einer Verweigerung des Testats der Aktienkurs des Mandanten abstürzt. Das ist ein Grund, warum es in den öffentlich zugänglichen Bestätigungsvermerken des Prüfers oft zu schwammigen Formulierungen kommt.
Strafrechtlicher Ärger droht
In den Bestätigungsvermerken der früheren Wirecard-Testate schreibt EY, dass es etwa bei der Prüfung von Treuhandkonten und des Geschäfts mit Drittpartnern zu „erweiterten Prüfungshandlungen“ gekommen sei. Aber die ungeklärte Frage bleibt im Raum. Was wussten die Prüfer zu welchem Zeitpunkt über die Machenschaften bei Wirecard?
Einen Hinweis darauf könnten die bisher unveröffentlichten, detaillierten Bestätigungsvermerke geben. Normalerweise bekommen Anleger und Öffentlichkeit diese Details eines Testats nie zu Gesicht, nur Aufsichtsrat und Vorstand kennen sie. Doch nach der Eröffnung des offiziellen Insolvenzverfahrens einer Firma besteht für Aktionäre und Gläubiger die Möglichkeit zur Einsicht.
Die Eröffnung des Insolvenzverfahrens von Wirecard steht noch aus. Der vorläufige Insolvenzverwalter Michael Jaffé hat zwar die Möglichkeit, die Herausgabe der detaillierten Prüfungsberichte früherer Jahre zu verweigern. Dazu müsste er aber zwingend überzeugende Gründe anführen, heißt es in Branchenkreisen.
Es sind nicht nur Schadensersatzforderungen, die EY drohen. Die laufenden Ermittlungen könnten in Prozesse münden. Am Ende sind sowohl Freiheitsstrafen gegen Einzelpersonen wie Rechnungen seitens des Staates möglich. „Es kann gut sein, dass sich Prüfer wegen Beihilfe verantworten müssen“, sagt ein Strafverteidiger. „Womöglich haben sie es unterlassen, dem mutmaßlichen Betrug und den Bilanzfälschungen auf den Grund zu gehen.“
EY könnte außerdem bei einem Strafprozess als Einziehungsbeteiligte hinzugezogen werden. In diesem Fall wäre es möglich, dass das Unternehmen ein Bußgeld zahlen muss, auch würden vielleicht Honorare eingezogen, die EY mit dem Mandat Wirecard verdiente.
EY wappnet sich bereits für den Fall der Fälle. Nach Informationen des Handelsblatts kümmert sich ein Team in mittlerer zweistelliger Größenordnung um die Aufarbeitung des Mandats. Neben internen Experten hat sich die Gesellschaft dabei auch Hilfe von externen Experten geholt.
Demnach steht die Mainzer Kanzlei Knierim & Kollegen EY zur Seite. Die Anwälte der Sozietät sind auf interne Untersuchungen, Compliance-Themen und Strafrecht spezialisiert. Vor allem Namensgeber Thomas Knierim bringt viel Erfahrung in berufsrechtlichen Fragen von Wirtschaftsprüfern mit. Auch deshalb zählt die Kanzlei zu den gefragtesten Adressen aufseiten von Berufsträgern, die wegen möglicher fehlerhafter Prüfungen in Problemen stecken.
Ein ansonsten von EY oft gewählter Ansprechpartner fällt diesmal aus: Der Wiesbadener Strafrechtler Alfred Dierlamm verteidigt bereits Markus Braun, den ehemaligen Vorstandschef von Wirecard, der derzeit in Untersuchungshaft sitzt. Mit der gleichzeitigen Verteidigung des beschuldigten Vorstands und seiner Prüfer könnte Dierlamm zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen – anwaltsrechtlich ist so eine Kombination aber unzulässig.
Sein Kontakt zu EY wird trotzdem nicht abbrechen. Dierlamm vertritt die Interessen der Wirtschaftsprüfer schon im Steuerskandal Cum-Ex. EY beriet die Frankfurter Maple Bank bei Deals, die von der Steuerfahndung als Steuerhinterziehung gewertet wurden. Nun ist die Maple Bank pleite und ihr Insolvenzverwalter fordert Schadensersatz von EY.
Mehr: Wie der Betrug bei Wirecard vor 15 Jahren begonnen haben soll.
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