Ölförderung Wie Shell für Umweltschäden am Niger-Delta zur Verantwortung gezogen wird

Schon seit Jahrzehnten fordert die Bevölkerung in Nigeria Entschädigung für die Umweltfolgen der Ölförderung.
Kapstadt Von der Luft aus sehen die Creeks, die unzähligen Wasserläufe im Nigerdelta, aus wie ein gigantischer Schnittmusterbogen. Mal kreuzen und überschneiden sie sich, dann wieder laufen sie nebeneinander her und verschwinden schließlich irgendwo am Horizont.
Die Mündung von Afrikas drittgrößtem Fluss ist nicht nur ein hochkomplexes Ökosystem von der Größe der Schweiz, sondern auch eine der reichsten Schatzkammern Afrikas: Mehr als 25 Milliarden Barrel Öl lagern unter ihrem Boden – und haben dort für viele Begehrlichkeiten und jede Menge Streit gesorgt.
Immer wieder gelangt Rohöl aus Lecks, von denen es pro Jahr Hunderte gibt, aus den kilometerlangen Pipelines direkt ins Wasser. Der klebrige Film überzieht Blätter und Wurzeln der Mangrovensümpfe und zerstört den empfindlichen Lebensraum.
Seit Jahrzehnten wird juristisch darüber gestritten, wer für die enormen Umweltschäden verantwortlich ist, die mit der 1958 von Shell begonnenen Ölförderung im Delta einhergehen – der nigerianische Staat, der internationale Ölkonzern oder die Einheimischen selbst. Zwei Gerichtsurteile zu Jahresbeginn haben nun vor allem den britisch-niederländischen Ölkonzern Shell in die Verantwortung genommen.
Zunächst hatte ein niederländisches Berufungsgericht Ende Januar entschieden, dass Shell, beziehungsweise dessen Tochterunternehmen in Nigeria, für zwei größere Öl-Lecks im Delta in den Jahren 2004 und 2005 verantwortlich ist und nun mehrere Kleinbauern mit einer noch nicht festgelegten Summe entschädigen muss. Der Konzern habe eine „Sorgfaltspflicht“ gehabt und hätte alte Ölleitungen mit Sensoren ausstatten müssen, so die Richter.
Von Bedeutung ist das Urteil vor allem deshalb, weil es weitreichende Folgen für andere Kläger haben könnte, die nun weitere Fälle in ausländischen Jurisdiktionen einreichen könnten, wie etwa nun am Hauptsitz von Shell in Den Haag geschehen.
Mitte Februar hatte auch das oberste Gericht in Großbritannien über 42.000 Mitgliedern zweier Volksgruppen im Nigerdelta das Recht zugesprochen, in England Schadensersatzklage gegen Shell und dessen Nigeria-Tochter einzureichen.
Shell selbst hat alle Vorwürfe zurückgewiesen und dabei immer wieder auf die Verantwortlichkeit von Saboteuren und Öldieben für die Lecks verwiesen. Daneben hatte das Unternehmen darauf gedrängt, dass der Fall von einem nigerianischen Gericht entschieden werden sollte, da der angegebene Schaden in Westafrika entstanden sei.
Beide Urteile dürften von der Unternehmenswelt schon deshalb mit Argusaugen beobachtet werden, weil sie möglicherweise den Weg für weitere Umweltklagen gegen international tätige Konzerne und deren Aktivitäten und Töchter im Ausland ebnen.
Für die Londoner Anwaltskanzlei Leigh Day, die die nigerianischen Volksgruppen vor Gericht vertreten hat, markiert das Urteil einen Wendepunkt bei der Verantwortlichkeit multinationaler Unternehmen: „Zunehmend verarmte Gemeinden versuchen, mächtige Unternehmensakteure zur Rechenschaft zu ziehen, und dieses Urteil wird ihre Fähigkeit dazu erheblich verbessern“, ist Daniel Leader, Partner bei Leigh Day, überzeugt. Die Kläger waren in Den Haag mit der Begründung vor Gericht gezogen, dass nigerianische Gerichte schlicht zu korrupt seien.
Obwohl Shell offiziell in den Niederlanden ansässig ist, hat es größere Unternehmensteile in Großbritannien und definiert sich selbst als britisch-niederländischer Konzern.
Dies könnte dazu führen, dass künftig mehr Unternehmen dort angeklagt werden, wo sie ihren jeweiligen Hauptsitz haben – und nicht etwa dort, wo die Umweltzerstörung angeblich stattgefunden hat. Für ausländische Firmen steigt damit die Angst vor Klagen in Europa, wo die Entschädigungssummen deutlich höher ausfallen dürften. Allerdings kann Shell noch immer gegen eine Reihe von Punkten des Verfahrens Widerspruch einlegen.
Nigerias Abhängigkeit vom Öl
Nigeria ist Afrikas größter Ölproduzent und fördert gegenwärtig noch rund 1,8 Millionen Barrel am Tag. Die Ölbranche ist dort für mehr als die Hälfte aller Staatseinkünfte und fast alle ausländischen Deviseneinnahmen verantwortlich. Viele internationale Konzerne fördern ihr Öl inzwischen jedoch aus Sicherheitsgründen nur noch vor der Küste des westafrikanischen Landes und haben ihre Ölrechte auf dem Festland an einheimische Unternehmen verkauft.
Ein Blick in die Gerichtsakten der vergangenen 20 Jahre zeigt, dass offenbar keiner der Akteure im Nigerdelta schuldlos ist. Der oft nur an den Einnahmen aus dem Ölgeschäft interessierte nigerianische Staat, die Konzerne, aber auch militante Einheimische sind in der Region in einen Dauerkonflikt verwickelt, der die Ölförderung zu einem unberechenbaren Umwelt- und Sicherheitsrisiko macht.
Manchmal ist technisches Versagen der Konzerne Grund für die Lecks, manchmal legen Milizen Sprengstoff an die Pipelines. Die Kette der gegenseitigen Schuldzuweisungen ist entsprechend lang.

Seit Jahren herrscht Streit über die Frage, wer für die Umweltschäden in Nigeria verantwortlich ist.
Allerdings sind die von Shell geltend gemachten Sabotageakte in der Tat keine Seltenheit und nachgewiesen: Schon öfter wurde darüber berichtet, dass viele junge Männer, die von den Erlösen durch die Ölförderung ausgeschlossen bleiben, mit Anschlägen Lösegeld erpressen oder damit auf die gravierenden Missstände im Delta hinweisen wollten. Es ist ein explosives Gemisch aus Frust und Zorn, aus Zynismus und Gier, der das Nigerdelta nahezu unregierbar macht.
Die internationale Öffentlichkeit hat die Vorkommnisse in der Region bislang allenfalls am Rande wahrgenommen. Nur einmal gab es weltweit eine Welle des Protests: Im November 1995 ließ der nigerianische Diktator Sani Abacha den Bürgerrechtler Ken Saro Wiwa und acht seiner Mitstreiter brutal hinrichten.
Sie hatten Massenproteste gegen Shell und die von ihnen angeprangerte Ausbeutung ihrer Heimat organisiert. Bis heute klagen vier Witwen von damals Hingerichteten gegen das Unternehmen, dem sie eine Beteiligung an den Hinrichtungen vorwerfen – ein Vorwurf, den Shell bis heute vehement zurückweist.
Shell hat sein Schweigen gebrochen
Auch gibt es verschiedene illegale Praktiken im Ölgeschäft, wie das weit verbreitete Bunkering, die zur Umweltzerstörung beitragen. Beim Bunkering handelt es sich um das illegale Anzapfen der durch das Delta laufenden Pipelines.
Gegenwärtig verlieren die in Nigeria ansässigen Konzerne durch diese Praxis nach eigenen Angaben mehrere Zehntausend Barrel Erdöl pro Tag. Laut der im März veröffentlichten Bilanz von Shell ist die Anzahl der durch Sabotage oder Diebstahl verursachten Öllecks in Nigeria im Jahr 2019 um 41 Prozent gestiegen.
Shell wies außerdem darauf hin, dass sich die Proteste oft gar nicht gegen die Ölgesellschaften selbst, sondern gegen eine Regierung richten, die es in den letzten 50 Jahren eklatant versäumt habe, die ölreiche Region weiterzuentwickeln.
Das Unternehmen hat als Reaktion darauf bereits vor Jahren sein Schweigen gebrochen und konkrete Zahlen veröffentlicht – etwa dazu, wie viel Geld für Steuern und Lizenzgebühren an Nigeria entrichtet werden. Aber auch wie hoch der Anteil der Regierung am jeweiligen Barrelpreis ist. Zeitgleich hatte Shell jedoch auch 83 Millionen Dollar Entschädigung für die Umweltfolgen zweier Öllecks an das nigerianische Bodo-Volk gezahlt.
Am Ende müssen die Richter vor allem die umstrittene Frage klären, inwieweit ein Konzern für Schäden verantwortlich gemacht werden kann, die auch aus der Korruption des nigerianischen Staates herrühren. Wegen der permanenten Unruhe im Delta hat Nigeria seine Förderkapazität von rund 2,6 Millionen Barrel pro Tag vor zehn Jahren auf nun 1,8 Millionen Barrel gesenkt.
Ursprünglich wollte das Land längst mehr als vier Millionen am Tag produzieren. Doch dieses Ziel ist durch den zunehmenden Zerfall des Landes und den schrittweisen Rückzug einiger Ölkonzerne erst einmal in weite Ferne gerückt. Und auch Shells Zukunft in Nigeria könnte wackeln. CEO Ben van Beurden kündigte nach dem jüngsten Urteil zumindest an, dass man sich seine Onshore-Ölprojekte nun noch einmal „ganz genau anschauen werde“.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.