Einzelhandel Digitaler Kampf ums Überleben

Was nicht im Laden steht, wird umgehend geliefert. Online und Offline wachsen zusammen.
Düsseldorf, München Vom Berliner Alexanderplatz bis in die Alpen sind es mehr als acht Stunden Autofahrt. Trotzdem wähnen sich die Kunden des neuen Intersport-Geschäfts im Einkaufszentrum Alexa in den Bergen – zumindest wenn sie sich die Virtual-Reality-Brille aufsetzen. Mitten im Laden dürfen die Kunden mit der Computerbrille in einem Sessellift auf den Gipfel gleiten, im Kajak durchs Wildwasser steuern oder am Lagerfeuer grillen.
Es sind Angebote wie dieses, mit denen Intersport-Chef Kim Roether die Kunden begeistern und Deutschlands größte Sporthandelskette fit für die Zukunft machen will. Der Manager weiß genau: Es reicht längst nicht mehr, einfach Turnschuhe und T-Shirts in den Regalen zu präsentieren. Darum hat Roether jetzt in Berlin mehrere Zukunftsläden eröffnet. Mit Hightech im Laden und Computerpower im Hintergrund sollen sie als Vorbild für die mehr als 1000 Läden der Genossenschaft in ganz Deutschland dienen.
Die Technikoffensive ist dringend nötig. Wie die meisten Geschäfte in Deutschland kämpft auch der Sporthandel mit dramatisch sinkenden Kundenzahlen. Wer da nicht neue Wege geht, um die Menschen wieder ins Geschäft zu locken, wird nicht überleben. Der Handelsverband Deutschland HDE erwartet, dass bis zum Jahr 2020 rund 50.000 Läden in Deutschland schließen könnten.
„Wir werden in den kommenden zehn Jahren eine Veränderung im Handel erleben, die größer ist als in den vergangenen 40 Jahren“, sagt Moritz Hagenmüller, Handelsexperte von der Unternehmensberatung Accenture Strategy. „Die Digitalisierung zieht sich durch alle Bereiche der Unternehmen und verändert die Geschäftsmodelle grundsätzlich.“
Das Potenzial ist riesig. Rund drei Billionen an zusätzlichen Werten könne die digitale Transformation bei Einzelhändlern und Konsumgüterherstellern schaffen, hat Accenture in einer Studie zur Zukunft des Handels berechnet. Die größten Potenziale sieht die Untersuchung im Auftrag des World Economic Forum in Trends wie Digitalisierung, Automatisierung des Einkaufs und neuen Dienstleistungen rund ums Shopping.
Dabei geht es nicht nur um technische Spielereien, sondern um den Überlebenskampf des klassischen Einzelhandels im Wettbewerb mit den Amazons und Zalandos dieser Welt. Viele Händler haben die Gefahr erkannt und versuchen jetzt, durch die Aufrüstung der Läden Konsumenten zurückzugewinnen.
Was dabei heute schon möglich ist, zeigt der „Experience Store exp37“ in Düsseldorf. Bereits auf der Straße buhlt das Geschäft um die Aufmerksamkeit der Passanten. Ein Druck auf den großen Knopf in der Schaufensterscheibe genügt, schon bewegt sich das Kleiderkarussell im Schaufenster. Das T-Shirt, das bisher im Hintergrund hing, schiebt sich nach vorne in das Blickfeld des Kunden. Auf dem riesigen Bildschirm daneben können Passanten mit Gesten gesteuert Schuhe oder Jacken aufrufen, die Produkte von allen Seiten betrachten, Infos abrufen, Farben wechseln. Und das Beste: Wer will, kann sie gleich per Knopfdruck kaufen. Und das alles auch außerhalb der Öffnungszeiten.
Im Laden selber präsentieren die Branchenberatung Tailorit und die Kommunikationsagentur Mavis, wie die Zukunft des Shoppings aussehen könnte. Per Computerbrille wechselt der Schuh, den man in der Hand hält, die Farbe. Düfte regen gezielt die Kaufbereitschaft an. Ein elektronisches Tablett erkennt Produkte, die man darauflegt, per Funkchip und liefert automatisch alle wichtigen Infos dazu. Höhepunkt ist ein mit künstlicher Intelligenz ausgerüsteter Roboter, der mit gezielten Fragen die Vorlieben der Kundin ermittelt und ihr dann Vorschläge für ihr Outfit macht.
Zu viele Herausforderungen zugleich
Doch noch zögern viele Händler, diese Technik einzusetzen. Die schwierige wirtschaftliche Situation lenke sie häufig davon ab, nach neuen Wegen für die Zukunft zu suchen, sagt Experte Hagenmüller. Denn die Einzelhändler müssen mehrere Probleme gleichzeitig lösen: Sie sollen den Frequenzverlust in den Innenstädten durch Kundenveranstaltungen und neue Dienstleistungen stoppen, ihr Online- und Offlinegeschäft besser miteinander verzahnen und noch gezielter die richtigen Produkte zur richtigen Zeit anbieten.
Wie das aussehen kann, zeigt das Modelabel Rebecca Minkoff in seinen Flagship-Stores. Intelligente Glaswände in den Umkleidekabinen erkennen über Funkchips automatisch, welche Teile die Kundin ausgewählt hat, machen Vorschläge zu passenden Accessoires und informieren, ob das Kleidungsstück noch in anderen Farben oder Größen verfügbar ist. Über die Glaswand kann die Kundin auch einen Verkäufer zur Unterstützung rufen – oder ein kostenloses Glas Sekt ordern.
Die Kundinnen sind offenbar begeistert. Sie verbringen dadurch nicht nur viel mehr Zeit in den Läden, sie kaufen auch mehr. Nach Angaben von Vorstandschef Uri Minkoff hat sich nach Einführung der neuen Umkleidekabinen der Umsatz gegenüber der Planung verdreifacht.

„Wir wollen unsere bestehenden Kunden nicht verschrecken, aber wir müssen die Jungen wieder anziehen.“
Das Wichtigste für den Händler aber ist: Er bekommt massenweise Daten über die Kundenwünsche. So kann er beispielsweise sehen, welche Teile regelmäßig mit in die Umkleidekabinen genommen wurden, aber nie gekauft werden, wo es Probleme mit den Passformen gab, welche Farben oft gesucht werden. Danach kann er dann gezielt das Sortiment steuern.
Denn das ist der Kern des Handels der Zukunft: die Kunden perfekt zu kennen, also möglichst viele Daten über sie zu sammeln und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Die großen Onlinehändler machen es längst vor. „Zalando kennt seine Kunden sehr gut und nimmt deshalb pro Woche etwa 3000 Änderungen an seinem Webshop vor“, weiß Thomas Etz, geschäftsführender Gesellschafter der Kommunikationsagentur Mavis, die den digitalen Musterladen „exp37“ mit entwickelt hat. „Die stationären Händler müssen eine ähnliche Informationsgüte erreichen wie der Onlinehandel“, fordert Etz.
Viele Händler versuchen vor allem über Kundenkarten, ob als traditionelle Plastikkarte oder als App, möglichst viele Informationen zu sammeln. Diese Strategie verfolgen auch die Textilhändler von Breuninger in Stuttgart und P&C in Düsseldorf bis zu mittelständischen Textilketten wie Orsay im baden-württembergischen Willstätt. „Über 70 Prozent unserer Kunden besitzen eine Kundenkarte“, sieht sich Orsay-Chef Matthias Klein bereits gut aufgestellt.
Aber erst einmal müssen die Händler die Kunden in ihre stationären Läden locken, wollen sie bei der sinkenden Frequenz in den Innenstädten langfristig überleben. So mühen sich moderne Einzelhändler, die Kunden über sogenannte Beacons direkt anzusprechen und in den Laden zu locken. Beacons sind digitale Sender, die den potenziellen Käufern über eine App Angebote aufs Handy schicken, die für sie interessant sein könnten – und zwar in dem Moment, wenn sie am Laden vorbeigehen. Einer der Vorreiter ist die französische Supermarktkette Carrefour. Sie hat in 28 Märkten bereits Hunderte dieser Beacons installiert. Mit messbarem Erfolg: Die Nutzung der Carrefour-App hat seitdem um 600 Prozent zugelegt.
Die Kunden in Deutschland zögern
Das Problem: Noch sind viele deutsche Kunden nicht bereit, bei Einkäufen ihre Daten den Einzelhändlern zur Verfügung zu stellen. Laut der noch nicht veröffentlichten Accenture-Studie würden nur 26 Prozent der deutschen Verbraucher persönliche Daten preisgeben und auch nur dann, wenn sie der Einzelhändler besser und individueller bedient – oder sie finanziell davon profitieren. Im weltweiten Durchschnitt liegt dieser Anteil immerhin schon bei 36 Prozent.
Auch bei anderen neuen Services zögern die Deutschen. Während weltweit schon 28 Prozent der Befragten digitale Sensoren wie Beacons gut finden, sind es hierzulande gerade mal zwölf Prozent. Für Abo-Systeme, die für automatischen Nachschub bei regelmäßig genutzten Dingen sorgen, können sich gerade mal elf Prozent begeistern.
Um mehr Kunden von den Vorteilen der Technikoffensive zu überzeugen, muss sich die Rolle des klassischen Geschäfts radikal ändern. „Es wird kleiner und stärker auf das Erleben der Produkte ausgelegt“, erwartet Accenture-Berater Hagenmüller. „Das ist die wichtigste Domäne des stationären Handels.“ Es ist ein Spagat. „Wir wollen unsere bestehenden Kunden nicht verschrecken“, warnt Intersport-Chef Roether. „Aber wir müssen die Jungen wieder anziehen.“
Wer bei Intersport einen neuen Laufschuh sucht, der lässt in den hochmodernen Geschäften erst einmal seine Füße vermessen. Daraufhin bekommt er Vorschläge für die passenden Modelle. Sind die nicht vorrätig, können die Verkäufer die Schuhe direkt im Internet ordern – und der Konsument bekommt sie auf Wunsch nach Hause geschickt.
Auch in den Testläden von Intershop hängen vor den Umkleidekabinen digitale Spiegel. Darauf lässt sich das ganze Sortiment der Gruppe abrufen. Wer also merkt, dass er zur falschen Größe gegriffen hat, muss sich nicht wieder anziehen. Ein Knopfdruck reicht, und ein Verkäufer eilt mit der passenden Ware heran. Die Kunden können auch direkt am Spiegel bestellen und sich die Ware nach Hause liefern lassen. So ist es im ganzen Laden: Ist das Wunschmodell nicht da, wird im Onlineshop der Gruppe bestellt. „In dem Moment, in dem der Kunde ins Geschäft kommt, müssen wir sicherstellen, dass er nicht ohne Einkauf rausgeht“, hat Roether als Devise ausgegeben. Daher ist das gesamte Verkaufspersonal mit Tablets ausgestattet.
Als Genossenschaft ist Intersport nicht gerade die Speerspitze der technischen Entwicklung. Doch Roether ist überzeugt: „Wir sind noch nicht zu spät dran.“ Tatsächlich verkauft niemand so viel Sportequipment hierzulande wie Intersport. In Deutschland und Österreich kommt der Zusammenschluss 1.000 unabhängiger Händler auf 1.500 Verkaufsstellen und 2,9 Milliarden Euro Umsatz. Aber der Druck steigt: „Wir müssen uns sehr viel mehr einfallen lassen als vor zehn Jahren“, bestätigt Sascha Dühring, Intersport-Händler in Berlin.
Vieles, was heute noch wie eine Spielwiese für verrückte Start-ups klingt, wird in wenigen Jahren in vielen Läden selbstverständlich sein. So geht die Zukunftsstudie von Accenture davon aus, dass Roboter, künstliche Intelligenz, ein komplett vernetzter Warenbestand und auch virtuelle Realität schon in fünf Jahren im Handel im ganz normalen Einsatz sein dürften. Ein virtueller Kurztrip vom Berliner Alexanderplatz in die Alpen ist dann Alltag – zumindest in den Geschäften, die überlebt haben.
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