Von Wanderschuhen bis Radtaschen: Produktion in Europa hilft im Corona-Chaos
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FamilienunternehmenVon Wanderschuhen bis Radtaschen: Produktion in der Heimat hilft im Corona-Chaos
In der Pandemie zahlt es sich aus, nah am Kunden zu produzieren. Der Verzicht auf Fertigung in Asien hat allerdings einen Nachteil: Personal ist knapp.
Der ADAC kooperiert mit dem Telemedizinanbieter Medgate, um Reisenden Videosprechstunden anzubieten.
(Foto: Hanwag)
München Das Wandern ist der Deutschen Lust: In der Pandemie zieht es die Leute in die Natur wie schon lange nicht mehr. Für Hanwag-Chef Thomas Gröger ist das ein Segen. Das Geschäft des traditionsreichen bayerischen Wanderschuh-Herstellers läuft glänzend. Mehr noch: Gröger erobert Marktanteile, weil er verlässlich liefern kann.
Das hat seinen Grund: Hanwag produziert am Stammsitz nördlich von München sowie in Kroatien und Ungarn – und damit nah an den Kunden. Ganz im Gegensatz zu vielen internationalen Sportmarken, die ihre Ware aus Asien beziehen und seit Monaten mit massiven Nachschub-Problemen zu kämpfen haben.
Hanwag ist nicht die einzige einheimische, mittelständische Marke, die sich in diesen Tagen darin bestätigt sieht, dass sie sich bewusst gegen Asien und für Fabriken in Europa entschieden hat. Auch der Mittelständler Ortlieb fertigt seine Radtaschen samt und sonders in Heilsbronn, einer Gemeinde unweit von Ansbach. Viele der Zulieferer stammen aus dem fränkischen Umland, einer sitzt in der unmittelbaren Nachbarschaft. Rund 500 Artikel hat das Familienunternehmen im Angebot, keine kleine Produktpalette also.
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Trotzdem sei die Ware zu 95 Prozent verfügbar, lobt Sebastian Trapp, Einkaufschef des Aachener Radversands Bike Components und einer der großen Kunden von Ortlieb. „Das ist eine herausragende Zahl in der heutigen Zeit“, meint der Manager. „Dass es keine 100 Prozent sind, dürfte schlicht dem Umstand geschuldet sein, dass das Thema Fahrrad so allgegenwärtig und so populär ist. Die damit einhergehende Nachfrage, die ließ sich kaum vorhersagen.“
Viele andere Anbieter in der Radbranche kommen mit der Lieferung angesichts des Velo-Booms längst nicht mehr hinterher. Der Umsatz der deutschen Fahrradbranche kletterte vergangenes Jahr um 60,9 Prozent auf 6,44 Milliarden Euro. Während die Stückzahl der übrigen Fahrräder bei 3,1 Millionen nahezu stagnierte, erzielten die E-Bikes im Vergleich zu 2019 einen Zuwachs um 43 Prozent.
Ortlieb sieht sich gegenüber Importeuren klar im Vorteil
Nicht immer bekamen die Kunden im vergangenen Jahr ihr Wunschmodell, sagte jüngst Thomas Kunz vom Handelsverband Zweirad. Die Händler hätten ihre Geschäfte im Herbst annähernd leer verkauft. Nachbestellungen sind so gut wie unmöglich. Denn die meisten Räder und das Zubehör stammen aus Fernost. Dort müssen die Firmen momentan anderthalb Jahre im Voraus bestellen.
Das ist noch nicht alles: Der Transport wird immer teurer, egal ob Fahrräder, Sneaker oder T-Shirts. Die Frachtraten seien in den vergangenen Monaten zum Teil um das Zehnfache gestiegen, erläuterte jüngst Puma-Chef Björn Gulden.
Ortlieb sieht sich gegenüber den Importeuren klar im Vorteil. Die Firma habe eine kurze Lieferkette und könne flexibel reagieren, betont Geschäftsführer Martin Esslinger. Ortlieb baut sogar die Maschinen selbst und produziert eigene, wasserdichte Reißverschlüsse.
Fahrradtasche von Ortlieb
Das fränkische Familienunternehmen produziert seine wasserdichten Radtaschen momentan in drei Schichten und auch samstags. Das Geschäft läuft gut wie nie.
(Foto: picture alliance/dpa)
Eine Kombination, die sich offenbar auszahlt: Vergangenes Jahr sei der Umsatz um einen zweistelligen Prozentsatz gewachsen, behauptet Esslinger. Detaillierte Zahlen zum Geschäft nennt das Unternehmen nicht. Bekannt ist aber, dass die Firma mehr als eine Million Artikel pro Jahr herstellt. Die Erlöse dürften sich damit auf einen mittleren zweistelligen Millionenbetrag summieren.
Nur eine gute Autostunde südlich von Ortlieb, in der Nähe von Dachau, sitzt Hanwag. Marken-Chef Gröger hat turbulente Monate hinter sich. Als die Pandemie vergangenes Frühjahr die westliche Welt lahmlegte, musste er seine Leute erst einmal in Kurzarbeit schicken; denn die Sporthändler stornierten massenhaft ihre Bestellungen.
Erst Kurzarbeit, dann Überstunden bei Hanwag
Seit Sommer indes überschlagen sich die Kaufleute mit Orders für die Bergstiefel – und seither kommt der Manager kaum hinterher mit der Produktion. „Wandern als individuelle Natursportaktivität wird durch die Pandemie beflügelt“, sagt die Geschäftsführerin des Deutschen Wanderverbands, Ute Dicks.
Mit seinen Werken in Bayern, Ungarn und Kroatien kann Gröger die Schuhhändler viel schneller beliefern als internationale Konkurrenten, die in Fernost fertigen. Manche Wettbewerber seien regelrecht verzweifelt, so Gröger: „Wir haben jede Menge Anfragen bekommen, ob wir für andere produzieren können.“
Händler bevorzugen daher Hanwag gegenüber internationalen Rivalen. „Sie sind deutlich näher an ihrem Markt und können tatsächlich besser und flexibler liefern“, sagt Jürgen Krause, Head of Merchandising des Internet-Versands Bergfreunde.
Das bestätigt auch Martin Kerner vom Outdoor-Shop Basislager in Karlsruhe: „Die bekommen das schon besser hin als alle, die darauf angewiesen sind, dass die Produktion aus Fernost pünktlich kommt.“ Die bayerischen Hanwag-Konkurrenten Meindl und Lowa seien ebenfalls verlässlicher als viele globale Labels, ergänzt Kerner.
Sogar Global Player nehmen sich schon ein Beispiel an den deutschen Familienunternehmen: Die US-Fahrradmarke Trek etwa gehört auch zu jenen Firmen, die ihre Ware vornehmlich aus Fernost bezieht. Doch für Deutschland macht sie eine Ausnahme. Im sächsischen Hartmannsdorf betreiben die Amerikaner ihre einzige eigene Fabrik, die Trek Diamant Fahrradwerke. 600 Mitarbeiter fertigen hier Modelle der traditionsreichen Marke „Diamant“, die zu Trek gehört, sowie sämtliche E-Bikes des Unternehmens.
Aus der Praxis lernen
In Deutschland und anderen europäischen Ländern zu produzieren ist wegen der vergleichsweise hohen Kosten herausfordernd. Daher ist es wichtig, dass die Produkte zum Standort passen. Das heißt: Es bieten sich eher qualitativ hochwertige Artikel an.
Ganz egal ob Deutschland, Ungarn oder Kroatien: Wer in Europa fertigen will, der muss sich intensiv darum kümmern, die richtigen Mitarbeiter zu finden. Das ist gerade für Konsumgüterhersteller schwierig, wenn sie sich in der Nähe von Autowerken ansiedeln. Denn die großen Marken zahlen oft besonders gut. Dann bietet es sich an, andere Vorteile herauszustellen. Zum Beispiel ein gutes Betriebsklima und die Treue gegenüber den eigenen Leuten.
Wer auf eigene Werke in Europa setzt, der braucht Geduld. Mit Lieferanten in Fernost lässt sich dagegen schnell wachsen. Die eigenen Fabriken auszubauen hingegen dauert Jahre und verschlingt viel Geld. Daher ist es unerlässlich, vorausschauend zu planen.
Die schönste Fabrik in Europa nutzt nichts, wenn am Ende die Rohstoffe fehlen oder die Bauteile aus Asien knapp werden. Daher kümmern sich umsichtige Unternehmer intensiv um Lieferanten aus Europa, oder sie schließen langfristige Verträge mit Zuliefern aus Übersee ab – auch wenn das etwas teurer ist. Der Stau vor dem Suez-Kanal zeigt, dass auch ein gut bestücktes Lager wertvoll ist.
„Der Standort ist extrem wichtig für uns“, sagt Urs Keller, der das Geschäft von Trek im deutschsprachigen Raum führt. Die Lieferungen aus Fernost ließen sich momentan kaum planen. „Das Nadelöhr sind die Häfen“, erläutert der Schweizer. Dort wird es in den nächsten Wochen eng: Am Suezkanal hatten sich 370 Frachter gestaut, als das Containerschiff „Ever Given“ vergangene Woche den Verkehrt blockierte.
Im Werk in Sachsen ist Keller dagegen sein eigener Herr: „Da redet uns keiner rein“, betont der Manager. Die Wege seien kurz zu den Kunden, das sei auch ökologisch vorteilhaft: „Da müssen die Teile nicht um die Welt geschickt werden.“
Damit nicht genug: „Ein Produkt aus Deutschland hat ein ganz anderes Ansehen als ein asiatisches“, stellt Keller fest. Kurzum, es lohnt sich für Trek, im Hochlohnland Deutschland zu fertigen. In Hartmannsdorf sind die Montagelinien seit Monaten voll ausgelastet, mehr geht nicht. Die Händler würden sofort jedes Modell abnehmen, so Keller.
Natürlich hat es nicht nur Vorteile, in eigenen Werken in Europa zu produzieren. Denn es ist mühsam, die Fertigung auszubauen. „Wir hätten 2020 noch stärker wachsen können“, ärgert sich Ortlieb-Geschäftsführer Esslinger. Aber es fehlten die Kapazitäten. Damit nicht genug: Auch die Arbeitskräfte sind begehrt. 260 Beschäftigte zählt Ortlieb derzeit, 15 weitere würde Geschäftsführer Esslinger gerne einstellen. „Eine der größten Herausforderungen ist es, neue Mitarbeiter zu finden“, stellt der Manager fest.
Fahrradfertigung bei Diamant in Hartmannsdorf
Das amerikanische Familienunternehmen Trek produziert in seinem Werk in Hartmannsdorf in Sachsen nahe an den deutschen Kunden. Das zahlt sich in diesen Tagen aus.
Noch etwas beunruhigt ihn: Ein heftiger Corona-Ausbruch könnte dafür sorgen, dass der gesamte Betrieb stillsteht. Binnen kürzester Zeit müsste Ortlieb die Auslieferung einstellen. Wegen der gewaltigen Nachfrage produziert Ortlieb eigenen Angaben zufolge derzeit rund um die Uhr und sogar am Samstag. Wer bei mehreren Lieferanten in Asien fertigen lässt, der braucht sich vor Corona in der Hinsicht weniger zu fürchten; fällt ein Zulieferer aus, ist zumindest der andere noch da.
Rohstoffe sind knapp bei Hanwag
Hanwag-Chef Gröger kämpft zudem mit knappen Rohstoffen. „Es dauert einfach, die Sohlen aus Italien zu bekommen.“ Auch Leder sei begehrt und müsse daher früh geordert werden. Hanwag gehört zum schwedisch-schweizerischen Outdoor-Konzern Fenix, der sich mehrheitlich in Familienbesitz befindet. Der Umsatz der Gruppe ist vergangenes Jahr um sieben Prozent auf 571 Millionen Euro gefallen. Das lag vor allem daran, dass viele Geschäfte wegen der Pandemie schließen mussten. Zu Fenix gehört der Hamburger Outdoor-Händler Globetrotter.
Um noch schneller liefern zu können, ist Hanwag zusammen mit den anderen Marken der Fenix-Gruppe, dazu zählt etwa der Outdoor-Ausrüster Fjällräven, in ein neues Versandzentrum umgezogen – von den Niederlanden nach Ludwigslust in Mecklenburg-Vorpommern. Derartige Anstrengungen machen sich bezahlt: Für den vergangenen Winter hatten die Händler Firmenangaben zufolge schon 40 Prozent mehr Schuhe bestellt. Die Aufträge für den nächsten Winter lägen sogar noch 90 Prozent über 2020, sagt Gröger.
Jetzt braucht der Firmenlenker nur noch die nötigen Leute, um das stramme Wachstum zu bewältigen. Die 130-köpfige Belegschaft im Werk in Ungarn will er um gut ein Drittel aufstocken. Da kommt Gröger zupass, dass die Autobranche gerade auf der Bremse steht in dem Land. Gröger: „Gott sei Dank bekommt man gerade Personal in Ungarn.“
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