Frühwarnsystem Fehlendes Klopapier und Chipkrise: So wollen Logistiker künftige Versorgungsengpässe verhindern

Ein Frühwarnsystem soll leer gefegte Regale verhindern.
Düsseldorf Der verheerende Engpass bei Halbleitern in der Automobilbranche ruft in der Logistik Pläne hervor, ein weltweit funktionierendes Frühwarnsystem aufzubauen. „Wir arbeiten daran, mit unserem Control Tower Lieferstaus und Engpässe für einzelne Artikel global sichtbar zu machen“, berichtet Marc Schmitt, Mitbegründer der Schweriner Logistiksoftware-Firma Evertracker.
Das Start-up verfolgt seit sieben Jahren, unterstützt vom Risikokapitalgeber Genius Venture Capital, für Kunden wie Airbus, Daimler oder Mitsubishi Fuso weltweite Containerlieferungen. Nach eigenen Angaben nutzt Evertracker dazu GPS-Sender, den Datenfluss der Transporteure und Sensoren, um Container in Echtzeit zu orten. Auf Basis Künstlicher Intelligenz (KI) und selbstlernender Algorithmen errechnen die Schweriner anschließend, wann die erwarteten Waren ihren Adressaten erreichen.
Bislang funktioniert das System nur auf der Ebene von Containern. „Wir wissen zwar die Nummern der darin transportierten Teile“, erklärt Schmitt. „Ob sich dahinter Mikrochips oder Getriebe verbergen, erfahren wir nicht.“
Im Fall der derzeit dringend gesuchten Halbleiter hätte eine solche Zusatzinformation den drohenden Engpass frühzeitig erkennen lassen und womöglich verhindert. Denn zustande kam er durch fehlende Transparenz und eine unglückliche Kettenreaktion.
So hatte ein scharfer Nachfrageeinbruch gleich zu Beginn der Coronapandemie die Automobilhersteller weltweit dazu verleitet, ihre Bestellungen bei Chipfabrikanten in großem Umfang zu stornieren. Die Halbleiter-Lieferanten machten sich daraufhin auf die Suche nach neuen Abnehmern und fanden sie bei den PC-Herstellern. Der Grund: Die Flucht vieler Büroarbeiter ins Homeoffice ließ die Nachfrage nach Computern für zu Hause sprunghaft ansteigen.
Die ebbt zwar längst wieder ab, doch aus Panik vor weiteren Lieferengpässen geben Chipabnehmer nun ihre Produktionskapazitäten nicht mehr frei.
Aus Panik wird mehr geordert als benötigt
„Sandbagging“, das Auffüllen von Sandsäcken, nennen Logistiker das Phänomen. „Wir sehen, dass Chipkunden ihre Orders aktuell bei mehreren Herstellern gleichzeitig abgeben, um ihre Versorgung zu sichern“, berichtet Gabriel Werner, Deutschland-Statthalter des Logistikdienstleisters JDA/Blue Yonder, der wie Evertracker die Ankunft von Warenlieferungen berechnet. Das führe dazu, dass der Markt leer gefegt wird.
„Jetzt geschieht das, was beim Toilettenpapier im Frühjahr 2020 passiert ist“, beobachtet Christian Kille, Professor für angewandte Logistik an der Hochschule Würzburg-Schweinfurt: „Die Autohersteller benötigen schneller als erwartet die Chips, ein Engpass entsteht, und es wird deshalb aus Furcht mehr nachgefragt als gebraucht wird.“
Schon beim Flugverbot nach dem isländischen Vulkanausbruch 2010 und der Atomreaktorkatastrophe in Fukushima 2011 gab es erste Vorstöße unter Logistikern, um die Transparenz in den weltweiten Lieferketten zu erhöhen. „Es blieb damals bei einem Strohfeuer“, erinnert sich Christian Kille, der für die Bundesvereinigung Logistik (BVL) als Marktanalyst arbeitet. „Doch die Chipkrise bringt das Thema nun wieder mit Macht auf den Tisch.“
Der Leidensdruck in der Automobilindustrie ist gewaltig. Alix Partners schätzt den durch die Chipkrise entgangenen Branchenumsatz auf 179 Milliarden Euro. Die mit dem Bestellstopp im Frühjahr 2020 eingesparten Kosten waren im Vergleich dazu verschwindend gering.
30 Millionen Dollar hätte das Lagern der als überzählig angesehenen Chips verschlungen, schätzt Ambrose Conroy von der Lieferkettenberatung Seraph Consulting. Das gebundene Kapital wäre in der weltweiten Branche um gerade einmal 300 bis 450 Millionen Dollar gestiegen.
Unternehmen teilen Lieferkettendaten nicht mit
Ein transparenter Blick in den Chipmarkt hätte die meisten Autohersteller vermutlich daran gehindert, den Nachschub an Halbleitern im Frühjahr 2020 derart drastisch zu drosseln. Womöglich hätte man sich sogar mit anderen Chipabnehmern, etwa aus dem IT-Gewerbe, auf Notfallpläne einigen können.
„Technisch gesehen ist es für uns kein Problem, ein branchenweites Gesamtbild über die weltweite Liefersituation zu erstellen“, sagt Thomas Spieker, Deutschlandchef des Lieferketten-Beobachters Shippeo. Der in 72 Ländern aktive Spezialist ermittelt etwa für einen Tiernahrungshändler Importdaten schon heute derart präzise, dass dieser den eigenen Onlinekunden Lieferzeiten selbst dann voraussagen kann, wenn sich die Ware noch auf dem Seeweg befindet.
Blue Yonder nutzt nach eigener Aussage sogar branchenübergreifende Standortinformationen, um Echtzeit-Transparenz zu liefern. „Durch den Einsatz von maschinellem Lernen lassen sich auch künftige Verspätungen abschätzen“, berichtet Gabriel Werner. Einer der Kunden sei Electrolux.
Doch wenn es um Ausweichmanöver geht, mit denen die betroffenen Unternehmen auf solche Verspätungen reagieren, spielen die Firmenkunden bislang nicht mit. „Alle reden davon, dass eine größere Transparenz notwendig ist“, berichtet Christian Kille, der Anfang 2022 eine Studie veröffentlichen wird, die den betriebswirtschaftlichen Nutzen eines solchen Frühwarnsystems beziffert. „Andererseits scheuen sich viele Unternehmen, die eigenen Daten preiszugeben.“ Jeder warte nun auf den anderen.
Das sagen Kunden wie Continental und VW
Von Continental heißt es hierzu lediglich, dass transparente Lieferketten zwar eine wesentliche Rolle für den geschäftlichen Erfolg spielen würden. Aber: „Inwiefern wir etwaige sensible Informationen über unsere Lieferkette Dritten zur Verfügung stellen, unterliegt einer regelmäßigen Prüfung, die insbesondere den Schutz von Daten sowie unserer Wettbewerbsposition berücksichtigt“, teilt der Zulieferer mit.
Volkswagen ist zumindest einen Schritt weiter gegangen und führt bereits Pilotprojekte mit Evertracker durch. Ziel sei unter anderem, die Eintrefftermine von Containern noch genauer bestimmen zu können.
Voraussetzung dafür aber ist, dass die Verknüpfung zwischen bestellten Produkten und Containern in den Logistiksystemen von VW erfolgt. „Nur so kann für die Logistik des Volkswagen-Konzerns die volle Transparenz hergestellt werden“, teilt der Autobauer mit.
Außerdem würden die „relevanten Informationen zu den Inhalten der Container“ mit den Dienstleistern mitgeteilt. Was diese „relevanten Informationen“ beinhalten und ob das auch Informationen zu Halbleiter-Bestellungen betrifft, teil der Konzern nicht mit. Nur so viel: Es werden Informationen mitgeteilt, „wenn diese Angaben zum Transport der Ware benötigt werden“.
Solche Zurückhaltung beobachtet auch Evertracker-Gründer Schmitt bei vielen seiner Kunden. „Oft sehen sie die Lieferdaten als wettbewerbsrelevante Informationen und sträuben sich, sie anderen zu überlassen“, berichtet er.
Bei den Chip-Belieferungen aber hätten davon wohl alle profitiert. „Hersteller wie BMW, Mercedes und VW sollten sich zusammensetzen“, rät deshalb Shippeo-Manager Spieker, „und eine gemeinsame Branchenlösung initiieren.“
Mehr: Kommentar: Lkw-Fahrermangel: Jetzt hilft nur noch Digitalisierung
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.