Berlin Semih Yalcin hat über Ostern wieder in die Pedale getreten, um hungrigen Kölnern ihre Pizzen, Burger und Salate zu bringen. Bis zu 50 Kilometer fährt er am Tag. Zehn Euro plus Trinkgeld kriegt er dafür in der Stunde. Doch den 29 Jahre alten Fahrradkurier des Berliner Essenslieferanten Delivery Hero könnte bald ein ungewöhnlicher Karriereschritt ereilen – jedenfalls dann, wenn das SDax-Unternehmen einen aktuellen Beschluss des Landgerichts Berlin umsetzen sollte. Die Richter haben angeordnet, dass Delivery Hero seinen Aufsichtsrat mit Vertretern der Arbeitnehmer besetzen muss.
Yalcin wäre ein geeigneter Kandidat, seine Kondition hat er nicht nur auf dem Rad bewiesen. Er fährt für die Firmenmarke Foodora mit den markanten rosa Rucksackboxen. Zugleich steht er dem ersten und einzigen Betriebsrat des Unternehmens in Deutschland vor, den er im Sommer 2017 mitbegründet hat. Keine leichte Aufgabe.
Das einstige Start-up mag den größten Börsengang des Jahres 2017 hingelegt und mehr als eine Milliarde Euro eingesammelt haben. Von den Standards der Mitbestimmung, die einst Kohlekumpel, Stahlkocher und Autobauer durchsetzten, ist es weit entfernt. Das liegt auch daran, dass ein Großteil der Mitarbeiter in Mini- und Midijobs angestellt ist.
Der Betriebsrat kämpft für eine Verschleißkostenpauschale für die Fahrräder und begleitet Mitarbeitergespräche. „Der Standort Köln mit seinen rund 220 Fahrern fühle sich oft wie das gallische Dorf bei Delivery Hero“, sagt Yalcin. Noch im Januar stritt er sich mit der Unternehmensführung vor Gericht um Lappalien wie den Zugang zu wirtschaftlichen Daten, die einem Betriebsrat normalerweise zustehen. In Zukunft könnte es leichter werden. Als Aufsichtsrat dürfte Yalcin wohl niemand mehr Geschäftszahlen vorenthalten.
Und ohne Arbeitnehmer im Aufsichtsrat darf sein Unternehmen eigentlich nicht mehr weitermachen. Unbemerkt von der Öffentlichkeit stellten Berliner Richter in der Kammer für Handelssachen am 9. März fest, dass die Delivery Hero AG gegen das deutsche Mitbestimmungsgesetz verstößt. Ein Aufsichtsrat, in dem ausschließlich Vertreter der Eigentümer sitzen, ist bei der Firmengröße nicht zulässig.
Aktiengesellschaften mit mehr als 2000 Mitarbeitern müssen die Arbeitnehmerseite am Aufsichtsrat beteiligen. Delivery Hero liegt über dieser Schwelle, das war unstrittig. Die Richter ordneten deshalb an, dass ein „paritätisch besetzter Aufsichtsrat bestehend aus je sechs Mitgliedern der Anteilseigner und der Arbeitnehmer zu bilden ist“.
Delivery Hero will sich wehren
Delivery Hero hat angekündigt, gegen den Beschluss Beschwerde einzulegen. „Wir nehmen Arbeitnehmerbelange sehr ernst und sorgen selbstverständlich dafür, dass diese im Aufsichtsrat ‧hinreichend reflektiert werden“, sagt Unternehmenssprecher Bodo von Braunmühl. Die Sicht der Firma: Eine Entscheidung des Gerichts könne keine Wirkung entfalten, weil sich die Aktiengesellschaft „zeitnah“ in die Rechtsform Societas Europaea (SE) umwandeln werde, indem sie mit der niederländischen Delivery Hero N.V. verschmilzt.
Die zukünftige europäische Aktiengesellschaft SE müsse sich nicht am deutschen Mitbestimmungsstatut orientieren. Beim Unternehmenstyp SE gelten andere Spielregeln bei der Zusammensetzung des Aufsichtsrats. Der Vortrag beeindruckte die Richter jedoch nicht, sie sahen in der geplanten SE eine noch unsichere zukünftige Entwicklung.
Die am Verfahren beteiligte Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) begrüßt den Richterspruch. „Mitbestimmung der Arbeitnehmer ist modern und gilt auch für Start-up-Unternehmen“, sagt der stellvertretende Vorsitzende Guido Zeitler. Der Beschluss des Gerichts könne dazu beitragen, „Unternehmen die Flucht vor oder aus der Mitbestimmung zu erschweren“. Trotz des juristischen Erfolgs legt die NGG Wert auf die Feststellung, dass es eine Distanz zum Kläger gebe.
Geklagt hatte ein Aktionär, der in Gewerkschaftskreisen kritisch gesehen wird, seit er 2017 beinahe die Mitbestimmung in deutschen Aufsichtsräten aushebelte: Konrad Erzberger. Der 31 Jahre alte Jurist hatte vom Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Zusammensetzung des Aufsichtsrats des Touristikkonzerns Tui überprüfen lassen.
Sein Argument: Dass nur die 10.000 Mitarbeiter in Deutschland über die Arbeitnehmervertreter darin abstimmen dürfen, diskriminiere 40.000 Mitarbeiter im EU-Ausland. Der Fall wurde bundesweit bekannt, denn der EuGH hätte die komplette deutsche Mitbestimmung tiefgreifend verändern können – mit kaum absehbaren Folgen. Schließlich bestätigten die Richter jedoch die gängige Praxis.
Wegen der Tui-Klage sehen viele Gewerkschafter in Erzberger den „Wolf im Schafspelz“, obwohl sie ihn bei Rechtsstreitigkeiten seit dem Tui-Fall fast immer auf ihrer Seite finden. Mehr als 50 Statusverfahren zur Überprüfung von Aufsichtsräten hat der promovierte Jurist angestrengt, mit wechselndem Erfolg. Warum er das tut? Er selbst nannte einmal Idealismus als Motiv für seine Klagen. Öffentlich äußert er sich nur selten.
Auch zum Klageerfolg bei Delivery Hero möchte er keine Stellungnahme abgeben. Allerdings war Erzberger früher in der Start-up-Szene aktiv. Sein beim Karrierenetzwerk LinkedIn hinterlegter Lebenslauf weist Stationen als „Business Development Manager“ bei Rocket Internet und der Solarisbank aus.
Wie es nun nach dem Richterspruch weitergeht, entscheidet sich durch das Beschwerdeverfahren und dadurch, wie Delivery Hero die Verschmelzung zur SE umsetzt. Bislang arbeitete das Unternehmen parallel auf zwei Baustellen. Während es mit Erzberger in Berlin vor Gericht stritt, verhandelte es mit dem Kölner Betriebsrat Yalcin und einem gewählten „Besonderen Verhandlungsgremium“ der Mitarbeiter um die zukünftige Vertretung ihrer Interessen im Aufsichtsrat der neuen SE.
Dieses Vorgehen ist im Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft vorgeschrieben. Erst wenn die Verhandlungen abgeschlossen sind, kann die SE ins Handelsregister eingetragen werden.
Vor Gericht behauptete Delivery Hero, das juristische Verfahren mit der Aktiengesellschaft sei schon allein deshalb ziellos, weil die Verhandlungen mit Yalcins Gremium gut vorankämen. Bei einer einvernehmlichen Einigung erledigt sich der Beschluss von selbst. „Wir sind guter Dinge, die Verhandlungen um eine Vereinbarung über die Beteiligung der Arbeitnehmer in der künftigen Gesellschaft so zeitnah wie möglich zu einem erfolgreichen Abschluss zu bringen“, teilte Delivery Hero auch dem Handelsblatt mit.
Yalcin hingegen bestreitet, dass schon früh alles in trockenen Tüchern gewesen sei. „Sie wollten Arbeitnehmer zwar im Aufsichtsrat zulassen, aber nur unter engen Bedingungen. So sollte es sich ausschließlich um Führungspersonal handeln“, sagt der Fahrradkurier. In den Verhandlungen sei zudem nur eine Drittellösung angeboten worden. Das Urteil des Landgerichts habe nun einiges verändert, betont Yalcin. „Jetzt fordern wir paritätische Besetzung, mit weniger lassen wir uns nicht abspeisen.“ Der Frage, ob er selbst Aufsichtsrat werden möchte, weicht Yalcin aus. Zu früh, zu unsicher, zudem gäbe es auch andere qualifizierte Kollegen.
Am Ziel sind die Mitarbeiter nicht. Delivery Hero könnte auch auf Zeit spielen. Wenn die Verhandlungen mit dem Mitarbeitergremium scheitern, werden bei SE-Verschmelzungen die bestehenden Verhältnisse der Gründungsfirmen übernommen. Damit droht der nächste Rechtsstreit. „Was gilt dann in unserem Fall? Der Istzustand ohne Arbeitnehmer im Aufsichtsrat oder der gerichtlich verordnete Sollzustand?“, fragt Yalcin. Die Antwort müssten wahrscheinlich wieder Gerichte finden.
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