Nahverkehr Chipmangel treibt das Handyticket voran

Rund 15,5 Millionen Zeitkarten gibt es bundesweit als Chipkarten.
Frankfurt Dass Autos wegen fehlender Chips nicht gebaut werden können oder deshalb an Weihnachten der eine oder andere Wunsch nach einer Spielekonsole nicht erfüllt werden kann – das ist bekannt. Doch der Mangel an Halbleitern hat noch ganz andere, überraschende Folgen. Er könnte dazu führen, dass Pendler mangels Ticket bald nicht mehr mit dem Nahverkehr zum Job fahren dürfen. Weil Hersteller wie Samsung nicht zusagen können, ob sie wie geplant Halbleiter liefern können, ist der erforderliche Austausch der Ticket-Chipkarten gefährdet.
„Die Lieferfrist für Halbleiter beläuft sich derzeit auf zehn statt wie bisher auf drei bis vier Monate“, warnt der VDV eTicket Service, eine Tochtergesellschaft des Verbandes deutscher Verkehrsunternehmen (VDV). Das könne zu einem Problem werden, denn die rund 15,5 Millionen Zeitkarten, die es landesweit als Chipkarten gibt, müssten sukzessive ersetzt werden. Sie seien nur begrenzt gültig.
Könnten aber die Zeitkarten nicht wie gewohnt ausgegeben werden, würde den Anbietern des öffentlichen Nahverkehrs empfindliche Einbußen drohen. Rund 70 Prozent der Ticketeinnahmen stammen von Wochen-, Monats- oder Jahreskarten. Und die Fahrgäste könnten nicht fahren oder müssten auf Einzeltickets umsteigen.
Der drohende Engpass hat der Branche eine seit Langem bekannte Schwachstelle vor Augen geführt. Während es mittlerweile kein Problem mehr ist, sich eine Einzelfahrt oder eine Tagesfahrkarte als Handy-Ticket zu besorgen, werden Zeitkarten bisher entweder in Papierform oder eben als Chipkarte ausgegeben. „Bisher sind Handy-Tickets sehr leicht kopierbar, selbst für Nicht-IT-Experten. Deshalb wurden höherpreisige Fahrscheine bis jetzt nicht als Handy-Ticket ausgegeben“, erklärt ein Sprecher des VDV eTicket Service.
Das soll sich in den kommenden Monaten ändern. Der Halbleitermangel hat eine Entwicklung befeuert, die unmittelbar vor der Krise, im Jahr 2019 begann. Die Nahverkehrsanbieter baten die Experten des VDV eTicket Service, den Barcode für das Handy-Ticket so sicher zu machen, dass er auch für teure Zeitkarten genutzt werden kann.
München und Aachen wollen das neue System nutzen
Seit einigen Monaten ist das System verfügbar – zunächst im Testbetrieb, bald auch bei den ersten Verkehrsgesellschaften. Die Verkehrsbetriebe in München (MVV) und Aachen (AVV) wollen die Zeitkarte im kommenden Jahr auf das Smartphone schalten.
Das neue System nennt sich Mobile Ticketing Crypto Service, oder kurz Motics. Es nutzt vor allem zwei Dinge, um den Barcode einzigartig zu machen. Zum einen gibt es ein Sicherheitszertifikat, das bei der Kontrolle überprüft wird. Zum anderen ändern sich regelmäßig Teile des Barcodes, zum Beispiel alle 30 Sekunden. Eine einfache Kopie des Codes ist damit sinnlos. Neben den Zeitkarten soll das System dann auch für Einzelfahrkarten genutzt werden.

Auch Zeitkarten wie etwa das Jobticket sollen bald auf dem Smartphone gespeichert werden können.
Für die Fahrgäste bedeutet die Lösung mehr Komfort. Das Smartphone hat heute fast jeder dabei, es ist schneller zur Hand als der Geldbeutel mit all den Karten. Bis zum Beginn der Pandemie stieg die Nachfrage nach Handy-Tickets deshalb jährlich um rund 25 Prozent. Der Fahrgastverband Pro Bahn setzt sich schon lange für eine umfassende Nutzung des Handy-Tickets ein.
Auch die Kontrolle des Tickets wird künftig schneller gehen. Die Kunden müssen nicht mehr wie heute bei einer Einzelfahrt auch ihren Ausweis zeigen, um das Ticket eindeutig dem Besitzer zuordnen zu können.
Umstellung soll für Verkehrsbetriebe einfach sein
Nun ist es an den Verkehrsbetrieben, das neue System möglichst schnell einzusetzen. Angesichts der Chipknappheit und steigender Preise für die Halbleiter dürfte ein gewisser Handlungsdruck herrschen. Der Aufwand soll sich laut VDV eTicket Service in Grenzen halten. Es seien keine neuen Geräte nötig, erforderlich seien nur Updates in der App, im zentralen System und auf den Lesegeräten der Kontrolleure, erklärte der Sprecher von VDV eTicket Service. Diese Update gibt es kostenlos – als Dienstleistung des Verbandes. Lediglich die erforderlichen Sicherheitszertifikate würden Geld kosten.
Wer nun allerdings darauf hofft, dass Motics zu der schon lange diskutierten einheitlichen Lösung für Handy-Tickets in ganz Deutschland werden könnte, wird enttäuscht. Es handelt sich um ein System, das im Hintergrund arbeitet. Für die Kunden bleibt es dabei: Sie müssen ihre Tickets weiterhin in der jeweiligen App des Verkehrsverbundes kaufen.
Das dürfte sich auch so schnell nicht ändern. Bei den Nahverkehrsunternehmen hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass eine bundeseinheitliche Buchungsplattform nicht so viel bringen wird. Entscheidender sei es, in einer App ein breites regionales Angebot abzudecken, mit Transportmitteln jenseits des Nahverkehrs wie etwa einem E-Roller oder Carsharing-Diensten, sofern diese am jeweiligen Bahnhof verfügbar sind, heißt es beim VDV.
Mehr: Schiene, Auto, Fahrrad? Im Verkehrssektor beginnt der Verteilungskampf um Milliarden
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