Report So erobert Amazon den stationären Handel

Das Einkaufen ist analog, der Bezahlvorgang aber digital.
San Francisco, San José, New York Beinahe hätte es so etwas wie den ersten Amazon-Laden schon vor 23 Jahren gegeben: Damals empfing Starbucks-Chef Howard Schultz den Gründer eines noch ziemlich unbekannten Online-Buchhändlers, um über eine Beteiligung zu sprechen.
Jener Jeff Bezos hatte wenige Jahre zuvor in Starbucks‘ Heimatstadt Seattle seine Zelte aufgeschlagen, und Schultz bot ihm an, im Austausch für Anteile Amazon-Bücherregale in seinen Cafés aufzustellen. An etwa zehn Prozent dachte Schultz, wie es der Journalist Brad Stone in seiner Amazon-Historie „Der Allesverkäufer“ beschreibt.
„Ihr habt keine physische Präsenz. Das wird euch aufhalten“, sagte Schultz. „Wir fliegen dieses Ding bis auf den Mond“, antwortete Bezos. Seit dem Treffen der beiden Männer ist die Amazon-Rakete dem Mond schon viel nähergekommen. An Starbucks ist Bezos längst vorbeigeflogen.
Trotzdem hat Schultz recht behalten: Ohne eigene Läden kommt selbst der weltgrößte Onlinehändler nicht mehr aus. Die Übernahme der amerikanischen Bioladen-Kette Whole Foods im August 2017 für 13,2 Milliarden Dollar war die größte Akquisition der Amazon-Geschichte – und leitete eine neue Phase im Konzern ein. Wenige Monate später eröffnete das Unternehmen seinen ersten „Amazon Go“-Laden in seiner Zentrale in Seattle.
Inzwischen probiert der Tech-Gigant ein Shopkonzept nach dem anderen aus: Die „Go“-Läden, die dank Sensoren und Check-in per Amazon-App ohne Kassen funktionieren. Die „Four-Star“-Geschäfte, die sich Amazons gewaltige Bibliothek von Kundenrezensionen zunutze machen. Die Buchläden, die Amazon zu seinen Wurzeln zurückführen. In Seattle ist gerade ein neuer, größerer Lebensmittelmarkt ohne Kassen eröffnet worden, in Los Angeles soll bald ein weiteres Konzept folgen.
Der reine E-Commerce ist tot. Die Zukunft liegt in den Läden. Die Kunden wollen etwas anfassen können. Natalie Berg (Gründerin der Handelsberatung NBK Retail)
Amazon wurde innerhalb kurzer Zeit zum Schrecken aller Händler, weil das Internet unbegrenzte Regalmeter und den Komfort des Shoppings auf dem Sofa bot. Nun sucht der Allesverkäufer sein Heil in der Enge physischer Läden. Warum?
„Der reine E-Commerce ist tot. Die Zukunft liegt in den Läden“, glaubt Natalie Berg, Gründerin der Handelsberatung NBK Retail und Autorin eines Buchs über Amazons Strategie. „Die Kunden wollen etwas anfassen können“, sagt sie. Wenn sie etwa Amazons smarte Lautsprecher Echo oder Sicherheitskameras des 2018 übernommenen Start-ups Ring im Laden ausprobieren könnten, seien Kunden eher geneigt, diese auch zu kaufen. „Und damit sind sie im Amazon-Ökosystem, und das ist das Ziel“, sagt die Handelsexpertin.
Bislang geht Amazon seine Ladenpläne noch zu vorsichtig an, um damit den Massenmarkt anzugreifen. Nimmt man Whole Foods aus der Rechnung heraus, betreibt Amazon gerade einmal 43 Läden mit verschiedenen Konzepten quer über die USA verstreut.
Die meisten der 105 Millionen US-Kunden, die Amazon über sein Prime-Programm an sich bindet, können keinen dieser Läden erreichen, von den internationalen Kunden ganz zu schweigen. Noch immer macht der Onlinehandel den ganz überwiegenden Teil von Amazons Umsatz aus (siehe Grafik), in der Corona-Krise umso mehr. Eben erst hat Amazon 100000 weitere Mitarbeiter für seine Warenhäuser und Lieferdienste eingestellt, die die Millionen Amerikaner beliefern, die sich wegen Corona in ihr Zuhause zurückziehen müssen.
Die Läden müssen derweil schließen, doch gut lief es schon vorher nicht. Bereits 2019 sank der Umsatz der physischen Whole-Foods- und Amazon-Läden im Vergleich zum Vorjahr leicht.
Trotzdem könnte sich Amazons Präsenz im stationären Handel rasant vergrößern: Vor Kurzem kündigte das Unternehmen an, seine „Just Walk Out“-Technologie aus den kassenlosen Läden auch anderen Händlern anbieten zu wollen. Dabei hat Amazon auch mit den Einzelhandelsriesen Walmart und Target gesprochen. Aber die sind laut „Wall Street Journal“ bisher nicht an der Amazon-Technologie interessiert.
Die Technologie sei mit der selbstfahrender Autos vergleichbar, wirbt Amazon: „Bilderkennung, zusammenarbeitende Sensoren und Deep Learning.“ Die Künstliche Intelligenz sei in der Lage, genau nachzuvollziehen, was welcher Kunde aus dem Regal genommen hat, und könne abrechnen, ohne einen einzigen Artikel zu scannen.
Einen bestehenden Laden derart auszustatten dauere selbst im laufenden Betrieb wenige Wochen. Amazon habe bereits mehrere Kunden, die „Just Walk Out“ nutzen, nennt aber bislang keine Namen.
Nach der Erfindung des Onlinehandels nimmt sich Amazon nun also die Disruption des Offlinegeschäfts vor. Aber wie revolutionär fühlen sich die Läden in der Realität an? Und welche Strategien stecken dahinter? Das Handelsblatt hat vier der Amazon-Konzepte in den USA besucht.
Amazon Go: Kühle Effizienz

Zugang nur mit Barcode aus der Amazon-App.
Der Laden an einer Straßenecke in San Franciscos Bankenviertel will keine Designpreise gewinnen. Von gitterförmigen Metallträgern hängen Sensoren und Kameras, unter der Sichtbetondecke schlängeln sich Lüftungsrohre entlang. Den Eintritt versperrt eine gläserne Zugangssperre, die sich mit einem Barcode aus der Amazon-App öffnen lässt. Reinkommen dauert etwas länger als in anderen Supermärkten. Das Rauskommen geht dafür umso schneller.
Amazon Go ist der Ur-Amazon-Laden. Keine Kassen, keine Warentransportbänder, kein Gefummel im Münzfach. Der Ladeneinkauf soll so reibungslos funktionieren wie Onlineshopping. Der gescannte Barcode identifiziert den Amazon-Kunden, danach ist er mit sich und den Regalen allein. Ein Mitarbeiter mit orangener Basecap und Schuhen – der Go-Markenfarbe – taucht erst auf, als Sushi und Smoothies nachgefüllt werden müssen.
Überhaupt sieht der Laden eher nach kleinräumigem Experiment aus: Das Sortiment ist auf den Mittagshunger und nachmittägliche Snackgelüste der Banker im Viertel ausgerichtet. Links Obstbecher und „Kung Pao Chicken“-Boxen, in der Mitte eine Starbucks-Kaffeebar mit Pumpkannen, rechts Proteinriegel und gekühlte Sandwiches – alles auf der Fläche eines größeren Wohnzimmers.
Wohnlich will hier aber höchstens der Sitzbereich jenseits der Regale sein, mit Mikrowellen für die Sandwiches und einem Bild aufgeschnittenen Gemüses an der Wand.
Das Tor nach draußen öffnet sich ohne Barcode. Die Sensoren und Kameras haben selbst die Größe des Kaffeebechers bereits erfasst und seinen Preis abgebucht. Anders als am Eingangstor piepst es nicht mal. Der große Go-Vorteil ist gleichzeitig ein Nachteil: Für ungeübte Kunden fühlt sich Einkaufen, ohne physisch zu bezahlen, wie Diebstahl an.
Schlimmer noch: Die Abwesenheit von Kassierern unterstreicht die kühl-industrielle Aura des Ladens mehr als die Lüftungsrohre und das ständige Summen der Kühlregale. Die Rechnung kommt einige Stunden später per Mail. Lebensmitteleinkauf mit maschineller Effizienz.
Technisch sei das Konzept den jetzigen Selbstbedienungskassen in Deutschland weit voraus, sagt Stephan Ritter vom Beratungshaus Publicis Sapient. Es sei aber noch zu anfällig und locke dadurch viele Betrüger an. Auch Amazon kommt bislang nicht ganz ohne Mitarbeiter aus, die neben dem Regaleauffüllen auch noch ein Auge auf die Kunden werfen sollen.
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