Zalando-Großaktionärin Cristina Stenbeck Mehr Zeit zum Nachdenken

Die Aufsichtsvorsitzende der Investmentholding Kinnevik erkannte schon früh die Chancen des Onlinehandels
Stockholm Blumen gab es keine, auch keine überschäumenden Dankesreden. Zu sehr waren alle geschockt, als Cristina Stenbeck im März dieses Jahres völlig überraschend mitteilte, dass sie den Aufsichtsratsvorsitz bei der schwedischen Investmentgesellschaft Kinnevik nach zehn Jahren wieder abgeben möchte. So groß wie die Verunsicherung 2002 war, als die damals erst 24-Jährige nach dem plötzlichen Tod ihres Vaters Jan Stenbeck die Verantwortung für das Familienimperium übernehmen musste, so groß war die Bestürzung jetzt, als die mittlerweile 38-jährige Frau erklärte, sie wolle sich fortan mehr um die strategische Ausrichtung von Kinnevik kümmern.
Ob das einen Kurswechsel bedeuten kann, ist noch unklar. Allerdings wird man in Berlin ganz besonders interessiert in den hohen Norden schauen, ist doch Kinnevik der größte Aktionär des Modekonzerns Zalando. Außerdem sind die Schweden an Rocket Internet, dem Start-up-Inkubator der Samwer-Brüder, beteiligt.
In einem ihrer ganz seltenen Interviews mit der schwedischen Zeitung „Svenska Dagbladet“ erklärte Stenbeck ihren Entschluss zurückzutreten so: „Ich will mehr Zeit für die Dinge haben, die einen Mehrwert für unser Unternehmen bedeuten und möchte neue Geschäftsideen finden und entwickeln.“ Und dann fügte sie noch hinzu: „In allererster Linie habe ich mich immer als Eigner verstanden, und diese Rolle will ich wieder stärker wahrnehmen.“
Das war im März dieses Jahres. Nur wenige Wochen später hatte sich die anfängliche Sorge über die Zukunft der Investmentgesellschaft gelegt, und der Alltag war wieder eingekehrt an Skeppsbron 18, einer der teuersten Adressen in Stockholm. Hier, einen Steinwurf entfernt vom königlichen Schloss und Stockholms pittoresker Altstadt, liegt die Kinnevik-Zentrale. Stenbeck residiert in einem neubarocken Bau, aus dessen dicken Mauern äußerst selten etwas nach außen dringt.
Cristina Stenbeck, die zusammen mit einigen weiteren Familienmitgliedern rund die Hälfte der Stimmrechte bei Kinnevik kontrolliert, führt die vor genau 80 Jahren von ihrem Großvater Hugo Stenbeck gegründete Gesellschaft in dritter Generation. Und nicht nur unter ihrer Ägide hat sich das einflussreiche Unternehmen immer wieder neu erfunden, manchmal erfinden müssen.
Investierte Kinnevik in den Anfangsjahren zunächst hauptsächlich in die traditionelle Forst- und Papierindustrie des Landes, verschob sich der Fokus seit den 1980er-Jahren immer mehr in Richtung Medien- und Telekommunikationsunternehmen.
Wendepunkt mit 24
Es war Cristinas Vater, der charismatische Jan Stenbeck, der 1983 die neue Richtung vorgab: Stenbeck entdeckte eine Lücke in den schwedischen Mediengesetzen und startete mit TV 3 den ersten kommerziellen TV-Kanal in Schweden. In den Folgejahren gründete Stenbeck die Gratiszeitung „Metro“, die es mittlerweile in 120 Großstädten in 23 Ländern gibt. Weitere Medienbeteiligungen folgten, und mit Tele2 und Millicom gelang auch der Einstieg in den Telekom-Markt.
Der 19. August 2002, ein Montag, war ein Wendepunkt im Leben von Cristina Stenbeck. An diesem Tag starb ihr Vater völlig unerwartet mit nur 59 Jahren an einem Herzinfarkt. Plötzlich war das milliardenschwere Familienunternehmen ohne Führung. Tochter Cristina, die der Vater zu seiner Nachfolgerin bestimmt hatte, musste einspringen. Sie, die in New York geboren und bei der amerikanischen Mutter aufgewachsen ist.
Sie, die Schwedisch erst als Teenager lernte, was man noch heute an ihrem leicht amerikanischen Akzent hört. Sie, die erst zwei Jahre Berufserfahrung in der Marketingabteilung des Luxusmodeherstellers Ralph Lauren gesammelt hatte. Diese junge Frau sollte das Familienimperium übernehmen? Kann das gut gehen?, fragten sich damals viele in Schweden und wohl auch Cristina Stenbeck.
Sie ließ sich vier Jahre Zeit, bis sie sich entschloss, den Platz des Vaters einzunehmen. Und leitete prompt die nächste radikale Neuorientierung von Kinnevik ein. Oder, wie es ein Analyst in Stockholm ausdrückt: „Sie hat den Laden ordentlich umgekrempelt.“ Stenbeck sah tatsächlich schon recht früh im Onlinegeschäft eine Rendite versprechende Zukunft.
Als dann 2007 der Berliner Unternehmer Oliver Samwer bei ihr anfragte, ob sie sich nicht an seinen Start-up-Ideen und dem Mode-Onlinehändler Zalando beteiligen wolle, zögerte sie nicht lange. Ihre Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Im Herbst 2014 ging das Unternehmen an die Börse. Cristina Stenbeck selbst übernahm den Aufsichtsratsvorsitz. „Ich bin so stolz über den Erfolg von Zalando“, sagt sie. Mit einem Anteil von fast 32 Prozent ist Kinnevik heute Zalandos größter Aktionär – und kann sich über gute Quartalszahlen und einen kräftigen Kursanstieg in dieser Woche freuen.
Es blieb nicht allein beim Zalando-Engagement. Stenbeck beteiligte sich auch an Rocket Internet, dem Start-up-Inkubator der Samwer-Brüder, der in Schweden despektierlich als „deutsche Kopier-Bude“ bezeichnet wird, sowie an einzelnen Start-ups, darunter der Kochboxenlieferant Hello Fresh und die Global Fashion Group, ein Zusammenschluss von Zalando-Klonen vom Nahen Osten über Asien bis Südamerika.
Doch inzwischen läuft längst nicht mehr alles reibungslos zwischen den Berliner Internetpionieren und der schwedischen Milliardärin. Unterschiedliche Auffassungen über die Bewertung von einzelnen Beteiligungen und mutmaßliche Differenzen bei geplanten Börsengängen führten zu Disharmonien in der Partnerschaft. Im vergangenen Jahr gab Lorenzo Grabau, der Vorstandschef von Kinnevik, den Aufsichtsratsvorsitz bei Rocket Internet ab. Mittlerweile haben die Schweden nicht mal mehr einen Vertreter in dem Kontrollgremium.
Im April erklärt Cristina Stenbeck, dass sie auch den Zalando-Aufsichtsratsvorsitz abgeben wird. Von einer Beziehungskrise will sie aber nichts wissen. „Wir bleiben engagiert und sind enthusiastisch, was Zalando betrifft“, äußert sie. Zalando gehört ja auch längst nicht mehr den Samwer-Brüdern. Im vergangenen Jahr hat Kinnevik in kein neues Rocket-Projekt mehr investiert.
Möglicherweise hat die resolute Schwedin, die erst vor kurzem mit ihren drei Töchtern und ihrem britischen Ehemann von London nach Stockholm umgezogen ist, neue Investitionsziele ausgemacht. Vor einigen Wochen bemerkte sie, dass Kinnevik unter anderem nach Beteiligungsmöglichkeiten in den Bereichen E-Health und E-Learning sucht.
Außerdem steht der Börsengang der Global Fashion Group an. „Das wird allerdings nicht so einfach laufen wie bei Zalando“, glaubt Björn Gustafsson, Analyst bei Kepler Cheuvreux. „In Schwellenmärkten gibt es höhere Risiken.“
Vielleicht hat sich Cristina Stenbeck auch deshalb von den wichtigsten Aufsichtsratsposten zurückgezogen. „Ich brauche mehr Zeit zum Nachdenken“, sagte sie im Frühjahr.
Das dürfte ganz im Sinne ihres Vaters sein. Der hat einmal auf die Frage, was seinen Job von dem eines normalen Arbeitnehmers unterscheidet, geantwortet: „Ich glaube, ich habe mehr Zeit als andere, um in der Badewanne zu liegen und nachzudenken.“
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