Kartendienstleister Here Autofahrer werden zum Ziel der Datenjäger

Die Karte erfasst Milliarden Informationen, um damit ein virtuelles Modell der Fahrbahnoberfläche zu entwickeln.
München Der Abend des 29. Juni sollte für die Mitarbeiter von Here ein besonderer werden. Das Sommerfest des Kartendienstleisters stand an, doch statt Rauchschwaden vom Grill sammelten sich dunkle Wolken über Berlin. Binnen Minuten fiel über der Hauptstadt so viel Regen wie sonst innerhalb eines Monats. Und als mancherorts die Keller vollliefen und ganze Straßenzüge unter Wasser standen, hingen die Datenexperten schon wieder über ihren Rechnern.
Denn mit dem Starkregen ergoss sich eine Flut von Daten aus dem Großraum Berlin auf die Server. Mehrere Hundert Autos sendeten über ihre Mobilfunkkarten Informationen über Geschwindigkeit und Position, ob sie schon mit Licht fuhren, wie schnell sich die Scheibenwischer bewegten, Nebelleuchten oder Warnblinkanlage eingeschaltet wurden. „Wir konnten anhand der Daten aus den Autos geradezu straßengenau sehen, wie sich das Gewitter bewegte“, sagt Ralf Herrtwich, Chef der Here-Autosparte, im Gespräch mit dem Handelsblatt. Aus seiner Sicht nur ein kleiner Vorgeschmack auf das, was digitale Karten schon bald leisten werden.
Seit fast zwei Jahren gehört die ehemalige Nokia-Tochter den deutschen Autoherstellern Audi, BMW und Daimler. Der von Mercedes zu Here gewechselte Herrtwich ist nun dabei, den Kartendienstleister zu einem digitalen Powerhouse für die deutsche Autoindustrie aufzurüsten. Ein ehrgeiziges Unterfangen, das immerhin den Segen der Wettbewerbsbehörden hat. Hier soll eine global agierende Navigationsplattform werden, die in Echtzeit ein zentimetergenaues Lagebild für Mensch und Maschinen erstellt.
Damit können eines Tages Roboter die Regale von Supermärkten füllen oder Drohnen ihre Pakete vor die Haustür liefern, lautet die Vision. Vor allem will die deutsche Autoindustrie ab 2020 mit der digitalen Karte in der Lage sein, unabhängig von amerikanischen und asiatischen Technologiekonzernen das Fahren ohne Fahrer in Serie zu bringen – mithilfe der Schwarmintelligenz vieler vernetzter Autos.
Mobilfunkkarten in allen Neuwagen
Eine Voraussetzung liefert die Autoindustrie selbst. Seit rund einem Jahr rüsten die deutschen Premiumhersteller ihre Neuwagen mit Mobilfunkkarten aus, die Daten über die eigenen Server anonymisiert an Here in Berlin schicken. „Mittlerweile sind es 400.000 Autos, wir werden in weniger als einem Jahr auf eine Million kommen“, sagt Herrtwich. Entsprechend steil steigt die Menge an Datensätzen, die Here auswertet und in seine Echtzeit-Karten integriert. Damit, so hofft man in Berlin, wird bald die Flotte von 400 Vermessungsfahrzeugen überflüssig, die mit Kameras, Radaren und Sensoren derzeit das Kartenmaterial von Here frisch hält. „Wir gehen davon aus, bis 2020 unsere Karten zu 95 Prozent automatisch aktualisieren zu können“, sagt Herrtwich. Dann werden Millionen von Autos Daten aus ihrer Umgebung senden und empfangen, blitzschnell neue Verkehrsschilder verorten, Baustellen erfassen und vor Glatteis warnen. In Städten und entlang der Autobahnen werden Datenwolken entstehen, die den Bordcomputer ständig mit hochpräzisen Informationen über die Umgebung des Fahrzeugs informieren.
Denn das ist das Ziel: Autos, die sich selbst steuern, das sogenannte autonome Fahren. In einzelnen Fahrsituationen, etwa im Stau, steuern sich Oberklasselimousinen wie der neue Audi A8 heute schon selbst, ohne dass sich der Fahrer einschalten muss. Dabei greift der Bordcomputer aber nur auf gespeichertes Kartenmaterial und die Sensoren zurück. Für längere Fahrten, höhere Geschwindigkeiten und komplexere Verkehrslagen reicht das aber nicht. Dazu benötigt das Auto nicht nur die Daten aus seinem unmittelbaren Umfeld, eingefangen über Kameras und Radare. Das Auto muss auch Situationen erfassen können, die hinter dem Sichtfeld seiner Sensoren liegen, also umspringende Ampeln, Ölspuren oder Nebelbänke – abgelegt in der Here-Cloud.
„Wir glauben, dass Echtzeit-Informationen wichtig sind, um den Verkehr der Zukunft zu steuern“, sagt Nikolaus Lang, Autoexperte von Boston Consulting. „Damit das funktioniert, muss die durchgängige Verbindung zwischen dem Auto und der Cloud gewährleistet sein.“ Die heutigen Mobilfunknetze leisten das aber noch nicht. Deshalb ist eine Voraussetzung für das sichere autonome Fahren der Netzausbau, vorzugsweise mit dem neuen Mobilfunkstandard 5G. Dieser kann die Daten nicht nur schneller transportieren, sondern bereits am Mobilfunkmast mit der Verarbeitung der Informationen beginnen.
Lang schätzt, dass sich in der Autoindustrie zwei bis drei große Kartenanbieter durchsetzen werden. Der Marktforscher Ovum sieht in seinem jüngsten Report Here in Bezug auf Vollständigkeit der Karte und Zahl der Nutzer vor den Rivalen Tomtom und Apple Maps.
Google führt das Feld an
Nummer eins im Geschäft ist mit leichtem Abstand aber nach wie vor Google, dessen Konzernschwester Waymo selbst in das Geschäft mit autonom fahrenden Autos einsteigen will. Waymo hat nicht nur das Google-Kartenmaterial im Angebot, sondern auch Software und Sensoren, also Herz und Hirn des Roboterautos. Die Alphabet-Tochter unterhält Partnerschaften mit Fiat-Chrysler, Lyft und Avis. Seit Mitte Oktober betreibt der US-Konzern nahe Phoenix die erste Flotte von Robotertaxen im Probebetrieb. Den Autoherstellern bleibt in diesem Geschäftsmodell nur die Hardware – aber auf der anderen Seite die Aussicht auf eine schnelle Einführung der neuen Technologie.
Die deutsche Autoindustrie will diese Abhängigkeit vermeiden. Und auch die aus ihrer Sicht vorschnellen Feldversuche mit vollautonomen Autos will man in München, Stuttgart und Wolfsburg so nicht wagen. Mit Schaudern verweist man auf den Unfall eines Tesla-Fahrers im Juni 2016, als das Auto im „Autopilot“-Modus einen kreuzenden Lastwagen übersah und einen tödlichen Zusammenstoß verursachte. Erst wenn jedes System durch ein anderes sicher kontrolliert werde, könne man mit der Technik sicher auf die Straße, heißt es.
Umso wichtiger ist es, die Datenbasis von Here schnell zu erweitern. „Mehr als zwanzig Autohersteller und Zulieferer setzen unsere HD-Karten in der Entwicklung ihrer automatisierten Fahrzeuge ein“, sagt Herrtwich. „Wir arbeiten daran, schon bald neue Partner aus der Automobilindustrie als Datenlieferanten und Nutzer für unsere Plattform zu gewinnen.“ Je offener das System, desto mehr Partner, desto besser die Qualität der Daten, lautet das Kalkül.
Aufgesprungen ist mittlerweile auch die IT-Industrie. Im Januar ist der Chipkonzern Intel mit 15 Prozent bei Here eingestiegen. Intel will mit großen Schritten in das Geschäft: Die Amerikaner haben im März bereits für 15,3 Milliarden Dollar Mobileye übernommen, das führende Softwareunternehmen für die Auswertung von Kamerasensoren. Gemeinsam sind beide Unternehmen Partner in einem von BMW angeführten Industriekonsortium, das bis 2021 das autonome Fahren in Serie bringen will.
Es geht um das Bilden großer Allianzen in globalem Maßstab. Während die USA und Europa ihre Märkte für Datendienstleistungen offen halten, ist China für westliche Kartendienstleister nach wie vor verschlossen. Gleichzeitig ist das Riesenreich der größte Automarkt und der größte Markt für Datendienstleistungen. Deshalb hätten Audi, BMW und Mercedes auch die Chinesen gerne an Bord. Doch den Einstieg des Kartendienstes Navinfo und des Internetkonzerns Tencent hat die US-Außenhandelsbehörde CFIUS im September abgelehnt.
„Wir kennen die genauen Gründe der Ablehnung nicht“, sagt Herrtwich. „Das Thema Karten war schon immer politisch“, sagt der Here-Manager. Tatsächlich dürfen westliche Anbieter bis heute keine Karten von chinesischen Städten anfertigen. Die Zusammenarbeit mit Tencent und Navinfo werde man trotzdem fortsetzen, auch um gemeinsame Standards zu entwickeln. Denn China ist bereits heute der größte Absatzmarkt der deutschen Autoindustrie und mit Sicherheit der größte Mobilitätsmarkt der Zukunft.
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eines ist bescheuert: PS-starke Autos wie Porsche, Audi-Abt oder Mercedes AMG autonom fahren lassen zu wollen und sich hinter einen 100PS-Golf oder Opel einzureihen. Und die PS-starken mit 200 bis 600 PS und mehr sind sehr gefragt (Image, möchtegern-Image und Protzgehabe). Die Fahrer solcher Autos werden sich nicht "einreihen" lassen sondern überholen um den nächsten Stau als erster zu erreichen.
Kann man das auch abstellen?