Autobauer im Visier der Staatsanwälte Gefangen in der Volkswagenburg

Ermittlungen gegen den Vorstandschef, ein US-Aufseher mit 50 Mitarbeitern in der Konzernzentrale: VW steckt fest im Schwitzkasten der Behörden. Die schleppende Aufklärung des Dieselskandals verzögert den Konzernumbau.
Matthias Müller kam mit hohen Ansprüchen. „Meine vordringlichste Aufgabe wird es sein, Vertrauen für den Volkswagen-Konzern zurückzugewinnen – durch schonungslose Aufklärung und maximale Transparenz, aber auch indem wir die richtigen Lehren aus der aktuellen Situation ziehen“, stellte er bei seinem Amtsantritt als Volkswagen-Chef klar. Es war der 25. September 2015. Der Skandal um manipulierte Abgaswerte bei Dieselautos war gerade eine Woche alt und hatte seinen Vorgänger Martin Winterkorn das Amt gekostet.
Müller, der langjährige Porsche-Chef, war gekommen als Aufräumer, der Vertrauen schafft, gegenüber den Kunden, Mitarbeitern, Aktionären und auch gegenüber den Ermittlern. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen den VW-Chef selbst. Es geht um den Verdacht, dass Müller Aktionäre von Volkswagens Muttergesellschaft Porsche SE verspätet über die finanziellen Folgen des Skandals informiert hat. Im Interview mit dem Handelsblatt weist Müller die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft Stuttgart zurück: „Ich habe mir persönlich nichts vorzuwerfen.“
Statt nach „schonungsloser Aufklärung“ und „maximaler Transparenz“ zu rufen, ist nun auch Müller notgedrungen in den Verteidigungsmodus gewechselt. Statt nach vorne zu schauen, ist er mit Schadensbegrenzung beschäftigt. Gegen drei von insgesamt neun aktiven Konzernvorständen laufen Ermittlungsverfahren. Gleich drei Staatsanwaltschaften in Deutschland beleuchten die verschiedenen Aspekte des Skandals. Der Konzern befindet sich fest im Griff des Staates.

Gegen den Volkswagen-Chef ermittelt die Staatsanwaltschaft Stuttgart.

Die Staatsanwaltschaft in Braunschweig hat den VW-Markenchef im Visier.

Gegen den VW-Aufsichtsratschef ermitteln die Staatsanwälte in Braunschweig und Stuttgart.
Dann der nächste Schlag: Volkswagen-Ingenieure sollen vor dem Dieselbetrug Winterkorn und Müller um Erlaubnis gebeten haben, die illegale Software einzusetzen, berichtet die „New York Times“. Interne E-Mails und Memos sollen das belegen. Müller war damals der Chef der Produktplanung. In einer Besprechung mit Müller und Winterkorn im Jahr 2007 sollen die Abschaltvorrichtung und der Betrug bei den Abgastests Thema gewesen sein. Allerdings sei der Plan bewusst subtil und verklausuliert vorgetragen worden, erfuhr das Handelsblatt aus Verteidigerkreisen. Womöglich eine Hintertür, damit sich Müller und Winterkorn auf den Standpunkt stellen können, die technischen Details nicht durchdrungen zu haben?
Ein Volkswagen-Sprecher weist die Vorwürfe zurück. Dem Konzern „sind die Dokumente, auf die sich dieser Artikel zu beziehen scheint, bekannt und sie stützen nicht den Rückschluss, dass Matthias Müller über die Bemühungen, eine Abschaltvorrichtung zu entwickeln und zu nutzen, wusste“, heißt es in einer Stellungnahme.
Der VW-Konzern, insbesondere die Zentrale in Wolfsburg, gleicht einer belagerten Wagenburg, in deren Mitte die Insassen immer neue Attacken abwehren. Die Angreifer da draußen sprechen von einem Dieselskandal, von Betrug, der noch lange nicht aufgeklärt ist. Innerhalb der Wagenburg weiß man höchstens um eine „Dieselthematik“, die sich zur „Dieselkrise“ auswuchs, hinter deren Aufarbeitung man endlich einen Haken machen will. Doch die da draußen lassen einfach nicht locker. Die Staatsanwälte glauben, noch lange nicht alles zu wissen über die Abgasaffäre, die seit eineinhalb Jahren das Unternehmen erschüttert. Der Konzern hatte über Jahre hinweg die Abgaswerte von Dieselautos mit einer speziellen Software gefälscht. Bis heute ist unklar, welche Topmanager wann von diesem Betrug gewusst haben könnten, ob die Aktionäre nach der Aufdeckung des Betrugs rechtzeitig informiert wurden und ob der Konzern mit den betroffenen Kunden halbwegs angemessen umgeht. Das Dauerkrisenmanagement bindet enorme Kräfte im Konzern. Im Gespräch mit dem Handelsblatt bringt Andreas Renschler, Chef der Lkw-Sparte, die Gefahr auf den Punkt: „Von einer Lähmung spüre ich hier nichts. Aber Sie haben recht: Wir müssen sehr genau darauf achten, dass wir uns mit den richtigen Themen beschäftigen.“
Gefahr der Lähmung
Rund 20 Milliarden Euro an Strafe und Entschädigung hat Volkswagen für den Dieselbetrug in den USA bereits bezahlen müssen. Auch in Brasilien, Südkorea und mehreren europäischen Staaten gehen Behörden gegen das Unternehmen vor. Nachdem die deutschen Ermittler lange Zeit gezögert haben, gerade im Vergleich zu ihren forschen US-Kollegen, wirkt es inzwischen fast so, als wollten sich die hiesigen Staatsanwälte auf keinen Fall mehr vorwerfen lassen, sie gingen zu lasch mit den Autobossen um.
Neben Müller wird auch gegen die Vorstandsmitlieder Herbert Diess und Karlheinz Blessing ermittelt. Ebenso gegen den Aufsichtsratsvorsitzenden Hans Dieter Pötsch, der beim Bekanntwerden des Dieselskandals im Vorstand für Finanzen verantwortlich war. Ermittlungen laufen auch gegen den früheren Konzernchef Martin Winterkorn und den ehemaligen Personalvorstand Horst Neumann.
Letzterer ist wie seine Nachfolger Blessing Ziel von Ermittlungen der Staatsanwaltschaft Braunschweig geworden, die zumindest auf den ersten Blick mit der Dieselaffäre nichts zu tun haben. Die Staatsanwälte untersuchen, ob Blessing und Neumann sich der Untreue zulasten von VW schuldig gemacht haben. Es geht um die üppige Entlohnung des VW-Betriebsratsvorsitzenden Bernd Osterloh. Doch indirekt trägt auch dieses Verfahren zum Lebensgefühl in der Wolfsburger Wagenburg bei: jeden Tag eine Attacke. Vor allem Blessing haben die Ermittlungen kalt erwischt. Als er Anfang vergangenen Jahres zu Volkswagen wechselte, waren die Gehälter längst ausgehandelt. Er hat lediglich Verträge unterschrieben. Während Neumann die Vorwürfe der Staatsanwaltschaft zurückgewiesen hat, schweigt Blessing dazu.
All die Ermittlungsverfahren fügen sich in der Wolfsburger Weltsicht zu einem düsteren Gesamtbild. „VW kämpft doch schon mit den Folgen der Dieselkrise und steckt mitten im Umbau“, klagt ein Manager. Die vielfältigen Ermittlungen verschärften die Situation. „Niemand kann doch wollen, dass das Unternehmen kaputtgeht.“
In der Tat, die Ermittlungen im Dieselskandal kommen für den Konzern zur Unzeit. Die Absatzerfolge, die Volkswagen in diesen Monaten feiern kann, basieren auf einem auslaufenden Geschäftsmodell: schwere Autos mit Verbrennungsmotor, durch geschicktes Marketing zum Statussymbol hochgejazzt und mit überzüchteten Dieselmotoren und allerlei Messtricks auf gerade noch akzeptable Verbrauchswerte heruntergedimmt. Das ist die Gegenwart, die schon bald Vergangenheit sein wird.
Der Automarkt ändert sich massiv. Hybrid- und Elektroantriebe ersetzen die reinen Verbrenner. Leichtbau und Batterietechnologie sind künftig wichtigere Kernkompetenzen als das Sounddesign beim Zwölfzylinder. Intelligente Carsharing-Systeme lassen das eigene Fahrzeug zumindest für Stadtbewohner verzichtbar werden. Autonomes Fahren macht das Auto zum rollenden Wohnzimmer, in dem sich der Begriff Fahrvergnügen künftig weniger in Kurvenlage oder Beschleunigung ausdrücken wird, sondern in der Qualität der Videoprogramme, die der Fahrer während der Fahrt schauen kann.
In vielen dieser Zukunftsfelder liegt Volkswagen zurück. Gegenüber neuen Wettbewerbern wie Tesla, aber auch gegenüber den deutschen Konkurrenten Daimler und BMW. Das Volkswagen-Management bräuchte jedes Quäntchen seiner Zeit und Energie, um die überfällige Aufholjagd voranzutreiben. Stattdessen schlägt man sich mit Ermittlungsverfahren herum. Die Belastung im Vorstand, vor allem durch die Dieselaffäre, ist hoch. „In der Woche kann ich nur noch sehr begrenzt am Familienleben teilnehmen, manchmal sehe ich meine Kinder leider tagelang nicht“, erzählt etwa Finanzvorstand Frank Witter.
Und so verharrt der Konzern im Belagerungszustand, angeführt von Männern, von denen sehr viele schon sehr lange im Dienste von VW stehen.
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