Bilanzcheck Reifengeschäft rettet Conti in der Krise – doch es braucht neue Gewinnbringer

Der Autozulieferer muss Milliarden investieren, um im Wandel der Industrie bestehen zu können.
Düsseldorf Continental ist nach einem schwierigen Jahr 2019 in ein noch schwierigeres gestolpert. Das Geschäftsjahr 2020 war geprägt von schlechten Zahlen, verschobenen Plänen, einem Aufstand der Arbeitnehmer und einem Chefwechsel. Am Ende rettete ausgerechnet das traditionelle Reifengeschäft noch halbwegs die Bilanz.
Als im Frühjahr pandemiebedingt die weltweite Autoproduktion ruhte, war die Nervosität in der Konzernzentrale in Hannover groß. Der Aktienkurs, zu Jahresbeginn noch bei 116 Euro, sackte im Frühjahr auf nur noch gut 54 Euro ab. „Der Einbruch des Geschäfts im zweiten Quartal war einmalig“, erinnert sich Continental-Finanzchef Wolfgang Schäfer im Gespräch mit dem Handelsblatt.
Die Krise traf Continental in einer fragilen Phase. Die Zulieferer stecken mitten in einer Disruption der Autoindustrie. Sie müssen ihr Verbrennergeschäft herunterfahren und in die Elektromobilität einsteigen. Mechanische Bauteile verlieren an Bedeutung, die Auto-Software gerät in den Mittelpunkt. Auch Continental muss den kompletten Konzern umbauen und Milliarden investieren, um in diesem Wandel der Industrie bestehen zu können.
Doch im Frühjahr 2020 war vor allem schnelle Reaktionsfähigkeit gefragt. Der Conti-Vorstand zog die Notbremse: Die Investitionen wurden stark gesenkt, die Lagerbestände abgebaut, das Sparprogramm – erst im September 2019 beschlossen – wurde nochmals verschärft. Der ehemalige Konzernchef Elmar Degenhart begründete die Maßnahmen mit den markigen Worten: „Cash ist King.“
Doch die „Cash-ist-King-Strategie“ hat Continental auch einiges an Ärger eingebrockt. Die Arbeitnehmer gingen auf die Straße, die Politik schaltete sich ein. CDU-Kanzlerkandidat Armin Laschet und SPD-Arbeitsminister Hubertus Heil kritisierten den Zulieferer öffentlichkeitswirksam. Als bekannt wurde, dass ein eigentlich profitables Reifenwerk in Aachen geschlossen wird, gingen die Mitarbeiter auf die Barrikaden. Der Druck, der auf dem Konzern lastete, machte auch Degenhart zu schaffen.
Der 61-Jährige musste gesundheitsbedingt die Reißleine ziehen. Ende Oktober zog er sich aus dem Vorstand zurück. Im Dezember wurde eine konzerninterne Vorstandslösung vom Aufsichtsrat abgesegnet. Der 49-jährige Nikolai Setzer, einst Chef der Reifensparte und zuletzt leitender Koordinator des 2019 angestoßenen Konzernumbaus, ist seit Anfang Dezember neuer Chef von Conti.
Er muss nun den Konzernumbau weg von der Mechanik hin zur Software bewältigen. Ein Blick in die Bilanz 2020 zeigt, dass er dabei noch auf ein sehr analoges Geschäft angewiesen ist: die Reifensparte.
1. Operative Lage: Zu hohe Kosten
Setzer hat von Degenhart ein Unternehmen geerbt, dessen strukturelle Probleme noch längst nicht behoben sind. Das Spar- und Restrukturierungsprogramm, das Degenhart 2019 eingeführt und im September des vergangenen Jahrs verschärft hat, ist noch nicht abgeschlossen. Bislang wurden 4500 Arbeitsplätze abgebaut, 1500 Mitarbeiter haben innerhalb des Unternehmens eine neue Stelle bekommen. Ziel des Sparprogramms ist die „Veränderung“ von weltweit 30.000 Arbeitsplätzen. Der Großteil dieser Arbeitsplätze dürfte abgebaut werden.
Die Maßnahmen sind nötig, weil Continental im Vergleich zur Konkurrenz unter zu hohen Kosten leidet. Das hat sich in der Coronakrise besonders bemerkbar gemacht. Während der Umsatz um über 15 Prozent von 44,5 auf 37,7 sank, vergrößerte sich der operative Verlust um fast 170 Prozent von 268 auf 718 Millionen Euro. Die Ebit-Marge, die mit minus 0,6 Prozent bereits im Vorjahr schwach war, sank weiter auf ein Minus von knapp zwei Prozent ab.
Das schwache Ergebnis von Continental verdeutlicht auch ein Ungleichgewicht in der Autoindustrie zwischen Autobauern und Zulieferern. Denn die Autobauer konnten auch trotz Corona deutliche Gewinne einfahren. BMW weist für 2020 einen Überschuss von fast vier Milliarden aus, Daimler über vier Milliarden, VW sogar knapp neun Milliarden Euro. Bei Conti stand dagegen unter dem Strich ein Verlust von fast einer Milliarde Euro.
2020 musste Conti dabei wie bereits 2019 Korrekturen auf seinen Goodwill vornehmen. Ein Goodwill entsteht, wenn Unternehmen Zukäufe tätigen und dabei, wie es bei Übernahmen häufig der Fall ist, deutliche Aufpreise auf den Buchwert der Anlagen zahlen. Die dabei zugrunde gelegten Erwartungen für die zukünftige Entwicklung haben sich nicht erfüllt.
Betroffen von der Abschreibung auf den Goodwill in Höhe von 654,6 Millionen Euro war die Automotive-Sparte Vehicle Networking and Information (VNI), in der Komponenten für den Fahrzeuginnenraum und Lösungen für die Fahrzeugvernetzung entwickelt werden. Dabei wurde der Bereich Komfort und Sicherheit, der unter anderem Zugangs- und Sitzsysteme produziert, innerhalb von VNI beinah komplett abgeschrieben.
Der neue Conti-Chef Setzer will daher die Strategie von Continental nachschärfen und deutlicher zwischen Wachstums- und Ertragsgeschäft unterscheiden. Zu den wichtigsten Geschäftsfeldern zählt für Setzer der Bereich für das automatisierte Fahren. Hier und in anderen Wachstumsfeldern will Setzer künftig die Investitionen bündeln.
2. Sparten: Reifengeschäft bleibt Ertragsgarant
Bislang nämlich ist das Kerngeschäft mit Fahrzeugkomponenten, Software und Sensorik – also der Großteil von Contis Wachstumsgeschäft – nach wie vor die Achillesferse der Unternehmens. In der Coronakrise haben sich hier die Defizite deutlicher denn je offenbart. Die Automotive-Sparte schafft es nicht, Gewinne aus dem eingesetzten Kapital zu generieren. Die Kapitalrendite lag im vergangenen Jahr bei minus 16,3 Prozent.
Dass die Automotive-Sparte kein Geld verdient, liegt vor allem an dem Segment VNI, das Verluste in Höhe von 1,3 Milliarden Euro eingefahren hat. Selbst wenn man die immateriellen Abschreibungen auf den Goodwill und sonstige Sondereffekte herausrechnet, bleibt am Ende ein Minus von 375 Millionen Euro stehen.
Schäfer erklärt das schwache Ergebnis mit der tiefen Disruption im Geschäft mit Bedienelementen- und Tachoanzeigen. „Continental hatte eine sehr starke Marktstellung bei analogen Tachoanzeigen. Deswegen ist die VNI-Sparte von Continental stärker vom digitalen Wandel betroffen als die Konkurrenz“, sagt der Finanzchef. Denn statt analoger Anzeigen und physischer Knöpfe werden in Autos immer häufiger Displays und berührungsempfindliche Bedienelemente verbaut.
Auch die zweite Automotive-Sparte, Autonomous Mobility and Solutions (AMS), hat 2020 Verluste in Höhe von fast 100 Millionen Euro geschrieben. Die Kapitalrendite lag bei minus 2,1 Prozent. Trotz der Verluste will Setzer die Investitionen in diesen Bereich erhöhen. 2021 investiert Conti zusätzlich 200 Millionen Euro in das automatisierte Fahren.
„Dass wir bei Automotive Technologies mehr für Forschung und Entwicklung aufwenden und höhere Investitionen tätigen als im Reifenbereich etwa, hat auch mit den Herausforderungen und den Produkten in dieser Sparte zu tun“, sagt Schäfer. Der Finanzchef betont aber gleichzeitig, dass auch das Reifen- und Industriegeschäft Kernbestandteile von Continental seien.
Kein Wunder. Denn das Geld für die Investitionen in das automatisierte Fahren kommt überwiegend aus dem sogenannten Ertragsgeschäft, das sich größtenteils aus der Reifen- und Industriesparte zusammensetzt. Vor allem das Reifengeschäft hat Continental vor einem noch schlechteren Jahresabschluss bewahrt.
Zwar musste auch das Traditionsgeschäft einen Umsatz- und Gewinnrückgang hinnehmen. In die Verlustzone rutschte die Reifensparte aber nicht. Das operative Ergebnis lag bei knapp 1,3 Milliarden Euro.
Die Antriebssparte, die in der zweiten Jahreshälfte unter dem Namen Vitesco von Continental abgespalten wird, hat in den vergangenen Jahren tiefrote Zahlen geschrieben. Immerhin fiel der Verlust mit 451 Millionen Euro niedriger als im Vorjahr aus. Powertrain profitiert von der Elektromobilität, die in verschiedenen Ländern mit staatlichen Kaufprämien incentiviert wird.
3. Cashflow: Starke Einschnitte bei Investitionen
Als im März 2020 weltweit die Autoproduktion wegen Corona stillgelegt werden musste, hat der Vorstand um Finanzchef Schäfer in einem ersten Schritt die Investitionen stark gesenkt. Im Geschäftsjahr 2020 wurde der Mittelabfluss aus Investitionstätigkeiten nahezu halbiert.
Die Einsparungen im operativen Geschäft waren nötig, da der Vorstand trotz Coronakrise auf eine Dividendenausschüttung nicht verzichtet hat. Es wurde lediglich eine Senkung der Dividende beschlossen. Statt 800 Millionen wurden 600 Millionen Euro an die Aktionäre ausbezahlt, wobei der Großteil an die von der Schaeffler-Familie geführte Holding INA abfloss, die 46 Prozent der Anteile von Continental besitzt.
Dass Conti am Ende mit einem Free Cashflow von knapp 880 Millionen Euro im Rahmen der Erwartungen für 2020 lag, verdankt der Zulieferer neben den drastischen Kürzungen bei den Investitionen auch der unerwartet starken Erholung des Automarkts, wie Finanzchef Schäfer erklärt.
4. Finanzkraft: Solide Eigenkapitalquote
Die Wertberichtigung im VNI-Segment sind zwar nicht Cashflow-relevant. Sie belastet aber Gewinn und Eigenkapital. Letzteres sank von 15,9 auf 12,3 Milliarden Euro, die Eigenkapitalquote von 37,3 auf 31,9 Prozent. Das ist zwar noch immer ein sehr solider Wert, doch die mittelfristige Entwicklung ist deutlich negativ. 2018 verfügte Continental noch über ein Eigenkapital in Höhe von 17,9 Milliarden Euro und eine entsprechende Quote von 45,3 Prozent.
Da gleichzeitig die Verschuldung im vergangenen Jahr auf 4,1 Milliarden Euro leicht gestiegen ist, nahm auch die Gearing Ratio, die das Verhältnis von Schulden und Eigenkapital darstellt, zu. 2020 erreichte sie einen Wert von 32,7. Zum Vergleich: 2018 hatte Conti eine Gearing Ratio von 9,1, 2019 lag der Wert bei 25,6. Finanzchef Schäfer hatte zur Vorlage der Jahreszahlen bereits darauf hingewiesen, dass er mit einem weiteren Anstieg der Gearing Ratio rechnet.
Insgesamt stehen Continental mehr als zehn Milliarden Euro Liquidität zur Verfügung. Rund acht Milliarden Euro resultieren aus nicht genutzten Kreditlinien und Anleihen. Zwei Milliarden Euro stehen als Barmittel zur Verfügung.
5. Konkurrenzvergleich: Bosch und ZF kommen besser durch die Krise
Der Vergleich der Ergebnisse der direkten Konkurrenten Bosch, ZF und Schaeffler belegt Contis zu hohe Kosten. Während Conti 718 Millionen Euro operativen Verlust machte, konnte ZF seine Verluste auf 211 Millionen Euro begrenzen, Schaeffler auf ein Minus von 143 Millionen Euro. Bosch fuhr im vergangenen Jahr sogar einen Gewinn von 1,6 Milliarden Euro ein.
Die Umsatzentwicklung der jeweiligen Zulieferer legt zudem nahe, dass Continentals Autogeschäft stärker als das von Bosch, ZF und Schaeffler vom europäischen Markt abhängig ist. Contis Umsatzrückgang lag bei über 15 Prozent, bei Schaeffler betrug das Minus 12,7, bei ZF 10,7 und bei Bosch nur 6,1 Prozent. „Ein niedrigerer Europa-Anteil wäre in der Coronakrise sicherlich hilfreich gewesen“, sagt Schäfer dazu.
Trotz der Verluste hält Conti aber im Gegensatz zu ZF an seinen hohen Ausgaben für Forschung und Entwicklung fest. Während der Dax-Zulieferer mit knapp 3,4 Milliarden Euro rund neun Prozent seines Umsatzes in die Entwicklungsbereiche investiert, beträgt die Quote bei ZF mit 2,5 Milliarden Euro nur 7,7 Prozent. Auch hinsichtlich der Investitionen in Sachanlagen liegt Continental trotz der deutlichen Einsparungen mit 1,8 Milliarden Euro über den 1,4 Milliarden Euro von ZF.
6. Ausblick: Abhängigkeit vom Reifengeschäft bleibt bestehen
Konzernchef Setzer krempelt die Konzernstrategie nicht komplett um. Der Degenhart-Nachfolger setzt den Kurs grundsätzlich fort, schärft aber einigen Stellen nach. Dazu zählen beispielsweise die zusätzlichen Investitionen in das automatisierte Fahren in Höhe von 200 Millionen Euro. Und: Unter Setzer wird erstmals seit zehn Jahren keine Dividende an die Aktionäre ausbezahlt. Im Vorjahr war der Dividendenverzicht offenbar noch nicht möglich – und das, obwohl Continental wegen der Coronakrise in den ersten sechs Monaten des Jahres arg in Mitleidenschaft gezogen wurde.
Neben den höheren Investitionen in das automatisierte Fahren will Continental auch den Anteil des Autogeschäfts am Gesamtumsatz senken. 2019 lag er bei 71 Prozent, im vergangenen Jahr bei 69 Prozent. „Unser langfristiges Ziel ist es, den Umsatzanteil des Erstausrüstungsgeschäfts mit Automobilherstellern am Gesamtumsatz auf unter 60 Prozent zu drücken“, sagt Schäfer.
Für 2021 rechnet Conti mit einem Umsatz zwischen 40,5 und 42,5 Milliarden Euro. Die bereinigte Ebit-Marge solle bis zu sechs Prozent betragen. An der starken Abhängigkeit vom Reifen- und Industriegeschäft wird sich nichts ändern. Während für die Rubber-Sparte mit einer Gewinnmarge zwischen 11,5 und 12,5 Prozent gerechnet wird, liegt die Prognose für die Automotive-Sparte bei mageren ein bis zwei Prozent.
Die Investoren scheinen dem neuen Continental-Chef dennoch einen Vertrauensvorschuss zu gewähren. Ende Dezember lag die Aktie mit 121,25 Euro über dem Kurs zu Jahresbeginn. Auf Jahressicht haben die Conti-Papiere über 70 Prozent zugelegt. Schäfer hat bereits angedeutet, dass das erste Quartal gut lief.
Am Freitag folgte die Pflichtmitteilung, dass Conti die Analystenerwartungen für das erste Quartal übertroffen hat. Bei einem Umsatz von 10,3 Milliarden Euro erreichte das Unternehmen eine Ebit-Marge von 8,1 Prozent. Analysten hatten im Schnitt mit einer Marge von 6,3 Prozent für das erste Quartal gerechnet.
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