Das Kartell Deutsche Autoindustrie in der Krise

Die meisten Diesel-Autos stoßen zu viel Stickoxid aus.
Düsseldorf/Frankfurt Der Vorwurf klingt unglaublich: Über mehrere Jahrzehnte soll sich ausgerechnet die Autobranche, die Vorzeigeindustrie der Deutschland AG, illegal über die Fahrzeugentwicklung, Kosten, Zulieferer und Märkte abgesprochen haben. Das Bundeskartellamt und die EU-Wettbewerbskommission prüfen entsprechende Hinweise. Audi, BMW, Daimler, Porsche und Volkswagen droht eine zweistellige Milliardenstrafe, sollten die Vorwürfe bestätigt werden.
VW hatte einem Bericht des „Spiegels“ zufolge bereits am 4. Juli 2016 Selbstanzeige beim Kartellamt eingereicht, Daimler offenbar kurz danach. VW-Aufsichtsratsmitglieder zeigten sich schockiert. Das Gremium sei nicht über die Selbstanzeige informiert gewesen. „Es muss sofort in der kommenden Woche eine außerordentliche Aufsichtsratssitzung geben“, teilte VW-Konzernbetriebsratschef und Aufsichtsratsmitglied Bernd Osterloh auf Anfrage mit. „Der Vorstand ist in der Pflicht, das Aufsichtsgremium umfassend zu informieren. Das ist bislang nicht geschehen“, beklagte er.
Bundeswirtschaftsministerin Brigitte Zypries (SPD) forderte die Autohersteller auf, mit staatlichen Stellen zu kooperieren und für Transparenz zu sorgen. Es gehe um die Glaubwürdigkeit der deutschen Automobilindustrie, sagte sie: „Die Zeit der Salamitaktik muss endgültig vorbei sein. Ohne umfassende Aufklärung kann Vertrauen nicht wiederhergestellt werden.“ Nach Informationen des Handelsblatts beschlagnahmte die Kommission bei den beteiligten Unternehmen bereits Unterlagen und befragte erste Zeugen.
Erhärten sich die Vorwürfe, müsste sich die Autoindustrie für das größte Kartell in der Nachkriegsgeschichte verantworten. Nach dem Dieselskandal wäre es ein weiterer Rückschlag für das Image der Branche. Die möglichen Strafen können die Autokonzerne empfindlich treffen. Allein die EU-Kommission kann Kartellstrafen von bis zu zehn Prozent der Jahreserlöse verhängen – in diesem Fall wären das rund 50 Milliarden Euro. Der Schadensersatz, den Geschädigte fordern, kann noch höher ausfallen.
Ein Horrorszenario für Investoren, die eine schnelle Aufklärung fordern. Denn es geht um ihr Geld, wie Michael Schmidt, Geschäftsführer von Deka Investment klarmacht: Die Kursverluste am Freitag hätten „gezeigt, dass allein schon die Vorwürfe vermögensrelevant für die Anleger sind“. Nach Bekanntwerden der Kartellvorwürfe waren die Aktien der beteiligten Autokonzerne jeweils um mehrere Prozentpunkte gefallen.
Journalisten drängten
Schweigen oder leugnen, mehr fiel den Vorzeigeunternehmen der deutschen Wirtschaft nicht ein. Immer drängender wurden die Fragen der Journalisten. Gerüchte verdichteten sich. Unterlagen legten nahe, dass die Dieselkrise nicht ein oder zwei Hersteller betraf, sondern fast alle. Geheime Treffen standen in den Terminkalendern. In Präsentationen wurden Absprachen auf Vorstandsebene erwähnt. Hatte sich die deutsche Autobranche zum Betrug verschworen?
Alles Unsinn, erklärten die Konzernsprecher. Dutzende von Unterhaltungen liefen immer gleich. Niemand spreche sich hier ab, versicherte ein Hersteller. Solche Aktionen seien gar nicht vorstellbar, sagte ein anderer. Schriftlich verschickten die Firmenrepräsentanten Stellungnahmen in staksigem Anwaltsdeutsch. Am Telefon tönte ein Sprecher gegenüber dem Handelsblatt: „Absprache in Sachen Abgasmanipulation? Auf welchem Trip seid ihr denn?“
Seit Freitag gilt die Frage umgekehrt. Das Nachrichtenmagazin „Spiegel“ berichtet von Selbstanzeigen mehrerer deutscher Fahrzeughersteller. Die Inhalte: verheerend. Mehr als zwei Jahrzehnte lang sollen Audi, BMW, Daimler, Porsche und Volkswagen bei vielen wettbewerbssensiblen Fragen Hand in Hand gearbeitet haben. 200 Mitarbeiter seien involviert, sortiert in 60 Arbeitskreisen. Treffen hätten teils in Räumen des Verbandes der Automobilindustrie (VDA) stattgefunden. Ein Desaster, das nicht mehr einzugrenzen wäre. Und über allem schwebt die Frage: Wie ist die Branche nur auf diesen „Trip“ gekommen?
Die Vorwürfe wiegen auch deshalb schwer, weil damit nicht nur Behörden und Kunden hintergangen worden wären, sondern auch Mitarbeiter und sogar Aufsichtsräte. „Ich war weder über die Arbeitskreise noch über die Selbstanzeige des VW-Konzerns informiert“, sagte ein Aufsichtsrat dem Handelsblatt. „Die Vorwürfe machen mich fassungslos. Sollten sie sich bewahrheiten, muss es personelle Konsequenzen geben.“ Der Aufseher will auf eine kurzfristige Vorstandssitzung dazu drängen.
Auch der Konzernbetriebsrat von VW fordert eine umgehende Krisensitzung. Er will, dass die Mitglieder des Aufsichtsrats sich schon in der kommenden Woche zu einer außerordentlichen Aufsichtsratssitzung treffen. „Der Vorstand ist in der Pflicht, das Aufsichtsgremium umfassend zu informieren. Das ist bislang nicht geschehen. Im Übrigen: Wir erwarten auch, dass sich der Vorstand gegenüber den Belegschaften erklärt. Hier schwindet das Vertrauen in die Unternehmensführung auch täglich mehr“, sagte ein Sprecher. Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) hatte bereits am Freitag Aufklärung verlangt. Auch er wusste nach eigenen Angaben nichts von den Vorwürfen und habe erst aus den Medien davon erfahren. Weil sitzt ebenfalls im VW-Aufsichtsrat.
Baden-Württemberg, Landkreis Böblingen, das Dörfchen Weissach, Porschestraße 911. Hier mag sie liegen, die Keimzelle des deutschen Dieselbetrugs. Halb auf dem Weg zwischen Stuttgart und Pforzheim, nebenan das Porsche-Testgelände, ganz in der Nähe die Ferdinand-Porsche-Schule. Es war an dieser Adresse, an der fünf deutsche Automobilhersteller ihre Aufgaben in Sachen Umweltauflagen gemeinsam lösen wollten. Im Porsche-Entwicklungszentrum Weissach richteten sie eine Firma ein. Ihr Name: Abgaszentrum der Automobilindustrie (ADA). Ihre Gesellschafter: Audi, BMW, Mercedes, Porsche und Volkswagen.
„Froh und glücklich“, sei er über dieses Projekt, sagte der baden-württembergische Ministerpräsident Erwin Teufel (CDU) am 19. Januar 1996. Wenn fünf Autohersteller sich gemeinsam für die Reinhaltung der Luft einsetzten, sei das eine super Sache. Zehn Millionen D-Mark pro Jahr brachten die Konzerne für das saubere Tüfteln auf. Da wollte sich auch das Land nicht lumpen lassen. Die Stuttgarter Landesregierung kündigte an, in den kommenden Jahren insgesamt 7,5 Millionen Mark dazuzugeben.
Was haben die Konzerne mit diesem Geld getan? Waren gar Steuermittel die Grundlage dafür, mit möglicherweise illegalen Methoden Umweltauflagen zu umgehen? Was waren das für Absprachen, die sie im Abgaszentrum trafen? Es sind bange Fragen, die sich nun auch Winfried Kretschmann stellen muss. Wo einst CDU-Mann Erwin Teufel saß, versucht sich heute Kretschmann im unbequemen Spagat. Der Kampf gegen Luftverschmutzung ist für den Grünen-Politiker eigentlich ein Heimspiel. Doch allein in Baden-Württemberg steht die Automobilwirtschaft mit den Ikonen Daimler und Porsche sowie zahllosen Zulieferern für mehr als 220.000 Arbeitsplätze und mehr als 100 Milliarden Euro Jahresumsatz.
Die Dimensionen des Problems könnten nicht größer sein. Zweifel an den hehren Absichten der Autokonzerne bei der Dieseltechnologie sind nicht neu, im Gegenteil: Der Verdacht einer Kartellbildung stammt schon aus der Geburtsstunde des gemeinschaftlichen Abgaszentrums.
Es war Wendelin Wiedeking, der den Anfang machte. Die Entscheidung sei gefallen, sagte der damals jüngste Autovorstand Deutschlands 1995 auf dem Autosalon in Genf. Audi, BMW, Mercedes, Porsche und Volkswagen hätten beschlossen, das Porsche-Entwicklungszentrum in Weissach zur „Drehscheibe der Abgasforschung der gesamten deutschen Autoindustrie“ zu machen. Es gäbe nur noch eine Sache zu klären: die Zustimmung des Bundeskartellamts.
Die war keinesfalls sicher. Einerseits betrachtete die Wettbewerbsbehörde derartige Kooperativen von Großkonzernen grundsätzlich kritisch. Wie sollte Wettbewerb entstehen, wenn die Autokonzerne ihre Entwickler für eine zukunftsträchtige Technologie alle in einem Raum versammelten? Und andererseits: Audi, BMW, Mercedes, Porsche und Volkswagen schlossen sich nicht nur zusammen. Sie schlossen auch Bewerber aus: Opel und Ford.
Als Tochter des US-Konzerns General Motors, argumentierte die Fünferbande, sei Opel nicht vertrauenswürdig. Ford sei ohnehin verdächtig. Forschungsergebnisse aus Weissach könnten einfach nach Detroit verschickt werden, das wolle man nicht. Opel beschwerte sich prompt bei der Kartellbehörde. Seit wann könne man sich in einer Marktwirtschaft aussuchen, mit wem man in Wettbewerb trete und mit wem nicht? Der internationale Entwicklungschef von General Motors, Peter Hanenberger, nannte die Ausgrenzung von Opel „ethisch fragwürdig“.
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@Herr Hake: Das Problem ist doch nicht, dass Absprachen zur Vereinheitlichung Komponenten gemacht werden und so billiger hergestellt werden können, wo es eh keinen Unterschied macht. Wenn man sich über Abgasstrategien einigt, weil die Entwicklung zu teuer ist, wenn es jeder einzeln macht, ist auch kein Problem. Wenn sich aber allesamt absprechen, wie man Gesetze umgehen kann, und diese Maßnahmen zusammen entwickelt - dann ist das ein Problem und gehört bestraft. Aus Eigeninteresse sollten in diesem Land diese Konzerne nicht mit gigantischen Strafen belegt werden - das bezahlen am Ende nur die Steuerzahler - aber Personell muss hier rigoros durchgegriffen werden. Es werden sich Beweise finden lassen, wo diese Dinge abgesegnet wurden und diese Menschen müssen dafür zur Verantwortung gezogen werden. Die Schadstoffausstöße sind kein Kavaliersdelikt, wo es nur um "böse EU-Vorgaben" geht - sondern um die Gesundheit aller Bürger.
Sehr geehrter Herr Votsmeier,
ich habe Verständnis dafür, dass Journalisten Ihre Leser unterhalten wollen. Aber welche Fakten liegen denn auf dem Tisch? Bei Lichte besehen nur die Selbstanzeigen. Den Inhalt der Absprachen kennen Sie nicht. Und wie die Absprachen rechtlich zu beurteilen sind, wissen Sie erst recht nicht.
Bei einem solch mageren Kenntnisstand verbietet es sich, wild darauf los zu spekulieren. "Gigantische Strafen" und eine "Krise der Autoindustrie" sind zwar durchaus möglich. Durchaus möglich ist auch ein Weltuntergang am 20. August. Aber bislang gibt es dafür keine Anhaltspunkte.
Bislang gibt es nur Ihre Spekulation.
Seit Jahrzehnten werden im Rahmen des VDA in Arbeitsgruppen der Hersteller Standards abgestimmt. Das Ziel war immer einheitliche Vorgaben für die Industrie und der Zulieferer zu schaffen. Das hat Jahrzehnte jeder gewußt und auch unterstützt. Es hat auch international Einfluss auf Qualität und Kosten gehabt, im positive Sinne. Nur durch einheitliche Standards lassen sich auch gute kostengünstige Produkte schaffen. Deshalb war die DIN Norm so erfolgreich. Das hat nichts mit Kartellen zu tun, sondern mit gesundem Menschenverstand. Die Autos der deutschen Hersteller weisen noch immer signifikante Unterschiede in Technik, Kosten, Design und Kundenanspruch auf. Auch der Wettbewerb ist da. Ich glaube man hat ein Thema für das Sommerloch gesucht und gefunden, um es weiter austreten zu können. Der Wahlkampf gibt ja nicht wirklich was her für die Medien. Der Drops ist gelutscht, also muss was Neues herhalten. Da kam das Thema gerade recht!