Euroimmun will Werk übernehmen Im Siemens-Werk in Görlitz ist der mögliche Retter nicht willkommen

Die Arbeitnehmer wollen bei Siemens bleiben.
Düsseldorf In den vergangenen Tagen präsentierte Siemens auf der Hannover Messe die schöne neue Welt. Internet der Dinge, digitale Fabrik, Automatisierung lauteten die Zauberworte.
Das sind die Zukunftsfelder. Doch sind die Probleme im traditionellen Geschäft mit der Energietechnik weiter groß – und ungelöst. Siemens ringt derzeit mit den Arbeitnehmervertretern um den geplanten Stellenabbau. Weltweit sollen 6.900 Jobs wegfallen. Symbolisch für die Auseinandersetzungen steht vor allem das Industriedampfturbinenwerk im strukturschwachen Görlitz. Das will Siemens laut bisherigen Ankündigungen ganz schließen.
Die Sondierungsverhandlungen über die Pläne mit den Arbeitnehmervertretern gehen gerade in die Endphase – ab Mai könnten die eigentlichen Verhandlungen beginnen. Doch in den Gesprächsreigen platzte nun die Nachricht, dass die Medizintechnik-Firma Euroimmun am Werk und den Mitarbeitern interessiert ist.
„Infolge eines kontinuierlich steigenden Bedarfs an vollautomatischen Analysegeräten und Mikroskopie-Automaten, die bei uns entwickelt und weltweit vertrieben werden, sind wir längst an Grenzen gestoßen“, sagte Euroimmun-Chef Winfried Stöcker dem Handelsblatt.
In Görlitz könnten Produktion und Montage von Geräten erfolgen, Entwicklungsprojekte betreut werden. Euroimmun habe nicht nur Interesse an den Gebäuden, sondern auch an dem Personal, das Siemens derzeit in Görlitz einsetze – Elektroniker, Konstrukteure, Informatiker und Fachkräfte der Montage zum Beispiel.
Er müsse erst einmal „hinter den Schleier“ schauen, sagte Stöcker, doch er könne sich vorstellen, dass die meisten Arbeitsplätze gerettet werden können. Diskutiert werde eine schrittweise Übernahme von Gebäuden und Personal über mehrere Jahre. „In dieser Zeit kann Siemens noch mehrere Projekte abwickeln oder ein eingeschränktes Produktspektrum weiter von Görlitz aus betreuen.“
Hauptsitz in Lübeck
Euroimmun stellt mit derzeit etwa 3.000 Mitarbeitern Reagenzien für die medizinische Labordiagnostik her. Der Hauptsitz ist in Lübeck. An den benachbarten Standorten Rennersdorf und Bernstadt sind Spritzguss und ein Teil der Metallbearbeitung beheimatet. Stöcker hatte sein Unternehmen, das einen dreistelligen Millionenbetrag Umsatz macht, im vergangenen Jahr für 1,2 Milliarden Euro an das Chemie- und Medizintechnikunternehmen Perkin Elmer verkauft.
Stöckers Vision klingt nach einer Zukunftsperspektive für das umkämpfte Görlitzer Werk. Doch bei den Arbeitnehmern ist man, gelinde gesagt, skeptisch. „Mir erschließt sich der Plan nicht“, sagte Jan Otto, Bevollmächtigter der IG Metall, dem Handelsblatt.
Stöcker habe bislang kein Konzept vorgelegt und nicht mit den Beteiligten gesprochen. „Auch der Landesregierung ist kein Konzept bekannt.“ Stöcker betont, man habe die Gespräche mit Siemens erst kürzlich aufgenommen. Die Betriebsleitung in Görlitz finde die Vorschläge interessant. „In der Zentrale wurden sie aber noch nicht registriert.“
Euroimmun habe mit der Besiedlung leer stehender Firmengebäude Übung, betont Stöcker. So habe man vor neun Jahren in Dassow bei Lübeck die Gebäude einer CD-Produktionsfirma übernommen. „Inzwischen arbeiten dort 700 hochqualifizierte Mitarbeiter.“ Für die Region habe sich die Insolvenz der Vorbetreiber „letztendlich sogar als Glücksfall erwiesen“.
Wenn Stöcker in der Region Arbeitsplätze schaffen wolle, sei er herzlich willkommen, sagt IG-Metaller Otto. „Dafür braucht er das Siemens-Werk nicht.“ Wenn, dann müsse er die von Siemens bezahlten Tariflöhne weiter bezahlen und müsse alle Beschäftigten übernehmen. „Außerdem ist unklar, ob die Gruppe ausreichend solvent wäre für ein solches Projekt.“ Für die IG Metall haben die Gespräche mit Siemens Priorität. „Industriedampfturbinen sind ein Zukunftsthema, und sie sind bei Siemens gut aufgehoben.“
Dass die Arbeitnehmervertreter ihre Zukunft bei Siemens sehen, dürfte auch an einem Versprechen von Konzernchef Joe Kaeser liegen. Der hatte zuletzt mehrmals betont, dass er die Beschäftigten in Görlitz nicht fallen lassen wolle. Auf der Hauptversammlung machte er erste Andeutungen, wie eine Lösung aussehen könne.
Die Fertigungsstätte könne eigenständiger werden und in einigen Jahren – womöglich unter Ausrichtung auf neue Zukunftstechnologien – in einem Industrieverbund aufgehen.
Aufmerksam registriert wurde von den Arbeitnehmern auch, dass Kaeser Anfang dieser Woche im Gespräch mit dem Handelsblatt die Bedeutung der sozialen Verantwortung von Unternehmen betonte. Zwar sagte er, niemand habe individuell einen bedingungslosen Anspruch auf einen Arbeitsplatz. Er fügte jedoch an: „Aber wir als Unternehmen haben die Verpflichtung, Jobs möglichst zu erhalten und neue zu schaffen.“
Allerdings haben sich die Probleme im Energiegeschäft in den vergangenen Monaten eher noch verschärft. Siemens und die Konkurrenten leiden vor allem darunter, dass der Markt für große Gasturbinen eingebrochen ist. In Zeiten der Energiewende sind dezentrale Lösungen und Erneuerbare gefragt. In Europa werden praktisch gar keine großen Gaskraftwerke mehr gebaut. „Da kommt man mit dem Sparen gar nicht hinterher“, heißt es in Industriekreisen. Im abgelaufenen Quartal, über das Siemens am 9. Mai berichtet, sei es mit der Kraftwerkssparte wohl weiter abwärts gegangen.
Bei den Industriedampfturbinen, die in Görlitz gefertigt werden, ist die Nachfrage zwar besser. Doch herrscht ein Preiskampf, und Görlitz gilt konzernintern als deutlich zu teuer. Insofern wird es, falls Görlitz doch eine Zukunft bei Siemens haben sollte, in jedem Fall zu einem signifikanten Stellenabbau in dem Werk kommen. Derzeit hat es etwa 800 Beschäftigte.
Arbeitnehmervertreter sehen kritisch, dass sich die gesamte öffentliche Aufmerksamkeit nur auf Görlitz konzentriert. Das Werk in Leipzig zum Beispiel soll verkauft werden. Die Verhandlungen mit einem Interessenten sind allerdings geplatzt. Sollte kein anderer Käufer gefunden werden, droht in Leipzig zusätzlicher Stellenabbau. Auch der Projektstandort Offenbach soll geschlossen werden, an vielen anderen Standorten sind kräftige Einschnitte geplant. Die IG Metall will daher bis zum Sommer ein Gesamtpaket aushandeln.
In den Sondierungen zeichnen sich laut Arbeitnehmerkreisen erste Lösungsansätze ab, über die ab Mai verhandelt werden könnte. „Es gibt aber noch nichts Spruchreifes.“ Ein Siemens-Sprecher sagte, man tausche sich in einem engen Dialog mit den Arbeitnehmern über die Zukunftsfragen aus. Zu Details äußere sich Siemens derzeit nicht.
Euroimmun-Chef Stöcker kann die Chancen seines Vorstoßes schwer abschätzen. „Normalerweise würde man sagen, die Chancen sind hoch, weil alle profitieren.“ Doch müsse man dazu erst einmal auf dem Radar der Geschäftsleitung auftauchen.
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