Exklusivumfrage „Sie haben es nicht verstanden!“ – Einkaufsprofis fordern neue Strategie bei der Impfstoffbeschaffung

Vaccination against COVID-19 in Sao Paulo. INT Vaccination against COVID-19 in Sao Paulo. April 16, 2021, Sao Paulo, Brazil: The vaccination of people against COVID-19 at UBS Cambuci. The 2nd dose of the Chinese vaccines CoronaVac and AstraZeneca were used during the vaccination process. Credit: Fepesil/Thenews2 Vaccination against COVID-19 in Sao Paulo. PUBLICATIONxNOTxINxUSA Copyright: xFepesilx
Düsseldorf Geöffnete Biergärten und Geschäfte, gut besuchte Außenbereiche von Cafés und Restaurants: Derzeit richten sich mitunter neidische Blicke aus Deutschland nach Israel und Großbritannien – zwei Länder, die unter anderem dank großer Fortschritte beim Impfen in den Corona-Lockerungsmodus gehen.
In Deutschland und anderen EU-Ländern sind die Impfungen nur schleppend angelaufen. Experten führen dies auch auf Fehler bei der zentralen Beschaffung der Impfstoffe durch die EU-Kommission im vergangenen Jahr zurück.
Was dabei aus Sicht von professionellen Einkäufern falsch gelaufen ist und künftig besser gemacht werden sollte, zeigt eine aktuelle Umfrage unter 40 Einkaufsvorständen großer deutscher Unternehmen, die dem Handelsblatt vorliegt.
Die EU-Kommission habe zentrale Erkenntnisse aus dem professionellen Einkauf missachtet, kritisieren die Beschaffungsexperten. Befragt hat sie Jacek Drozak, der gut vernetzte Gründer und CEO der auf Einkauf spezialisierten Beratungsgesellschaft Drozak Consulting. Schon die Herangehensweise an die Verhandlungen mit den Herstellern sei falsch gewesen, lautet der Tenor.
So hätte die EU bei den Verhandlungen zu stark auf den Preis für den Impfstoff und zu wenig auf die Gesamtkosten der Pandemie geschaut. „Dadurch ist die Verbindung zwischen Impfstoffpreis, möglichen Haftungsschadenssummen und wirtschaftlichen Auswirkungen missachtet worden“, meint etwa der Einkaufschef eines Pharmakonzerns. So etwas dürfe bei einem Thema dieser Tragweite nicht passieren.
Versorgungssicherheit muss erstes Ziel sein
Das vorrangige Ziel der Politik hätte die größtmögliche und schnellstmögliche Versorgungssicherheit der Bevölkerung sein müssen – und nicht ein geringer Preis. „Sie haben es nicht verstanden! Die Impfstoffkosten sind irrelevant, da sie unter den Kosten von nur einer Woche der Pandemie liegen“, merkt der Chefeinkäufer eines deutschen Technologieunternehmens an.
Eine einfache Rechnung unterstreicht dies aus Sicht der Experten: Die EU-Kommission hat im Herbst 2020 in einem Rahmenvertrag zunächst 300 Millionen Dosen des Impfstoffs von Biontech gekauft. Die USA hatten sich schon Monate zuvor größere Mengen des Herstellers gesichert.
Zu welchem Preis nach wochenlangen Verhandlungen an die EU geliefert wurde, ist nicht bekannt. Nimmt man die im Raum stehenden 16 bis 20 Euro pro Dosis an, hat die EU bis zu sechs Milliarden Euro bezahlt. Ein Kleckerbetrag im Vergleich zu den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Kosten: Die liegen Berechnungen zufolge bei 50 Milliarden Euro – pro Monat.
Der Fokus auf den Preis ist aus Sicht von Einkäufern ein oft gemachter Fehler bei Verhandlungen. Bei den Corona-Impfstoffen gilt dies umso mehr: „Wir leben in einer Krisenzeit, in der es auf die Versorgungssicherheit ankommt“, unterstreicht Beschaffungsexperte Drozak.
Zum Zeitpunkt der Gespräche 2020 ist Biontech in einer Art Monopolstellung gewesen. Medizinische Studien zeigten, dass deren Impfstoff wohl am schnellsten zugelassen wird und auf den Markt kommt. Israel etwa habe nicht lange gezögert, sondern einen vordergründig überteuerten Preis von rund 23 Euro pro Dosis bezahlt. Inzwischen ist weit mehr als die Hälfte der Bevölkerung bereits zweifach geimpft.
Die befragten Einkaufsvorstände machen konkrete Vorschläge, was die EU und andere Staaten bei der Beschaffung besser machen können. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat bereits angekündigt, dass für die Impfkampagne in den Jahren 2022 und 2023 in der EU rund zwei Milliarden Dosen benötigt werden.
Dass es bei diesem Einkauf zu Änderungen kommen muss, ist den Akteuren klar. EU-Kommissionsvize Frans Timmermans hat jüngst Fehler von Kommission und der Mitgliedstaaten bei der Beschaffung im vorigen Jahr eingeräumt.
Ein Fehler sei die knappe finanzielle Ausstattung des EU-Haushalts für europäische Gesundheitsgüter, kritisiert Friedrich Heinemann, Experte für Öffentliche Finanzwirtschaft beim Wirtschaftsforschungsinstitut ZEW. „Die viel zu große Zögerlichkeit in der Bestellpolitik im letzten Sommer ist durch eine geringe EU-Kostenbeteiligung mitverursacht worden“, sagt er. Es habe nur wenig Geld für die Vorfinanzierung der Impfstoffanbieter als Soforthilfe zur Verfügung gestanden.
Ein Chefeinkäufer für die EU
Aus Sicht der von Drozak Consulting befragten Einkaufsvorstände sollte die Kommission das 2020er-Verfahren zum Impfstoffeinkauf komplett offenlegen. Dann könnten durch ein Audit sämtliche Schwachstellen aufgedeckt werden. „Lernen aus den Fehlern der Vergangenheit muss das Motto sein“, meint der Einkaufsleiter eines Baukonzerns. Eine derartige Transparenz wird die Kommission aber kaum zulassen, das wissen die Experten selbst.
Deswegen sollte bei der kommenden Impfstoffbeschaffung zumindest der Rat von Einkaufsexperten eingeholt werden. „In der Regel besteht eine riesige Diskrepanz zwischen selbst wahrgenommener und tatsächlich vorhandener Einkaufskompetenz“, kritisiert der Einkaufschef eines mittelständischen Mobility-Unternehmens. Grundlage für die EU-Beschaffung müssten moderne, von Profis gemachte Standards sein – und nicht die bürokratischen Regeln der öffentlichen Ausschreibungen aller EU-Mitglieder.
Die Einkaufsvorstände sehen ihre Verbesserungsvorschläge nicht nur mit Blick auf Impfstoffe, sondern die gesamte öffentliche Beschaffung durch die EU. Sie raten zum Aufbau einer professionellen, verhandlungsfähigen Organisation mit einem EU-Einkaufschef an der Spitze. Je nach Produkt sollten ihm wechselnde Experten aus der Praxis zur Seite gestellt werden.
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Ich kann den Profis aus der Wirtschaft nur beipflichten !!! Geiz und Kleinkariertheit waren schon immer schlechte Berater. In jedem Fall aber bei einem Problem solcher Dimension. Mal sehen, ob es in Politik und Bürokratie eine Lernkurve gibt? Wir haben in diesem Land so viele kluge und weitsichtige Köpfe, die viele Themen mit hoher Professionalität abarbeiten und zu unser aller Wohl erledigen könnten und dieses sicher auch gerne machen würden (siehe unsere Hausärzte). Stattdessen wurschtelt sich unsere Politik etwas zusammen, dass man nur noch den Kopf schütteln kann.
Das bringt das Problem mal auf den Punkt. Fast alle politischen Entscheidungsprozesse waren zu 80% von der Bewertung rechtlicher Risiken geleitet und nur am Rande von den Zielen, die erreicht werden sollen. Die Beschaffung eines Impfstoffes darf kein politischer Prozess sein, und muß sich an den Zielen orientieren, nicht an der politischen Karriere der handelnden Personen. Es zeigt wieder einmal, dass es bestimmte Prozesse gibt, die eine staatliche Verwaltung, und insbesondere eine,, die nach den disfunktionalen Regeln der EU arbeitet, einfach nicht kann.
Klasse Artikel. Endlich wird das Thema mal klar angesprochen - Pflichtlektüre.
Das ist ein super Artikel - den müßte man gratis in jeden Haushalt senden, sonst wackeln Politiker mit keinem Ohr.