Hannover Messe Zehn Jahre Industrie 4.0: So stark hat sich die Branche in der letzten Dekade digitalisiert

Der Industriekonzern Bosch hat in Stuttgart-Feuerbach eine Modellfabrik für die Hannover Messe aufgebaut.
München/Düsseldorf Als der Industriekonzern Bosch vor drei Jahren auf der Hannover Messe seine Vision für die Fabrik der Zukunft präsentieren wollte, behalfen sich die Verantwortlichen mit sogenannten Avataren: Hübsch gestaltete Figuren tanzten auf dem Messestand hin und her. Sie sollten die Elemente der flexiblen Fertigung der Zukunft symbolisieren.
Aus den Avataren sind mittlerweile reale Produkte geworden: In einer leeren Montagehalle in Stuttgart-Feuerbach hat Bosch sie für die diesjährige Hannover Messe ausgestellt, die pandemiebedingt nur als digitale Veranstaltung stattfindet. Unter realen Bedingungen produzieren dort Roboter, autonome Flurfahrzeuge und andere Maschinen echte Batteriekästen.
Menschen sucht man auf dem teilweise leuchtenden Fabrikboden, über den die mobilen Maschinen per Induktion mit Strom versorgt werden, über weite Strecken vergeblich. Nur an einer Station steht ein Werker, der komplexe Kleinteile montiert. Seine Handgriffe werden von einem Computerbildschirm geleitet. So sieht sie also aus: die Fabrikarbeit der Zukunft.
Wenn am Montag die Hannover Messe beginnt, feiert die Vision der voll vernetzten Industrieproduktion ihr zehnjähriges Jubiläum. 2011 stellten deutsche Forscher und Informatiker erstmals das Zukunftskonzept „Industrie 4.0“ vor: An die Stelle der linearen Fließbandproduktion treten modulare Fertigungskonzepte. Alle Maschinen werden miteinander vernetzt – und organisieren sich selbst über digitale Plattformen, auf denen zahlreiche Datenströme zusammenlaufen.
In der vergangenen Dekade arbeiteten Firmen wie Bosch, Siemens und ABB daran, diese Vision zur Wirklichkeit werden zu lassen. Und das mit Erfolg, wie Cedrik Neike, Vorstandsmitglied bei Siemens und zuständig für die Industrietechnik, im Gespräch mit dem Handelsblatt resümiert. Fast alle deutschen Kunden hätten begriffen, dass „sie in ein neues Zeitalter der Technologien und der Geschäftsmodelle kommen“, so der Manager. Dabei seien insbesondere die Automobil- und die Luftfahrtbranche in den vergangenen Jahren mit großem Enthusiasmus vorangeschritten. Auch die Pharmabranche habe „einen Riesensprung nach vorn“ gemacht.
Es sind Industrien, in denen deutsche Unternehmen im internationalen Vergleich überproportional vertreten sind. Und so wundert es nicht, dass Deutschland nicht nur führend in der Entwicklung, sondern auch in der Anwendung von Industrie-4.0-Technologien ist.
Laut einer noch unveröffentlichten Studie der Strategieberatung Boston Consulting Group, die dem Handelsblatt exklusiv vorliegt, haben mittlerweile 88 Prozent der deutschen Industrieunternehmen mindestens eine entsprechende Anwendung in ihren Fertigungsnetzwerken implementiert.
Drei verschiedene Ansätze
Höher ist der Anteil nur in China, wo das für 90 Prozent der Firmen gilt. Dabei setzen die Unternehmen regional auf unterschiedliche Ansätze: Während etwa bei deutschen Anwendern mehrheitlich Kostensenkungen im Vordergrund stehen (73 Prozent), erhofft sich die US-Industrie resilientere Produktionsprozesse (66 Prozent). 98 Prozent der chinesischen Unternehmen hingegen wollen mithilfe von Industrie 4.0 vor allem nachhaltiger werden.
Gemein ist allen drei Ansätzen: Um günstiger, resilienter und nachhaltiger zu werden, muss die Fertigung flexibel sein. „Die Zukunft der Fertigung liegt darin, hochwertige Produkte in möglichst kleinen Stückzahlen hochindividualisiert herzustellen“, fasst der für die Industrietechnik zuständige Bosch-Geschäftsführer Rolf Najork zusammen.
Dabei komme es künftig weniger auf den Faktor Personalkosten an, sondern vor allem auf Technologien, die die Anpassungsfähigkeit erhöhen. „Nur die Fabrikhalle steht fest – alles andere darin muss beweglich und vernetzt sein, um kurzfristige Veränderungen zu ermöglichen“, so der Manager.
Für die Vernetzung der Maschinen über das Internet der Dinge („IoT“) ist die Industrie auf neue Partner angewiesen. Denn um Fabriken intelligent zu machen, braucht es Netzwerke und Server, „Product Lifecycle Management“ und maschinelles Lernen. Ob Microsoft, Amazon Web Services (AWS) oder Google – ob SAP, Oracle oder Servicenow: Seit der Erfindung des Konzepts Industrie 4.0 hat die Telekommunikations- und IT-Branche ihre Präsenz auf der Hannover Messe stetig gesteigert.

Die Elektrotechnik-Fabrik gilt als Leuchtturmprojekt.
Dabei entwickeln sich die neuen Partner immer häufiger auch zu Konkurrenten – mit Produkten, die über das klassische Cloud-Geschäft als Infrastruktur-Dienstleistung hinausgehen: So hat beispielsweise AWS im Vorfeld der Messe angekündigt, dass nun ein Dienst namens „Lookout for Equipment“ für alle Cloud-Kunden von AWS verfügbar sei. Unternehmen sollen damit ihre Maschinen ohne großen Installationsaufwand vorausschauend warten können.
Das System wertet Daten automatisch aus, um anhand von Anomalien beispielsweise bei Temperatur, Druck oder Stromversorgung mögliche Defekte vorherzusagen. Ähnliche Produkte gibt es auch von den Maschinenbauern selbst – sowie von Industriekonzernen wie Siemens oder Bosch, die eigene Softwareplattformen entwickelt haben, auf denen die Daten aus den Produktionsprozessen gesammelt und analysiert werden können.
„Seit Jahren wird über Predictive Maintenance geredet, aber nur wenige Unternehmen machen es – es ist ein technisch anspruchsvolles Thema“, sagt Constantin Gonzalez, der bei AWS mit Kunden an solchen Themen arbeitet. Es brauche Sensoren und eine Netzwerkverbindung, die richtigen Algorithmen sowie die Feinabstimmung. Industrie 4.0 bietet dem Cloud-Spezialisten damit eine große Chance.
Das Beispiel zeigt aber auch: Das Verhältnis zwischen Industrie und IT-Branche wird derzeit neu austariert. Einerseits arbeitet AWS bei der Vermarktung mit Anbietern wie Siemens Energy zusammen, das damit die Überwachung seiner Anlagen erleichtern will. Andererseits begibt sich die Amazon-Tochter in ein Geschäft, in dem auch deutsche Fabrikausrüster Ambitionen haben.

Die Cloud-Konzerne stoßen immer tiefer in das Geschäftsmodell der klassischen Industrieausrüster vor.
„Die Industrie hat eine sehr starke Fertigungskompetenz“, sagt AWS-Manager Gonzalez, „unser Job ist es, den Kunden zu ermöglichen, sich darauf zu konzentrieren.“ Siemens-Manager Neike betont mit Blick auf die Softwarekonzerne: „Wir sind Partner und Kunden – und manchmal auch Wettbewerber.“
Boom durch Corona
Für einen Boom bei Industrie-4.0-Technologien hat nicht zuletzt die Coronakrise gesorgt: Fast über Nacht mussten zahlreiche Fabriken in weiten Teilen der Welt schließen, um die Verbreitung des Virus einzudämmen. Das hat zu Unterbrechungen in den Lieferketten geführt, auf die die meisten Unternehmen nicht vorbereitet waren.
„Corona beschleunigt die Verbreitung von Industrie 4.0“, lautet daher die Einschätzung von Neike. Die Unternehmen, die schon weit vorn seien, hätten ihre Produktion während des Lockdowns weitgehend aufrechterhalten können. „Die anderen haben erkannt: Jetzt muss ich rein, sonst habe ich einen Wettbewerbsnachteil.“
Auch andere Experten beobachten, dass die Unternehmen bei der Digitalisierung mittlerweile ein deutlich höheres Tempo an den Tag legen. „Sowohl in Europa als auch in den USA digitalisierten und automatisierten Unternehmen ihre Prozesse und Geschäftsmodelle während der Pandemie bis zu 20- bis 25-mal schneller, als sie das vor der Pandemie für möglich gehalten hatten“, so Niko Mohr, Partner bei McKinsey. „Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig operative Flexibilität ist, um das
Produktionsvolumen bei Bedarf rasch zu ändern beziehungsweise mit entsprechender Distanz die Produktionen am Laufen zu halten.“
Dabei hätten die meisten Fortschritte bislang vor allem große Firmen mit hoher Profitabilität gemacht, so Mohr. Diese Unternehmen seien bereits vor der Krise führend gewesen und hätten viel mehr Geld in Innovation, Automatisierung und Digitalisierung gesteckt. „Sollte sich dieses Ungleichgewicht bestätigen und anhalten, könnte sich eine große Kluft zwischen den führenden und weniger gut positionierten Unternehmen noch vergrößern.“
Mehr: Neue Maschinensteuerung: Bosch will das Smartphone-Prinzip in die Fabrik bringen.
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