Hohe Nachfrage, steigende Preise Die Stahlindustrie ist in Gewinnlaune – doch das verdeckt tieferliegende Probleme

Die Stahlindustrie profitiert von der anziehenden Nachfrage in vielen Kundenindustrien.
Düsseldorf, Frankfurt Die Stahlindustrie meldet sich mit satten Gewinnen aus der Coronakrise zurück: Nachdem die Branche im vergangenen Jahr wegen der Pandemie unter einem Nachfrageeinbruch litt, profitierten die Stahlhersteller in Europa in den ersten drei Monaten des Jahres wieder von einem kräftigen Aufschwung in der Wirtschaft, der die Preise auf Rekordniveau hochschnellen ließ.
Allein Thyssen-Krupp erzielte in seiner Stahlsparte in den ersten drei Monaten des Jahres einen bereinigten Betriebsgewinn vor Steuern und Zinsen (Ebit) von 47 Millionen Euro (ohne Restrukturierungskosten).
Am Dienstag legte Vorstandschefin Martina Merz die Zahlen für das zweite Quartal des Geschäftsjahres 2020/21 vor – und erklärte: „Wir haben im zweiten Quartal weiter Boden gutgemacht.“ Dabei habe auch die Erholung in vielen Abnehmermärkten geholfen.
Doch die gute Stimmung verdeckt die tieferliegenden Probleme der Branche. Denn auch, wenn sich die Kunden wegen der angespannten Versorgungslage derzeit um den Stahl reißen: In normalen Zeiten leidet die Branche unter hohen Überkapazitäten, die das Preisniveau langfristig drücken. Hinzu kommt der notwendige Wandel zur klimaneutralen Produktion, der in den kommenden Jahrzehnten Milliarden an Investitionsgeldern verschlingen dürfte.
Gleich mehrere Unternehmen hatten vor der Pandemie deshalb ihr Heil in Fusionen gesucht, doch waren damit aus unterschiedlichen Gründen gescheitert. So wollte beispielsweise der britisch-niederländische Stahlhersteller Tata Steel Europe seine niederländischen Werke an den schwedischen Konkurrenten SSAB abtreten – doch der sprang wegen der hohen zu erwartenden Belastungen durch den Klimaschutz ab.
Auch Thyssen-Krupp wollte sich im vergangenen Jahr wegen hoher Verluste von seinem Stahlgeschäft trennen. Doch Interessenten gab es keine, mit Ausnahme des britischen Stahlherstellers Liberty Steel. Der kam wegen eines als zu gering empfundenen Angebots nicht zum Zug – und schlitterte schließlich fast in die Zahlungsunfähigkeit, nachdem dessen wichtigster Geldgeber, der australische Lieferkettenfinanzierer Greensill, wegen fragwürdiger Geschäfte Insolvenz anmelden musste.
Die Situation ist verfahren: Einerseits verschafft die anziehende Nachfrage den Stahlherstellern nun ausreichend Luft, um sich für die von vielen Beobachtern erwartete Konsolidierung neu zu sortieren. Andererseits sind mögliche Konstellationen dafür nicht abzusehen. Doch die Unternehmen bringen sich in Position. Ein Überblick:
1. Thyssen-Krupp

Der Industriekonzern will seine Stahlsparte verselbstständigen.
Mit einer Produktion von rund zehn Millionen Tonnen Rohstahl ist der Ruhrkonzern der größte Stahlhersteller des Landes. Doch Vorstandschefin Martina Merz arbeitet daran, die Stahlsparte zu verselbstständigen – mit der Option, das Geschäft später an die Börse zu bringen, als eigenständiges Tochterunternehmen weiterzuführen oder mit einem Konkurrenten zu fusionieren.
Dabei stehen die Chancen für einen Börsengang im Moment nicht schlecht, wie Ingo Martin Schachel, Analyst bei der Commerzbank, erklärt: „Wir haben in den vergangenen Monaten starke Kursanstiege bei den Stahlherstellern gesehen, die Branche ist bei Anlegern derzeit gefragt.“ Davon könne Thyssen-Krupp profitieren, wenn sich die Entwicklung der vergangenen Wochen stabilisiert.
Doch es bleiben Hürden: So fordert die IG Metall mehrere Milliarden Euro als Mitgift für den Fall, dass die Stahlsparte aus dem Restkonzern herausgelöst und sich künftig selbst finanzieren muss. Hintergrund sind unter anderem die milliardenschweren Pensionsverpflichtungen, die auf der Sparte liegen und die das Ergebnis jedes Jahr mit einem dreistelligen Millionenbetrag belasten.
In Konzernkreisen hieß es, es herrsche kein Druck bei der Verselbstständigung des Geschäfts. Sollte es tatsächlich zu einem Börsengang kommen, sei dieser frühestens im kommenden Jahr zu erwarten. „Richtung Herbst 2022“, wie es hieß. Aktuell liegt der Fokus der Führungsriege um Spartenchef Bernhard Osburg auf der Restrukturierung: Tausende Stellen werden abgebaut, gleichzeitig sollen bis 2026 insgesamt 800 Millionen Euro in die Modernisierung der Anlagen gesteckt werden.
2. Salzgitter

Der niedersächsische Stahlhersteller betont seine Eigenständigkeit.
Bloß keine Fusion mit Thyssen-Krupp – das war über viele Jahre das Mantra von Heinz Jörg Fuhrmann, der den niedersächsischen Stahlhersteller Salzgitter seit mehr als zehn Jahren als Vorstandschef leitet. Erst im März bekräftigte der Manager seine Ablehnung. „Ich habe höchste Achtung vor dem, was das aktuelle Thyssen-Krupp-Management mit Martina Merz an der Spitze leistet“, sagte Fuhrmann da in einem Interview mit dem „Spiegel“: „Unsere Bereitschaft aber, uns der Federführung anderer zu überantworten, ist nicht gerade überschäumend. Ich bitte da um Nachsicht.“
Im Juni wird Fuhrmann sein Amt aus Altersgründen an den bisherigen Vattenfall-Manager Gunnar Groebler abgeben, der bei dem schwedischen Energieversorger den Geschäftsbereich Windkraft leitet. Dass sich die Haltung bei Salzgitter dadurch ändert, ist allerdings nicht zu erwarten. So hat sich das Land Niedersachsen mit Ministerpräsident Stephan Weil (SPD), das mit 26,5 Prozent das größte Aktienpaket hält, in der Vergangenheit ebenfalls gegen eine Fusion mit Thyssen-Krupp ausgesprochen. Ein Grund dafür ist ein tief sitzendes Misstrauen gegen die größten Aktionäre, die Krupp-Stiftung und den Finanzinvestor Cevian.
Doch die Idee einer „Deutschen Stahl-AG“ lebt weiter – vor allem in den Köpfen der Arbeitnehmer von Thyssen-Krupp, die darin einen möglichen nächsten Schritt nach einer Verselbstständigung der Stahlsparte sehen. Zwar wäre bei einem Zusammenschluss mit einem umfangreichen Stellenabbau zu rechnen. Doch bliebe das fusionierte Unternehmen in deutscher Hand – und würde damit weiterhin der deutschen Montanmitbestimmung unterliegen.
Für Salzgitter allerdings wäre eine solche Konstellation wenig attraktiv, weil die Niedersachsen dabei wohl ihre Selbstständigkeit weitgehend aufgeben müssten. Und das ohne größere Not – denn im Gegensatz zu Thyssen-Krupp ist die Finanzlage bei Salzgitter weitgehend stabil, auch dank einer rund 30-prozentigen Beteiligung am Hamburger Kupferhersteller Aurubis, die allein deutlich mehr als die Hälfte der gesamten Salzgitter-Bewertung ausmacht.
3. Tata Steel Europe

Der britisch-niederländische Stahlhersteller spaltet sich auf – und vergrößert seinen Spielraum für Konsolidierungsschritte.
Seit Jahren schon sucht der indische Eigentümer Tata Steel nach einer Lösung für seine defizitären Aktivitäten in Europa. Erst sollte das Geschäft mit Thyssen-Krupp, dann teilweise mit dem schwedischen Konkurrenten SSAB fusioniert werden. Keiner der beiden Pläne war von Erfolg gekrönt: Der erste Vorstoß scheiterte letztlich am Unwillen von Thyssen-Krupp, der zweite an den Herausforderungen durch die Dekarbonisierung.
Von allen Stahlunternehmen in Europa steckt Tata wohl am tiefsten in der Krise: Neben den hohen Überkapazitäten in Europa macht dem Unternehmen der Brexit zu schaffen, der in Großbritannien zu einem heftigen Einbruch der Industrieproduktion geführt hat. Doch schon vorher galten die britischen Werke als Sorgenkinder des Konzerns – während die niederländischen Standorte zu den wettbewerbsfähigsten in Europa zählen.
Tata-Steel-Europe-Chef Henrik Adam will den Stahlhersteller in ein niederländisches und ein britisches Unternehmen aufteilen. Ursprünglich sollte dabei der niederländische Teil an den schwedischen Konkurrenten SSAB verkauft werden, doch die Schweden sprangen kurzfristig ab. Den bisherigen Plan verfolgt Adam aber weiter – wohl auch, um sich für die erwartete Konsolidierung bereit zu machen.
Dabei wäre auch ein zweiter Anlauf mit Thyssen-Krupp denkbar. Die Euphorie über eine solche Idee ist bei Tata indes verhalten. Der indische Familienkonzern hat kein Vertrauen in die Entscheidungsebenen von Thyssen-Krupp, da eine Absage der Fusion nicht nötig gewesen wäre, wie es in Kreisen von Tata heißt. Durch Zugeständnisse hätten die Partner eine Zustimmung der EU-Kartellbehörden erhalten können.
4. Arcelor-Mittal

Der weltgrößte Stahlhersteller der Welt hat das vergangene Quartal mit glänzenden Zahlen abgeschlossen.
Nach dem Führungswechsel Anfang des Jahres steht der größte Stahlhersteller der Welt so gut da wie lange nicht: In der vergangenen Woche vermeldete der neue Vorstandsvorsitzende Aditya Mittal den niedrigsten Schuldenstand seit der Fusion von Arcelor und Mittal im Jahr 2007. Zwischen Januar und März schrieb der Konzern einen Betriebsgewinn vor Steuern, Zinsen und Abschreibungen (Ebitda) von 2,6 Milliarden US-Dollar – und damit den höchsten Quartalsüberschuss seit mehr als zehn Jahren.
Dabei geholfen haben dürfte auch die Unterstützung des italienischen Staats, der sich für gut eine Milliarde Euro zu 60 Prozent an einem Stahlwerk in Tarent beteiligt hat, um einen groß angelegten Arbeitsplatzabbau in der Stahlregion zu verhindern. Das Werk Ilva war 2018 vom italienischen Staat an Arcelor-Mittal verkauft worden, nachdem sich die Vorbesitzer vor Gericht wegen jahrelanger Umweltvergehen verantworten mussten.
Doch die Hoffnungen, die der Konzern in den neuen Standort setzte, haben sich bislang nicht materialisiert. Immer wieder drohte Arcelor damit, sich wieder aus der Region zurückzuziehen, bis sich die Regierung in Rom schließlich bereit erklärte, einen Teil des Risikos durch einen Staatseinstieg zu übernehmen. Insgesamt sind 10.700 Arbeiter in dem Werk beschäftigt. Von den ursprünglich angepeilten fünf Millionen Tonnen pro Jahr soll Ilva nun nur noch 3,5 Millionen Tonnen Rohstahl produzieren.
Für Arcelor-Mittal könnte der Staatseinstieg wieder neue Optionen für eine Teilnahme an der Konsolidierung eröffnen. Denn um das Werk zu übernehmen, musste sich der Konzern aus wettbewerbsrechtlichen Gründen von einigen Aktivitäten in Osteuropa trennen, die schließlich an den britischen Stahlhersteller Liberty Steel verkauft wurden. Durch den Einstieg Italiens hat sich die Marktdominanz von Arcelor-Mittal wieder verringert.
5. Liberty Steel

Der britische Newcomer leidet nach der Insolvenz seines Financier Lex Greensill unter Schwierigkeiten.
Der indisch-britische Geschäftsmann Sanjeev Gupta galt lange als Retter defizitärer Stahlwerke – und kaufte über Jahre alle Standorte in Europa auf, die die etablierten Hersteller nicht mehr profitabel betreiben konnten. Gemessen an der Produktionsmenge stieg Guptas Liberty Steel so zu einem der größten Hersteller in Europa auf. Doch nach dem Zusammenbruch des australischen Lieferkettenfinanzierers Greensill steht das junge Imperium auf wackligen Füßen.
Denn Greensill war jenes Institut, das den aggressiven Expansionskurs von Liberty maßgeblich finanzierte. Mittlerweile erstreckt sich Guptas Reich von ehemaligen Tata-Werken in Großbritannien über Standorte in Frankreich, Australien, Tschechien, Rumänien und den USA. Doch dass es in dieser Form bestehen bleibt, ist unwahrscheinlich. Denn Gupta muss seine Finanzierung möglichst schnell auf neue Beine stellen, um nicht selbst in die Insolvenz zu geraten.
Mit Hochdruck arbeitet die Konzernführung daher nun daran, die unprofitablen Geschäftsbereiche zu schließen und sich auf die Gewinnbringer zu fokussieren. Dazu zählen neben den Aktivitäten in Australien auch die Werke in Rumänien und Tschechien, die Liberty von Arcelor-Mittal übernommen hatte.
So oder so dürfte Liberty aber als aktiver Konsolidierer auf absehbare Zeit ausfallen, da die bisherige Finanzierungsquelle für die Expansion mit dem Niedergang von Greensill versiegt ist. Eher dürfte sich Liberty noch von einigen Werken trennen.
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