Industrie 4.0 Autonome mobile Roboter stehen vor dem Durchbruch in der Industrie

Das Münchener Unternehmen entwickelt mobile Roboter, aber auch die Software, um diese zu steuern und in die Logistik- und Fertigungsprozesse einzubinden.
München Autonome Transportroboter für die Industrie galten vor einigen Jahren als großer Hoffnungsträger für die weltweite Robotikindustrie. Schließlich ist gerade die Intralogistik in den Fabrikhallen noch deutlich weniger automatisiert als die Fertigung. Doch so recht durchgesetzt haben sich die mobilen Roboter bislang noch nicht.
Doch nun halten Experten den Durchbruch für möglich: „Ein ganz entscheidender Punkt ist, dass sich die Produktionsstruktur derzeit ändert, vor allem in der Automobilindustrie: von festen Produktionslinien hin zu einer flexiblen Struktur, die auf dem Einsatz mobiler autonomer Roboter basiert“, sagt Susanne Bieller, Generalsekretärin der International Federation of Robotics (IFR).
Der Branchenverband erwartet einen regelrechten Boom. Schon im vergangenen Jahr sei der Absatz mobiler autonomer Roboter für die Logistik in der Industrie und im Versandhandel um 42 Prozent auf 75.000 verkaufte Einheiten gestiegen. Bieller glaubt, dass solche Wachstumsraten weiterhin möglich sind. Bis 2023 könnte der Absatz IFR-Prognosen zufolge auf 259.000 steigen.
Dass der Durchbruch auf breiter Front bislang noch ausgeblieben ist, hat nach Einschätzung von Experten mehrere Gründe. So wird für wirkliche Autonomie viel Rechenleistung benötigt, auch bei der Sensorik gab es noch Nachholbedarf. Hier sind die Preise gesunken, während die Leistungsfähigkeit gestiegen ist.
Zudem waren und sind die unterschiedlichen Systeme oft nicht miteinander kompatibel. Hier werden in der Industrie gerade einheitliche Schnittstellen entwickelt.
Vor allem aber sind die mobilen Roboter bislang kaum wirklich in die Prozesse eingebunden. Wenn zum Beispiel ein Mensch die Maschine be- und wieder entladen muss, ist nur wenig Produktivität gewonnen. Bislang seien Einzelprozesse in der Fertigung stark automatisiert, sagt Fabian Rusitschka, Gründer des Start-ups Arculus. „Doch die Verkettung der Einzelschritte funktioniert nicht.“ Entscheidend sei es, den Produktions- und den Logistikfluss im gleichen System zusammenzuführen.
Modulare Fertigung soll Fließbandsystem ersetzen
Arculus ist angetreten, genau das zu tun. Das Münchener Unternehmen entwickelt mobile Roboter, aber auch die Software, um diese zu steuern und in die Logistik- und Fertigungsprozesse einzubinden. Mit Audi hat das Unternehmen bereits einen wichtigen Pilotkunden in der Automobilindustrie gewonnen.
Im Kern geht es Rusitschka und Arculus vor allem darum, das Fließbandsystem durch das Modell einer modularen Fertigung abzulösen. Die Montage soll an Inseln in der Fabrikhalle erfolgen, die von autonomen Robotern mit den benötigten Teilen versorgt werden. Das soll die Effektivität verbessern. An der Sitzungsheizungsinsel kommen nur die Fahrzeuge vorbei, die auch wirklich eine Sitzheizung eingebaut bekommen. Ein weiterer Vorteil: Wenn es irgendwo hakt, muss nicht gleich das gesamte Band angehalten werden.

Der Gründer will das Fließband in der Industrie abschaffen. Mit einem modularen Fertigungssystem könne die Produktivität deutlich gesteigert werden.
Bei interessierten Industriekunden simuliert Arculus die Fertigung mithilfe eines digitalen Zwillings und entwickelt ein Modell für eine modulare Produktion. „Wir haben bislang immer mindestens 20 Prozent Produktivitätsverbesserung gefunden“, sagt Rusitschka. Er sei zuversichtlich, dass das auch bei weiteren Projekten gelinge.
Ursprünglich hatte sich Arculus auf die Software konzentrieren wollen, aber schnell bemerkt, dass die Anbindung an eigene Roboter einfacher ist. Die Lösungen funktionieren aber auch mit Robotern anderer Hersteller. Gemeinsam lässt sich ein neuer Markt in der Regel leichter entwickeln.
Die über lange Jahre erfolgsverwöhnte Robotikbranche kann neue Impulse gut gebrauchen. Im vergangenen Jahr sank der Absatz von Industrierobotern laut Branchenverband IFR erstmals seit sieben Jahren um zwölf Prozent auf 373.000 verkaufte Maschinen.
Die Coronakrise könnte die Automatisierung auf längere Sicht zwar vorantreiben, doch hielten sich die wichtigen Kunden aus der Auto- und der Elektronikindustrie zwischenzeitlich mit Investitionen zurück.
Dieser Stau dürfte sich rasch auflösen. Die Autohersteller sind permanent gezwungen, die Produktivität zu verbessern. Gleichzeitig steigt die Komplexität in der Produktion. Zudem wächst durch die neuen Elektroautos die Vielfalt der Produktpalette nochmals. Die Zeiten, in denen auf einer Linie eine große Stückzahl identischer Modelle produziert werden konnte, sind vorbei – zumal auch die Individualisierung durch den Einbau margenstarker Sonderausstattungen steigt.
Da können Roboter in der Produktion helfen – auch wenn Rusitschka betont: „Es geht nicht um eine Vollautomatisierung.“ Viele Dinge in der Montage könne der Mensch noch immer am besten. Doch müsse ihm alles Überflüssige drumherum abgenommen werden. „Es sollte nicht der Mensch zum Regal laufen. Das Regal muss zum Mitarbeiter kommen, wenn ein Teil benötigt wird.“
Erfahrungen aus der Autoindustrie lassen sich auf andere Branchen übertragen
Da sind dann die autonomen mobilen Roboter gefragt. Der Markt der Hersteller ist immer noch sehr fragmentiert. Eine starke Position dürfte Amazon haben – doch der Versandhändler baut nur für den Eigenbedarf.
Einer der großen Vorreiter der Branche ist Mobile Industrial Robots (MIR). Die dänische Teradyne-Tochter steigerte allein im vergangenen Jahr die Zahl der Mitarbeiter von 60 auf 160. MIR werde trotz Corona auch 2020 wachsen, sagte der neue Vorstandschef Søren Nielsen. Die Roboter könnten den Industrien weltweit helfen, die Umsatzverluste durch eine Verbesserung der Produktivität wieder wettzumachen.
Die gesamte Industrie ist zuversichtlich. Autonome mobile Roboter seien anfangs vor allem im Versandhandel eingesetzt worden, sagt Susanne Bieller, Generalsekretärin des Branchenverbands IFR. Durch die Digitalisierung der Produktion seien sie heute aber auch Teil der Fabrik der Zukunft.
Dabei können Leuchtturmprojekte wie bei Audi in einem ungarischen Werk helfen. Autonome Transportfahrzeuge und die intelligente Steuerung kommen hier unter anderem auf Logistikflächen zum Einsatz, auf denen Mitarbeiter Bauteile in der richtigen Reihenfolge vorkonfektionieren.
„Wir sind sehr zufrieden, wie die Umstellung bei Audi gelaufen ist“, sagt Rusitschka. Das System funktioniere sieben Tage die Woche. Die Umstellung sei immer heikel. „Wenn irgendwas schiefgeht, steht die gesamte Produktion still.“ Audi sei als Pilotprojekt eine große Chance für Arculus gewesen. „Nun öffnen wir uns für weitere Kunden innerhalb und außerhalb der Automobilindustrie.“
Die nötige Finanzkraft dafür ist vorhanden. Anfang des Jahres hatte Arculus rechtzeitig vor Ausbruch der Corona-Pandemie 16 Millionen Euro eingesammelt. Daran beteiligten sich als Lead-Investor Atomico, der deutsche Visionaries Club und La Famiglia sowie erfolgreiche Gründer wie Johannes Reck von GetYourGuide.
„Das modulare Produktionssystem von Arculus hat alle Voraussetzungen, die traditionelle und eindimensionale Fließbandfertigung zu transformieren“, sagte Atomico-Partner Siraj Khaliq dem Handelsblatt. Arculus habe „eine einzigartige Chance, einen riesigen Markt zu transformieren“. Allein in der Autoindustrie könnten weltweit durch die Nutzung von modularer Produktion rund 90 Milliarden Dollar an Kosten eingespart werden. Atomico ist die Venture-Capital-Firma des Skype-Gründers Niklas Zennstöm.
Nun soll die Idee von der modularen Produktion mit Unterstützung mobiler Roboter breit ausgerollt werden. Denn, freut sich Gründer Rusitschka: „Das Tolle ist, dass sich die Erfahrungen aus der Automobilindustrie einfach auf andere Branchen übertragen lassen.“
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