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Interview Einkaufsberater Gerd Kerkhoff: „Wir sind mitten in einer Schockstarre“

Der Beschaffungsexperte sieht in den Versorgungsengpässen eine Gefahr für viele Branchen. Sorgen macht ihm auch die wachsende Macht Chinas bei Rohstoffen.
02.08.2021 - 18:02 Uhr Kommentieren
Der Unternehmensberater ist Gründer der Kerkhoff Group und Autor mehrerer Bücher zum Thema Einkauf. Quelle: Christian Köster/Kerkhoff group
Gerd Kerkhoff

Der Unternehmensberater ist Gründer der Kerkhoff Group und Autor mehrerer Bücher zum Thema Einkauf.

(Foto: Christian Köster/Kerkhoff group)

München Der renommierte Einkaufsberater Gerd Kerkhoff sieht in den aktuellen Engpässen bei Rohstoffen eine große Gefahr für die deutsche Wirtschaft. „Das ist die größte Wachstumsbremse des Landes. Und auch die bedeutendste Insolvenzgefahr“, sagt der Unternehmensberater und Buchautor im Interview mit dem Handelsblatt.

Besonders betroffen seien kleine Autozulieferer, die von den großen Herstellern unter Druck gesetzt werden, sowie der Maschinenbau. Niemand investiere in neue Anlagen, solange die Rohstofflage unsicher sei. „Wir sind in einer Schockstarre“, sagt Kerkhoff. Generell sei jedoch jede Branche von der „Rohstoff-Misere“ betroffen.

Aktuelle Daten des Ifo-Instituts bestätigen diese Einschätzung: Demnach klagten im Juli fast zwei Drittel der deutschen Industriebetriebe über Engpässe und Probleme bei Vorlieferungen. Vor der Corona-Pandemie lag der Spitzenwert bei 20,2 Prozent im dritten Quartal 2018.

Mit Besorgnis sieht Kerkhoff auch die wachsende Bedeutung von China auf dem Rohstoffmarkt. „Von 24 wichtigen Rohstoffen kommen 17 aus China.“ Diese würden von Peking aber für die Inlandsproduktion verplant. „Internationale Firmen schauen in die Röhre“, sagt Kerkhoff

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Herr Kerkhoff, seit Wochen redet die deutsche Wirtschaft über Probleme mit Rohstoffen. Der Einkauf von Produkten läuft in Firmen nicht mehr rund. Goldene Zeiten für bekannte Einkaufsberater wie Sie?
Der Rohstoffmangel und Beschaffungsprobleme bei einzelnen Produkten führen dazu, dass der Einkauf auf einmal im Fokus steht. Also steigt auch die Nachfrage nach unserem Know-how. Jede Branche ist von der Rohstoff-Misere betroffen.

Der Einkauf war das Mauerblümchen der Wirtschaft. Wichtig, aber nicht sexy. Das ist jetzt vorbei?
Der Einkauf wird weiter an Bedeutung gewinnen. Im Mittelstand war das Ressort lange Zeit dem Finanzchef zugeordnet. Bald jedoch dürften hier viele Einkaufschefs aufgrund der neuen Lage in die Geschäftsführung aufrücken. Jetzt geht es nicht mehr darum, günstige Preise auszuhandeln – sondern Versorgungssicherheit herzustellen.

Die war zuletzt oft nur zu höheren Preisen erreichbar. Holz zum Beispiel wurde um knapp 90 Prozent teurer. Stimmt es, dass sich an dieser Front eine Beruhigung abzeichnet?
Es gibt immer Situationen, wo die Nachfrage absackt oder neue Kapazitäten hinzukommen. Beim Holz ist allerdings festzustellen, dass wir hier in Deutschland mehr denn je Bäume fällen und derzeit nach China exportieren. Die Chinesen zahlen hierfür jeden Preis. Sie sagen sich: Wenn wir Holz bekommen, können wir wie geplant die Endprodukte herstellen – und die anderen nicht. Dann setzt das einstige Billiglohnland am Ende höhere Verkaufspreise durch.

Klingt nach einer Episode im internationalen Wirtschaftskrieg.
Es gibt geostrategische Momente. Von 24 wichtigen Rohstoffen kommen 17 aus China. Die werden von Peking aber für die Inlandsproduktion verplant, die Inlandsnachfrage soll ja stark wachsen. Internationale Firmen schauen in die Röhre. Im Endeffekt wird die westliche Marktwirtschaft durch solche Politiken künstlich begrenzt.

„Das ganze System ist durcheinander“

Wäre es eine aktuell vordringliche industriepolitische Aufgabe Europas, sich selbst um den Zugang zu Schlüsselrohstoffen zu kümmern?
Europa hat überhaupt nicht richtig mitbekommen, wie sich China diese Ressourcen über Verträge gesichert hat, etwa in Afrika. Rohstoffhoheit ist das klare Ziel der Volksrepublik. Aus chinesischer Sicht ist das ein gigantischer Schritt hin zur absoluten Wirtschaftsmacht. Durch Corona haben wir das hoffentlich alle noch rechtzeitig bemerkt.

Wenn Sie recht haben, werden sich Marktanteile gewaltig verändern.
Das ganze System ist durcheinander. Der Ursprung liegt in der Corona-Pandemie. Da gab es plötzlich einen Nachfragestopp, Kapazitäten wurden gedrosselt. Es braucht nun zwei Jahre, um die Werke wieder voll am Laufen zu haben.

Zudem hat sich, bedingt durch Corona, das Konsumverhalten der Menschen geändert. Sie konnten nicht mehr reisen, sondern haben sich schöne neue Küchen, Möbel oder Autos bestellt. Das veränderte die Produktionsstruktur. Und dann hatten sich die USA und China konjunkturell auch noch schnell wieder erholt. Das Ergebnis bei uns: Mangel an Rohstoffen, an Zwischenprodukten wie Halbleiter und an Endprodukten.

Die Lebensmittelbranche dürfte zum Beispiel nicht betroffen sein, Fleisch gibt es genug.
Ja, aber Sie brauchen Kunststoff zum Verpacken des Fleisches. Und der ist auch knapp. Und Sie dürfen nicht vergessen, dass Corona-Profiteure wie Amazon enorme Frachtkapazitäten auf dem Weltmarkt für sich gebucht haben. Für Container sind bis zu 500 Prozent Preisaufschlag fällig.

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Neben Pandemie und Wirtschaftskriegen wirken sich auch Naturkatastrophen negativ auf den Welthandel aus. Eine toxische Mischung.
Ich glaube, wir müssen von einem neuen Öko-Beschaffungssystem sprechen. Nötig ist ein „Wargaming“, um so zu verstehen, von welchen Materialen man wie abhängig sind. Dementsprechend müssen Firmen bestimmte Lieferanten besonders pflegen. Zum Wargaming gehört es auch zu simulieren, wie gefährdet einzelne Werke durch Unwetter sind. Wir müssen uns besser auf Extreme einstellen.

Mit den herkömmlichen Jahresgesprächen von Firmen mit Lieferanten hat das jedenfalls nichts mehr zu tun.
Nein. Diese Gespräche hatten einzig die Aufgabe, Preisnachlässe von zwei bis 2,5 Prozent zu bringen. Jetzt geht es um viel mehr. Entscheidend ist künftig auch, dank einer digitalen Infrastruktur jederzeit alle Daten über den Kauf und Verbrauch von Rohstoffen abrufen zu können. Die Lieferketten sind derzeit noch nicht sehr transparent.

Welche aktuellen Klagen hören Sie aus den Unternehmen?
Viele rufen an und fragen: „Können Sie Halbleiter besorgen?“ Da können wir nicht helfen, das Produkt ist einfach nicht mehr verfügbar. Wir sind ja nicht David Copperfield. Die erste Frage ist immer: Lassen sich aus dem Liefervertrag Ansprüche gegen den Lieferanten ableiten? Und: Hilft eine enge Partnerschaft, um fairere Preismodelle zu erreichen?

Sind die Einkaufsabteilungen schon genügend auf die neuen Herausforderungen vorbereitet?
Sie haben sich zu Recherchebereichen und Callcentern entwickelt. Und wenn man am Ende genügend alternative Lieferanten gefunden hat, muss man auch in Kontakt mit ihnen bleiben.

Rohstoffknappheit als größte Wachstumsbremse

Viele Firmen haben in der Vergangenheit für einzelne Produkte mit einem großen Lieferanten abgeschlossen, um bessere Konditionen zu erhalten. Ein tragfähiges Modell?
Dieses „Single Sourcing“ ist jetzt infrage gestellt. Wir haben Kunden, die sich komplett von einer Adresse in China beliefern ließen. Die wollen aber jetzt nach Osteuropa ausweichen. Da müssen Sie zum einen nicht mehr bangen, ob die Ware durch den Suezkanal auch wirklich durchkommt.

In diesem Fall zeigte sich aber auch, dass die Patente und das Werkzeug dem chinesischen Partner gehören. Solche Probleme hatte ich inzwischen einige Male auf dem Tisch. Die alten Zeiten sind vorbei, als die Chinesen verlässlich zu niedrigen Preisen produzierten und die Margen stimmten. Man war geistig ja fast miteinander verheiratet.

Aktuell setzt die Rohstoffknappheit der Industrie am stärksten zu. Was sind die Hauptgefahren?
Das ist die größte Wachstumsbremse des Landes. Und auch die bedeutendste Insolvenzgefahr. Deutliche erhöhte Bezugspreise gefährden die Liquidität, wenn man selbst bei den eigenen Kunden kaum höhere Preise durchsetzen kann. Die große Frage ist: Wer überlebt das?

In der Automobilbranche gibt es 80 kleine, spezialisierte Zulieferer von Zulieferern, die extrem gefährdet sind. Die Autokonzerne geben den Druck von oben nach unten weiter. Fehlt ihnen nur ein Teil, kommt das Fahrzeug nicht vom Band. Auch der Maschinenbau leidet derzeit stark. Niemand investiert in teure Anlagen, solange die Rohstofflage unsicher ist. Wir sind in einer Schockstarre.

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Ist nicht auch das Just-in-time-System an ein Ende gekommen? Also erst dann zu produzieren, wenn bestellt ist? Das bringt zwar die Kosten maximal nach unten, aber bei geringsten Störungen reißt die Lieferkette.
Wer risikoanfällige Produkte hat, muss ein Lager für drei bis sechs Monate vorhalten. Das alte System trägt da nicht mehr. Man kann sich auf asiatische Quellen nicht mehr hundertprozentig verlassen. Die deutsche Industrie wurde von der Zäsur komplett überrascht.

Die meisten Einkaufsmanager sehen eine Entspannung ihres Geschäfts Ende 2022. Sie auch?
Das kann ich unterschreiben. Zum einen wurden neue Produktionskapazitäten aufgebaut, zum anderen wird sich positiv auswirken, wenn die Menschen wieder frei reisen können. Der Cocooning-Effekt läuft aus.

Herr Kerkhoff, vielen Dank für das Interview.

Mehr: Industriekonzerne kämpfen mit Lieferproblemen – Engpässe werden zum Wachstumshemmnis

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