Klagen im Dieselskandal Bastion Braunschweig fällt: VW drohen weitere dreistellige Millionenkosten
Düsseldorf Deutsche Gerichtssäle waren für Juristen von Volkswagen in den vergangenen Jahren ein hartes Pflaster. Immer mehr Kunden klagten im Dieselskandal auf Schadensersatz, weil die Motoren des Wolfsburger Autobauers im Straßenverkehr mehr Abgase ausstießen als angepriesen.
Die Richter fanden dafür scharfe Worte: „Bewusste Täuschung“, „planmäßige Verschleierung“, „arglistiges Verschweigen“ und „vorsätzlich sittenwidrige Schädigung“ waren nur einige der Ausdrücke, mit denen sie den Umgang des Volkswagen-Konzerns mit seinen Kunden beschrieben.
An einem Ort in Deutschland klang das anders. Der Dieselskandal, so hieß es in dieser juristischen Volkswagen-Oase, war eigentlich gar kein Skandal. Obwohl sich Volkswagen in den USA schon mit Milliarden von Schadensersatzansprüchen freikaufen musste. Obwohl Manager dort bereits wegen Betrugs in Haft sitzen. Obwohl deutsche Staatsanwaltschaften ihre Anklageschriften gegen VW-Verantwortliche mittlerweile halb fertig geschrieben haben.
Die Richter am Landgericht und am Oberlandesgericht Braunschweig konnten keinen Schaden ausmachen. Logisch also, dass es deshalb keinen Anspruch auf Schadensersatz gab. Beide Gerichte liegen in Braunschweig, rund 40 Kilometer entfernt von Wolfsburg, der Weltzentrale von Volkswagen. Der Autokonzern ist hier größter Arbeitgeber, größter Steuerzahler. Wenn Volkswagen hustet, sagt der Volksmund, hat Niedersachsen Grippe.
440 Kilometer weiter entfernt, in Karlsruhe, liegt der Bundesgerichtshof. Fast ein Jahr beschäftigte sich das höchste deutsche Zivilgericht mit einer Revision des VW-Konzerns im größten deutschen Industrieskandal. Die Wolfsburger wollten eine Schlappe vor dem Oberlandesgericht Koblenz nicht hinnehmen. Am 25. Mai 2020 machten die Richter die Niederlage endgültig – und bestätigten damit, was viele Kunden längst wussten: Volkswagen hatte ihnen schadhafte Autos verkauft. Sie haben einen Schadensersatzanspruch.
In der Urteilsbegründung lassen die Karlsruher Richter kein gutes Haar an Volkswagen. Das Verhalten des Autobauers sei sittenwidrig gewesen. Die Beklagte habe „systematisch und über Jahre hinweg aus reinem Gewinnstreben die Arglosigkeit der Kunden planmäßig ausgenutzt und sich dabei das Vertrauen der Verbraucher in das bei dem Kraftfahrt-Bundesamt zu durchlaufende Genehmigungsverfahren zunutze gemacht“. Das Bestreben des Einzelnen zum Schutz der Umwelt sei durch eine gezielte Täuschung unterlaufen worden.
Noch 3600 offene Klagen am Landgericht
Das Argument von Volkswagen, die Manipulation sei das Werk einzelner Ingenieure, wischte der Bundesgerichtshof vom Tisch. Volkswagen hatte elf Millionen Fahrzeuge mit manipulativer Dieselsoftware verkauft – allein diese Zahl zeige die besondere Verwerflichkeit des Verhaltens. Das vorsätzliche Handeln ihrer Mitarbeiter und die Kenntnis des damaligen Leiters ihrer Entwicklungsabteilung und des damaligen Vorstands müsse sich der Konzern zurechnen lassen.
Volkswagen war solche Worte schon gewohnt, wenn auch nicht aus höchstrichterlicher Instanz. Der Umstand, dass sich die BGH-Richter so eindeutig für einen Schadensersatz aussprachen, trifft deshalb zwei andere Adressen in Niedersachsen viel härter: Die Richter am Landgericht und Oberlandesgericht in Braunschweig stehen da wie Jura-Studenten, die durch ihr Examen gerasselt sind.
Rund 8000 Klagen gingen nach Recherchen des Handelsblatts in den vergangenen Jahren allein am Landgericht Braunschweig ein. Das Ergebnis in den Worten eines Gerichtssprechers: „Die gegen Volkswagen gerichteten Käuferklagen hatten bislang nahezu keinen Erfolg.“

In der Urteilsbegründung lassen die Karlsruher Richter kein gutes Haar an Volkswagen.
Nach der Entscheidung des Bundesgerichtshofs ist zumindest in einer der beiden zuständigen Braunschweiger Kammern die Erkenntnis gereift, dass dies nicht so bleiben kann. „Der Vorsitzende Richter der 11. Zivilkammer, die mit VW-Käuferklagen betraut ist, hat angekündigt, seine bisherige Rechtsprechung zu ändern und der Rechtsprechung des BGH zu folgen“, sagt der Sprecher des Landgerichts. Aus der anderen zuständigen Kammer gibt es noch kein Signal. Selbst VW-Verantwortliche freilich dürften kaum erwarten, dass die 3600 noch offenen Klagen am Landgericht pro Volkswagen ausfallen.
Das Oberlandesgericht Braunschweig hat in Berufungsverfahren gegen Volkswagen 18 Urteile gesprochen. Alle Berufungen der Autokäufer wurden zurückgewiesen. Seit dem Urteil des Bundesgerichtshofs ist – auch bedingt durch die Coronakrise – nichts weiter passiert.
Laut Auskunft des Gerichts sind von den ursprünglich 2550 Verfahren noch 1216 anhängig. Wie es nun weitergeht, sei nicht klar, das könne man abstrakt und im Vorfeld nicht beantworten, sagt eine Sprecherin des Gerichts. Der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Braunschweig werde das BGH-Urteil aus Karlsruhe aber berücksichtigen.
Ausnahmerechtsprechung als grundsätzliches Problem
Alles andere wäre ein juristischer Affront. „Richter sind sachlich unabhängig und nicht an die Rechtsauffassung des BGH gebunden. Die Instanzgerichte müssen dem BGH daher auch in diesem Fall nicht zwingend folgen. Allerdings war die Rechtslage im VW-Fall von Beginn an derart eindeutig, dass alles andere als eine Kehrtwende in Braunschweig schlicht nicht mehr nachvollziehbar wäre“, sagt Michael Heese, Jura-Professor an der Universität Regensburg.
Heese sieht in der Braunschweiger Ausnahmerechtsprechung ein grundsätzliches Problem. „Bei der Musterfeststellungsklage hat sich besonders deutlich gezeigt, dass ein Gerichtsstand in Konzernnähe nicht geeignet ist, um über solche Fälle zu verhandeln“, so Heese. „Beim Bürger musste doch der Eindruck entstehen, dass sich die Braunschweiger Gerichte insgesamt mit Volkswagen nicht unvoreingenommen auseinandersetzen. Schon dieser böse Schein genügt und schadet dem Ansehen des Rechtsstaats.“
Der böse Schein wird verstärkt, weil das Land zu den größten Anteilseignern des Autobauers gehört. Es hält 20 Prozent der Stimmrechte an Volkswagen, mit Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) und Wirtschaftsminister Bernd Althusmann (CDU) sitzen zwei hochrangige Regierungsvertreter im VW-Aufsichtsrat.
So treu die niedersächsische Politik und Justiz Volkwagen bisher zur Seite standen – in der Wolfsburger Führungsetage scheint man mittlerweile erkannt zu haben, dass der juristische Kampf gegen die Kunden weitgehend verloren ist. Schon im Vergleich mit dem Bundesverband der Verbraucherzentralen, der ein Musterverfahren führte, gab Volkswagen seine Abwehrhaltung auf.
Mehr als 200.000 Kunden, die sich der Musterklage angeschlossen hatten, erhielten insgesamt 830 Millionen Euro Schadensersatz. Abhängig von Modelljahr und Fahrzeugtyp zahlte Volkswagen zwischen 1350 Euro und 6250 Euro pro Fall.

Die Abwicklung der noch anhängigen Individualklagen im Dieselskandal dürfte noch mal teuer werden.
Langsam räumt der Autobauer auch in den noch anhängigen Gerichtsverfahren das Feld. „Der Bundesgerichtshof hat durch sein Urteil aus unserer Sicht für rund 50.000 noch anhängige Verfahren Klarheit geschaffen“, sagt ein Volkswagen-Sprecher. Der Konzern hat nach eigenem Bekunden begonnen, Berufungen in den entsprechenden Verfahren zurückzunehmen. Zudem gehe man nun „auf einzelne Anwälte zu, um Gespräche über den Rahmen von Vergleichen vorzubereiten“. Den Kunden sollen Einmalzahlungen als „pragmatische und einfache Lösung“ angeboten werden.
Volkswagen will einen Schlussstrich ziehen
Hinter den Kulissen heißt es, dass man die Verfahren bis Ende 2020 vollständig beenden wolle. Wie hoch die Entschädigungen sein werden, hängt Volkswagen zufolge vom Einzelfall ab. Komponenten, die in die Bemessung der Summe hineinspielen, sind unter anderem der Fahrzeugtyp, das Alter des Autos und die Anzahl der gefahrenen Kilometer. Auch der Umstand, ob der Kunde das Fahrzeug weiter nutzen will, dürfte eine Rolle spielen.
Welche Summe Volkswagen für die Zahlungen insgesamt einplant, teilte der Konzern auf Nachfrage nicht mit. Legt man aber die Entschädigungszahlungen zugrunde, die im Vergleich mit den Verbraucherschützern vereinbart wurden, würde sich die Summe auf rund 175 Millionen Euro belaufen.
Der Vergleich betraf rund 235.000 Dieselkunden, bei der Zahlung von insgesamt 830 Millionen Euro sind das im Mittel gut 3.500 Euro oder durchschnittlich rund 15 Prozent des Kaufpreises. Inzwischen ist der Vergleich weitgehend erledigt, und Volkswagen hat das Geld an die meisten Kunden überwiesen.
Die Abwicklung der noch anhängigen Individualklagen dürfte kaum billiger werden als der Massenvergleich. Auch im Konzern geht man von einer klar dreistelligen Millionensumme aus.
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stimme zu endlich!!!
Im Lichte der BGH-Urteilssprechnung sieht nicht nur Braunschweig dubios aus. Der sogenannte Vergleich, den der VZBV nach der Musterfeststellungsklage mit Volkswagen mit viel Theater ausgehandelt hat, wirft ebenfalls Fragen auf. Die haben sich höchst inkompetent über den Tisch ziehen lassen. Oder gab es hier auch eine andere Form der Einflussnahme von VW?
Endlich!!!!