Linde im Bilanzcheck Warten auf Reitzles Rückkehr

Der Konzern kann nicht mehr an den Erfolg früherer Tage anknüpfen.
München, Düsseldorf Gleich sieben Manager saßen auf dem Podium, als Linde-Chef Wolfgang Büchele die Bilanz vorlegte. Einer aber, von dem viel die Rede war, schwebte eher wie ein unsichtbarer Geist über der Veranstaltung Anfang März: Wolfgang Reitzle. Noch ist er nicht wieder in Amt und Würden. Auf der Hauptversammlung am Dienstag soll der Ex-Chef in den Aufsichtsrat gewählt werden und am 21. Mai den Vorsitz im Kontrollgremium übernehmen. Investoren erhoffen sich, dass Linde dann wieder in ruhigeres Fahrwasser gerät, schließlich stand Reitzle für lange Jahre des Erfolgs.
Ein Blick auf die Zahlen des Jahres 2015 zeigt zweierlei: Es läuft bei Linde nicht mehr so rund wie zu den goldenen Zeiten unter Reitzle, als man von Rekord zu Rekord eilte. 2015 verfehlte der Gasekonzern zum zweiten Mal in Folge einen Teil seiner Ziele. In einer tiefen Krise steckt Linde aber auch nicht. Mit Blick auf die Zahlen sagte Büchele: „Ich glaube nicht, dass Linde ein angeschlagener Konzern ist.“
Auf den schnellen Blick sehen die Zahlen sogar gut aus. Der Umsatz stieg 2015 um 5,3 Prozent auf 17,9 Milliarden Euro. Das operative Ergebnis legte etwa ebenso stark auf 4,1 Milliarden Euro zu. Doch dass nicht alles in bester Ordnung ist, lässt schon der Blick auf den Aktienkurs erahnen. Vom Kurssturz Anfang Dezember nach einer erneuten Gewinnwarnung hat sich die Linde-Aktie nicht erholt.
Denn Probleme und Herausforderungen gibt es genug: Die schwächelnde Weltkonjunktur und der niedrige Ölpreis belasten, die Weltmarktführerschaft geht gerade verloren, weil der Erzrivale Air Liquide den US-Konkurrenten Airgas übernimmt. Mit den Quartalszahlen, die Ende vergangener Woche vorgelegt wurden, konnte Linde denn auch nicht glänzen. Der Umsatz lag währungsbereinigt nur knapp unter Vorjahr.
Büchele hat bislang nicht wirklich glänzen können. Die Bilanz 2015 sieht auf den zweiten Blick nur durchwachsen aus.
Währungseffekte treiben Umsatz an
Das Umsatzwachstum ist vor allem auf Währungseffekte zurückzuführen. Auf vergleichbarer Basis sanken die Erlöse um 2,3 Prozent. Damit schlug sich Linde schlechter als Air Liquide. Die Franzosen verzeichneten ein nominales Plus von 6,7 auf 16,38 Milliarden Euro. Auch ohne den Euro-Effekt verblieb bei Air Liquide noch ein vergleichbares Umsatzplus von 3,3 Prozent. Den operativen Gewinn steigerten die Franzosen um knapp zehn Prozent auf 2,6 Milliarden Euro.
Zudem blieb Linde auch hinter den eigenen Erwartungen zurück. Ursprünglich hatte der Konzern einen Umsatz von 18,2 bis 19 Milliarden Euro prognostiziert. ‧Büchele senkte dann die Messlatte, die ihm noch Reitzle hinterlassen hatte, auf 17,9 bis 18,5 Milliarden Euro. Am Ende erreichte Linde dann knapp das untere Ende dieser gesenkten Bandbreite.

Lindes Rekordmann und Über-Chef.
Heftig gebeutelt wurde vor allem die Anlagenbausparte. Die Kunden halten sich wegen der niedrigen Ölpreise mit Investitionen zurück. Die Folge: Der Umsatz der Engineering Division brach um 16,5 Prozent auf 2,6 Milliarden Euro ein. Die Umsatzrendite ging von 9,7 auf 8,3 Prozent. Immerhin aber lag sie damit über der längerfristigen Zielmarke von acht Prozent.
Büchele verweist zudem auf den soliden Auftragsbestand von 4,5 Milliarden Euro im Anlagenbau. Eine Diskussion über die Zugehörigkeit der Sparte zum Konzern soll es nicht geben. Er sieht viele Synergien mit dem Kerngeschäft, und will diese noch stärker fördern. Besser lief es im Gasegeschäft. Hier stieg der Umsatz um 8,5 Prozent auf 15,2 Milliarden Euro. Auch bereinigt um Währungs- und Erdgaspreiseffekte verblieb noch ein Zuwachs von 2,1 Prozent. Die operative Umsatzrendite von unverändert 27,4 Prozent kann sich in der Branche weiter sehen lassen.
Das Geschäft mit Gesundheitsgasen, das Reitzle vor seinem Abgang noch mit der Milliarden-Übernahme von Lincare gestärkt hatte, stabilisiert wie erhofft den Konzern, der ansonsten stark an der Industriekonjunktur hängt. Allerdings ist auch das stärkere Engagement in den US-Gesundheitsmarkt kein Selbstläufer. Denn die jüngste Gewinnwarnung begründete Büchele auch mit staatlich verordneten Preissenkungen in den USA.
Die Korrektur der Mittelfristprognose Ende November hatte für viel Unruhe bei Linde gesorgt – und die Rufe nach einer Rückkehr Reitzles lauter werden lassen. Statt eines operativen Gewinns von 4,5 bis 4,7 Milliarden Euro erwartet Linde im Jahr 2017 nun nur noch 4,2 bis 4,5 Milliarden Euro. Auch bei der Rendite auf das eingesetzte Kapital machte der Konzern Abstriche. Statt elf bis zwölf Prozent werden nun nur noch neun bis zehn Prozent erwartet.
Die ehrgeizigen Mittelfristziele hatte noch Reitzle seinem Nachfolger hinterlassen. Seither allerdings haben sich die Aussichten für die weltweite Industriekonjunktur abgeschwächt, hinzu kamen die Probleme in der Anlagenbausparte.
Profitieren dürfte Linde weiterhin davon, dass der Konzernumsatz regional zwischen Europa, Amerika und Asien gut ausbalanciert ist. Im Kerngeschäft mit Industriegasen ist die Großregion Europa, Mittlerer Osten und Afrika (EMEA) die größte. Doch stiegen hier die Erlöse 2015 nur noch leicht auf sechs Milliarden Euro. Dagegen konnte vor allem Amerika deutlich um vergleichbar 7,7 Prozent auf 5,2 Milliarden Euro zulegen. Auf diese Region, die früher leicht unterrepräsentiert war, entfällt inzwischen rund ein Drittel der Konzernerlöse.
Linde muss nun zu Prognosesicherheit zurückfinden und klarmachen, wohin es strategisch in den nächsten Jahren gehen soll. Dabei dürfte die solide finanzielle Ausgangsbasis helfen. Da ist zum einen der starke Cashflow. Der Cashflow aus betrieblicher Tätigkeit verbesserte sich um 19,7 Prozent auf 3,59 Milliarden Euro. Im Vorjahr hatte eine Zahlung von 300 Millionen Euro in die Pensionspläne den Wert gedrückt. Doch auch bereinigt um diesen Einmaleffekt lag der Cashflow um 8,8 Prozent über dem Vorjahreswert. Verantwortlich dafür waren zum einen die Währungseffekte, die das operative Ergebnis aufpolierten. Zudem gab es eine Einmalzahlung von 159 Millionen Euro im Zuge eines Großauftrags aus Singapur.
„Robustes Geschäftsmodell“
Der starke Cashflow ermöglicht Linde eine weitere Dividendenerhöhung. Dies ist wohl vor allem ein Signal: „Das Geschäftsmodell ist robust“, wird im Umfeld von Reitzle und Büchele immer wieder betont. Obwohl die Prognosen mehrmals gesenkt werden mussten, gehe es weiter aufwärts. Daher wird die Dividende nochmals um knapp zehn Prozent auf 3,45 Euro angehoben, also deutlich stärker, als der operative Gewinn stieg.
Auch die Verschuldungslage hat sich gebessert. Nach der kreditfinanzierten Übernahme des Konkurrenten BOC lag die Nettoverschuldung 2006 bei 12,8 Milliarden Euro. Reitzle machte sich schnell an den Abbau. Durch den Verkauf der Gabelstaplersparte und die Gewinnzuwächse gelang es ihm, die Verschuldung auf unter fünf Milliarden Euro zu drücken. Durch die Lincare-Übernahme stieg sie dann wieder auf 8,5 Milliarden Euro an. Seither ist wieder Abbau angesagt. Im vergangenen Geschäftsjahr sanken die Nettofinanzschulden von 8,2 auf 7,6 Milliarden Euro.
Büchele und Reitzle müssen den Konzern nun gemeinsam in ruhigeres Fahrwasser steuern. Beobachter sind gespannt, wie der Vorstandschef mit dem übermächtigen Aufsichtsratsvorsitzenden zurechtkommt. Büchele werde nur dauerhaft im Amt bleiben, wenn es künftig wieder besser und verlässlicher laufe. Daher sollte die Prognose 2016 besser erfüllt werden. Der Linde-Chef ist da auf Nummer sicher gegangen. Währungsbereinigt wird in diesem Jahr ein Umsatz- und Ergebnisanstieg von vier Prozent angestrebt. Das herausfordernde Marktumfeld könne aber auch zu einem Rückgang von bis zu drei Prozent führen.
Der Linde-Chef hat sich also genügend Spielraum gelassen.