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Medikamente gegen seltene Krankheiten Der Milliarden-Trick der Pharmariesen

Die Pharmaindustrie macht Milliarden mit Arzneien gegen seltene Erkrankungen. Wie das geht? Das Volksleiden Krebs wird einfach in Einzelkrankheiten zerlegt – und schon winken geringere Kontrollen und hohe Preise.
05.10.2016 - 08:33 Uhr Kommentieren
Tumorzelle (gelb) dringt in gesunde Zelle ein. Quelle: Bristol-Myers Squibb
Volkskrankheit Krebs

Tumorzelle (gelb) dringt in gesunde Zelle ein.

Hamburg, Berlin Lars und Jonas Borek haben vieles gemeinsam. Die beiden, 19 und zwölf Jahre alt, aus Hamburg sind nicht nur Brüder. Sie leiden auch beide am Fragilen X-Syndrom, einer seltenen Krankheit. Die führt zu autistischen Verhaltensweisen. Die Jungen können Reize nicht filtern, werden schnell unruhig. Als wenn man Klavier spiele, „und die Taste nicht aufhört, wenn man sie loslässt“, erzählt ihre Mutter. Im Kopf ihrer Söhne herrsche dann „ein einziges Klangchaos“.

Beide Jungen brauchen deshalb lebenslange Betreuung. Doch das ist nicht das einzige Problem, vor dem die Familie steht. Bislang hat die Pharmaindustrie wenig Interesse gezeigt, Geld in die Suche nach einem Mittel gegen Fragiles X zu stecken.

Dabei hat die Politik schon vor Jahren mit speziellen Regeln für derart „verwaiste“ Arzneien reagiert, sogenannte Orphan Drugs. In den USA und der EU wurden massiv Anreize für Unternehmen geschaffen, an seltenen Krankheiten zu forschen. Die Vorteile reichen von geringeren Zulassungsgebühren über Steuervorteile bis hin zu einer langjährigen Marktexklusivität für Orphan Drugs.

Doch was im Sinne der Erkrankten gedacht war, scheint sich mittlerweile zum einseitigen Erfolgsmodell für die Pharmaindustrie zu entwickeln. Nach Recherchen des ARD-Magazins „Plusminus“ und des Handelsblatts nutzen die Konzerne offenbar die Regelungen, um wenig geprüfte, dafür sündhaft teure Medikamente in den Markt einzuschleusen. Und sie werden vor allem bei einer Krankheit aktiv, die keineswegs selten ist, aber das große Geld verspricht – bei Krebs.

Die Regelungen „wurden als Geschäftsmodell entdeckt und missbraucht“, beklagen Kritiker wie der Berliner Krebsarzt Wolf-Dieter Ludwig. Seine Stimme hat Gewicht. Ludwig ist Chef der Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft (AkdÄ) und Mitglied im Managementboard der Europäischen Arzneimittelbehörde EMA.

Als selten gelten Krankheiten, wenn sie weniger als fünf von 10.000 Einwohnern betreffen. Laut EMA leiden in der EU rund 30 Millionen Menschen an einer seltenen Krankheit. Das klingt auf den ersten Blick viel. Allerdings verteilen sich all diese Menschen auf rund 8000 solcher Erkrankungen.

Dennoch rollt der Rubel für die Pillenkonzerne, Orphan Drugs boomen. Der weltweite jährliche Umsatz liegt bei 100 Milliarden Dollar, die gesamte Pharmaindustrie erzielt knapp 1000 Milliarden Dollar. Das jährliche Umsatzwachstum bei Orphan Drugs liegt seit Jahren bei knapp zehn Prozent.

Wie aber passt das zusammen? Seltene Krankheiten – riesige Umsätze? Die Recherchen von ARD und Handelsblatt zeigen: Das Ganze funktioniert, weil die Unternehmen sich nicht an Leiden wie dem Fragilen X versuchen, sondern lieber die lukrativste und häufigste Krankheit zu einer seltenen machen: den Krebs. Und sie profitieren davon, dass sie bei Orphan Drugs ihre Preise nahezu ungebremst durchsetzen können. „Die Definition einer seltenen Krankheit ist mittlerweile so aufgeweicht worden, dass fast jede Krebsart als selten bezeichnet werden könnte“, berichtet die Chefärztin einer renommierten deutschen Klinik. Sie spricht von einer „Orphanisierung von Krankheiten“.

Warum der Orphan-Drug-Status so interessant ist, zeigen seine Vorteile. Normalerweise kostet allein eine wissenschaftliche Beratung durch die EMA rund 84.000 Euro, die Zulassungsgebühren betragen etwa 280.000 Euro. Anders bei Orphan Drugs: Sowohl in den USA als auch in Europa verlangen die Behörden nicht nur geringere Gebühren. Sie beraten die Pharmakonzerne auch kostenlos. Die Firmen erhalten zudem Steuervorteile für die klinischen Studien.

Millionen für unsinnige Präparate

Besonders wichtig aber: Mit Zulassung des Medikaments winkt Marktexklusivität, in der EU sogar für zehn Jahre. Eine Zeit, in der die Hersteller nahezu ohne Korrektiv jeden Preis verlangen können. Denn ausgerechnet im umsatzstarken Markt Deutschland wurde bei Orphan Drugs den Krankenkassen ein Instrument aus der Hand genommen, um die Preise zu beeinflussen.

So müssen Hersteller hierzulande normalerweise nach der Zulassung belegen, dass ihr Medikament mehr bringt als schon existierende Mittel. Ansonsten zahlen die Krankenkassen nur geringe Festbeträge. Bei Orphan Drugs dagegen wird dieser Zusatznutzen mit der Zulassung des Medikaments einfach unterstellt. Der zuständige Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) darf lediglich den Umfang des Zusatznutzens bestimmen.

Das aber hat verheerende Folgen für die Patientensicherheit und die finanzielle Belastung des Gesundheitssystems – wie eine exklusive Untersuchung des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) für ARD und Handelsblatt zeigt. Danach floss von den knapp 600 Millionen Euro, die 2015 in Deutschland für Orphan Drugs ausgegeben wurden, fast ein Drittel in Medikamente, deren Zusatznutzen nicht durch Daten belegt war. Und das nicht nur im letzten Jahr.

Laut Langzeitbetrachtung des Spitzenverbandes attestierte der G-BA fast 50 Prozent der zwischen 2011 und 2015 zugelassenen Orphan Drugs diesen „nicht quantifizierbaren“ Zusatznutzen.

Obwohl knapp die Hälfte der Präparate also kein feststellbares Mehr an Heilung verspricht, dürfen die Pharmaunternehmen sie trotzdem auf dem Markt belassen. Und sie können dafür in der Zeit der Marktexklusivität auch noch horrende Preise verlangen. Kritiker sprechen von Mondpreisen – und das nicht nur in Deutschland. 2014 betrugen in den USA die durchschnittlichen Behandlungskosten pro Patient mit einer seltenen Erkrankung etwa 86.000 Euro, bei einer nicht seltenen Krankheit nur rund 18.000 Euro. Einzelne Behandlungen gehen teilweise sogar in den Millionenbereich.

Da wundert es nicht, dass mittlerweile ein Drittel aller neu zugelassenen Arzneien zur Kategorie Orphan Drug gehören. Doch ein Medikament gegen Fragiles X für die Borek-Kinder aus Hamburg findet sich trotzdem nicht darunter. Dafür aber auffallend viele Krebsarzneien.

Salami-Taktik bei Krebsformen
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