Prognose für 2021 Chemiebranche erwartet starkes Jahr – und fordert „Pandemiepakt“ in der Corona-Politik

Die Chemie hat in der Corona-Pandemie schnell reagiert und die Produktion umgestellt.
Düsseldorf Die deutsche Chemiebranche will schon in diesem Jahr die Coronakrise hinter sich lassen. Das Geschäft des drittgrößten deutschen Industriezweigs soll Ende 2021 wieder das Niveau vor der Pandemie erreichen, wie der Verband der Chemischen Industrie (VCI) auf Basis einer Mitgliederbefragung prognostiziert. Danach könnte der Umsatz um fünf Prozent auf gut 200 Milliarden Euro steigen.
Das wäre auch ein gutes Signal für die Gesamtwirtschaft, denn die Chemie beliefert nahezu alle verarbeitenden Industrien und spürt konjunkturelle Veränderungen sehr schnell.
„Unsere Branche ist bisher mit einem blauen Auge davongekommen“, sagte der VCI-Hauptgeschäftsführer Wolfgang Große Entrup am Dienstag. Im vergangenen Jahr ist der Umsatz der Chemie (inklusive Pharma) um 4,4 Prozent auf 190 Milliarden Euro gesunken. Der Rückgang war damit weitaus geringer als in anderen Branchen.
Voraussetzung für das Comeback sei aber, dass Europa die Corona-Pandemie mit zunehmenden Impfungen in den Griff bekommt. Das dynamische Infektionsgeschehen bei fehlender Strategie der EU berge erhebliche Risiken für die weitere Erholung der Wirtschaft, heißt es beim VCI.
Die jüngsten Rückschläge geben der Chemieindustrie zu denken, viele sind zudem genervt vom Durcheinander in Berlin und den Ländern beim Krisenmanagement. „Die dauernden Wahlkampftaktiken müssen eingestellt werden, wir brauchen in der Politik einen Pandemiepakt“, forderte Große Entrup. „Alle sollten sich darauf konzentrieren, Verantwortung zu übernehmen.“
Die Chemie will ihren Teil dazu beitragen. Damit die Impfungen in den kommenden Monaten nicht an Materialproblemen scheitern, hat die Branche eine Online-Notfallplattform aufgebaut. Darüber sollen Bund, Länder und Hersteller die Versorgung mit Spritzen, Kanülen und Kochsalzlösungen bessere koordinieren.
Zudem steht die Branche bereit, über die Betriebsärzte die Impfungen schneller voranzutreiben, wenn denn genug Vakzin vorliegt. Diese Bereitschaft hatte vorige Woche schon Matthias Zachert, Chef der Kölner Lanxess, gezeigt. Er kritisierte aber die überbordende Bürokratie dabei, ohne die auch die Impfungen im Betrieb künftig viel schneller umgesetzt werden könnten.
Anlagen sind ausgelastet
Die Chemiefirmen hielten auch während des Lockdowns ihre Produktion aufrecht und profitierten im Jahresverlauf von einer anziehenden Weltkonjunktur und besonders von China. Das gipfelte in einem extrem starken vierten Quartal, in dem die Produktion der deutschen Chemiefirmen um zehn Prozent nach oben schnellte.
Diesen Schwung haben die Hersteller zunächst mit ins neue Jahr genommen. Viele Kunden aus der verarbeitenden Industrie haben ihre leergefegten Läger wieder aufgefüllt, zugleich zog das Geschäft vor allem in China und den USA weiter an.
Das hat zu einem starken Preisanstieg und in Teilen des Kunststoffgeschäfts auch zu einzelnen Lieferschwierigkeiten geführt. Vor allem die Verpackungshersteller klagen aktuell über Probleme bei der Belieferung mit Plastik. Die Anlagen in der Chemie sind zu 85 Prozent ausgelastet und damit so gut wie in früheren konjunkturellen Hochphasen.
Doch wird sich der Nachfrage-Boom im ersten Quartal mit zunehmendem Lageraufbau wieder abschwächen. Zudem hat die Autoindustrie zuletzt wegen des Chipmangels die Produktion gedrosselt. Da die Fahrzeughersteller die größte Kundengruppe sind, wird sich dies auf die Chemie auswirken. 50 Prozent der Firmen rechnen deswegen mit einem Dämpfer im ersten Quartal.
Bei den Wachstumserwartungen muss die Chemie aber nicht alle Hoffnungen auf Deutschland richten. Neben China hat sich der US-Markt während der Pandemie als robust erwiesen und wird einer der Treiber im weiteren Geschäft sein. Rund die Hälfte aller Investitionen deutscher Chemiefirmen geht nach Angaben des VCI aktuell in die USA.
Die Chemie erwartet einen starken Impuls durch das Corona-Konjunkturprogramm der Biden-Regierung. Die Branche dürfte aber auch von den Investments in grüne Technologie profitieren, wie sie die USA und auch China ankündigen.
Die Branche sei Nutznießer von Megatrends wie Green Tech, leichtgewichtige Stoffe etwa für Elektroautos sowie Energieeffizienz, sagt Ronald Ayles, Global Head of Chemicals & Materials beim Finanzinvestor Advent. Aus seiner Sicht hat die Chemie Widerstandsfähigkeit auch in schwierigen Zeiten bewiesen. Das schätzen die Investoren, was hohe Bewertungen an der Börse zur Folge hat.
Neue Chancen für Übernahmen und Fusionen
Die finanzielle und operative Stabilität während der Krise führt auch dazu, dass die Chemie schon wieder bei Fusionen und Übernahmen (M&A) kräftig mitmischt. „Der Chemiesektor befindet sich generell in einer Umbruchphase“, beobachtet Ayles. „Der Trend geht zur Spezialisierung. Börsennotierte Konzerne kaufen überwiegend in der stark wachsenden Spezialchemie zu und stoßen dagegen klassische Rohstoffchemie eher ab.“
Das zeigt sich auch bei den deutschen Herstellern. Lanxess hat seit Januar drei Zukäufe in Summe von über eine Milliarde Euro angekündigt, mit denen die neue Sparte Consumer Protection gestärkt wird. Ziel ist es, möglichst viele Kompetenzen auf überschaubaren Spezialmärkten zu erreichen – etwa bei Hygiene in der Tiergesundheit. Der Kunststoffhersteller Covestro ergänzt sein Angebot im Oberflächenschutz mit dem 1,6 Milliarden Euro teuren Kauf eine Sparte von DSM.
Evonik aus Essen hat seine Spezialgeschäfte mit Zusätzen sowie mit Katalysatoren bereits durch mehrere Zukäufe ausgebaut. Das kapitalintensive Massengeschäft mit Plexiglas ist dagegen verkauft. Demnächst steht eine weitere Trennung an: Die Herstellung von Saugmaterial für Babywindeln soll verkauft oder in eine Partnerschaft eingebracht werden. Auch hier ist mittlerweile Größe und Masse nötig, um noch auskömmliche Gewinnmargen zu erzielen.
Bei der Neuordnung der Chemie greifen auch Private-Equity-Firmen beherzt zu. Dieser Trend dürfte sich fortsetzen, erwartet Ayles. Im Februar ging die Spezialchemiesparte der Schweizer Lonza für umgerechnet 3,8 Milliarden Euro an die Finanzinvestoren Bain und Cinven. Lonza will sich ganz auf die Herstellung von Arzneiwirkstoffen konzentrieren.
Für die Sparte hatte auch Lanxess geboten, letztlich aber war der Preis für die Kölner zu hoch. CEO Zachert prüft aber weitere Übernahmen, denn er geht fest davon aus, dass sich in den nächsten Monaten dazu Chancen ergeben werden. „Viele Chemiefirmen richten ihr Portfolio neu aus“, sagt er. Konkurrenten würden Geschäfte abgeben, weil sie entweder in finanziellen Problemen steckten oder überzeugt sind, dass einzelne Sparten nicht mehr passen und sich in anderen Händen besser entwickeln könnten.
Mehr: Spezialchemiekonzern Lanxess zeigt sich bereit für weitere Übernahmen.
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