Reaktion auf Corona-Beschlüsse Wirtschaft verliert die Geduld mit der Politik: „Politische Irrfahrt beenden“

Die Lockerungen gehen vielen Gastronomiebetrieben nicht weit genug.
Düsseldorf, Frankfurt, Berlin Die deutsche Wirtschaft hat überwiegend enttäuscht auf die jüngsten Corona-Beschlüsse von Bund und Ländern reagiert. Vor allem die vom anhaltenden Lockdown besonders betroffenen Branchen Handel, Gastronomie und Tourismus verlieren zunehmend die Geduld.
„Der Beschluss von Bund und Ländern ist aus Sicht der Wirtschaft unzureichend“, sagt BDI-Präsident Siegfried Russwurm. Stefan Genth, Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands HDE, spricht für seine Branche von einer „Katastrophe“. Und Guido Zöllick, Präsident des Hotel- und Gaststättenverbands Dehoga, nennt die Beschlüsse „inakzeptabel“.
Kanzlerin Angela Merkel und die Ministerpräsidenten verlängerten Mittwochabend den Lockdown grundsätzlich bis Ende März. Zugleich legten sie einen Stufenplan für Lockerungen vor, der aber an die Entwicklung der Inzidenzwerte gekoppelt ist. Viele Geschäfte werden daher wohl noch über Wochen nur eingeschränkt oder gar nicht öffnen dürfen. Restaurantbesuche werden vor Ostern kaum möglich sein.
Lufthansa-Chef Carsten Spohr bedauert, dass erst bei der nächsten Runde von Merkel und den Ministerpräsidenten am 22. März über eine Lockerung beim Thema Reisen gesprochen wird. Joanna Fisher, Chefin von Deutschlands größtem Shoppingcenter-Betreiber ECE, zeigt sich ernüchtert: „Die Beschlüsse entsprechen leider bei Weitem nicht den Vorstellungen des Einzelhandels.“ Und Roland Mack, Inhaber des Europa-Parks in Rust, spricht von einem „Offenbarungseid“.
Der Europa-Park im badischen Rust ist nicht nur der größte Freizeitpark Deutschlands. Er ist auch der größte Gastronomie- und Hotelstandort des Landes. Seit Ende Oktober steht hier aber alles still, die Restaurants sind geschlossen und die 5000 Zimmer leer. Und noch immer zittert Inhaber Mack um das wichtige Ostergeschäft.
„Die gesamte Last wird auf der Wirtschaft abgeladen, während die Regierung ihre ureigenen Aufgaben, sei es Testen, Impfen, Ausgleichszahlungen, Erarbeiten von Perspektiven nicht auf die Reihe bekommt“, erklärte der Unternehmer: „Die weitere komplette Schließung ist unverhältnismäßig und perspektivlos.“
FDP-Chef Lindner: „Es fehlt eine belastbare Perspektive“
„Für die Wirtschaft wurde viel erreicht“, meint dagegen Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU). Er verweist darauf, dass die Bund-Länder-Runde sich am Mittwoch von der bisherigen Inzidenzregel verabschiedet habe. Bisher wurden Lockerungen nur in Aussicht gestellt, wenn in den vergangenen sieben Tagen pro 100.000 Einwohnern nur 35 neue Infektionen gemeldet wurde.
Es werde nun nicht mehr auf starre bundesweite Inzidenzen, sondern auf die regionale Situation geschaut, betonte Altmaier. Damit gebe es für den Handel und die Gastronomie die Möglichkeit, in vielen Teilen Deutschlands wieder zu verkaufen und zurück an den Start zu gehen.
FDP-Chef Christian Lindner kritisierte dagegen: „Die Hürden zur Öffnung sind so hoch, dass sich im Alltag für viele Menschen lange nichts verändern wird.“ Für manche Bereiche wie die Innengastronomie, weite Teile der Kultur und des Tourismus fehle es an einer belastbaren Perspektive, sagte er dem Handelsblatt.
Tatsächlich bleibt es für viele Betriebe insbesondere aus Handel und Gastronomie weiterhin schwierig. Auf jeden Fall bundesweit aufmachen dürfen ab kommendem Montag Buchläden, Blumengeschäfte und Gartenmärkte. In einigen Bundesländern haben diese Geschäfte bereits geöffnet.
Für große Teile des Einzelhandels hängt die Öffnungsperspektive dagegen am Infektionsgeschehen. Bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von unter 100 können Ladenbesitzer ihre Kunden immerhin nach vorheriger Terminvergabe empfangen. Für die breite Kundschaft öffnen dürfen sie aber erst, wenn der Inzidenzwert stabil unter 50 liegt.
Kritik aus dem Handel: „Politische Irrfahrt beenden“
Das noch strengere Kriterium von 35 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner, das Bund und Länder im Februar zur Voraussetzung für Lockerungen gemacht hatten, wurde zwar wieder gestrichen. Doch auch das 50er-Ziel ist eine hohe Hürde: Der Trend bei den Neuinfektionen zeigte zuletzt leicht nach oben, die Inzidenz liegt im Bundesdurchschnitt bei rund 65.
Aus Sicht von Bernhard Düttmann, Chef von Ceconomy (Media-Markt, Saturn), zeigen die Beschlüsse zwar „erstmals so etwas wie eine Öffnungsperspektive“. Er kritisierte jedoch die Ungleichbehandlung. Erneut würden bestimmte Bereiche des Einzelhandels bevorzugt, andere benachteiligt. „Warum es gefährlicher sein soll, einen Laptop zu kaufen als ein Buch oder Blumen, kann niemand erklären“, sagte er.
„Ob es bei steigenden Testungen mit gegebenenfalls höheren Inzidenzen überhaupt Öffnungen geben wird, bleibt unklar und bringt alles andere als Planungssicherheit“, erklärte Düttmann.
Nach den Worten von HDE-Hauptgeschäftsführer Genth wird für die große Mehrheit der Händler der Lockdown de facto bis Ende März verlängert. Eine stabile Inzidenz von unter 50 sei auf absehbare Zeit wohl nicht flächendeckend zu erreichen. Insbesondere die alleinige Fixierung auf die Sieben-Tage-Inzidenz sei nicht nachzuvollziehen, sagte ECE-Chefin Fisher: RKI und Ethikrat hätten klar empfohlen, die Belegung der Intensivbetten mit in die Überlegungen einzubeziehen.
Timm Homann, Chef der Handelskette Ernsting’s Family, ruft die Unternehmen auf, nicht aufzugeben, für eine Öffnung zu kämpfen. „Es geht immer weiter, um diese politische Irrfahrt zu beenden“, sagt er.
Auch für die Gastronomie bleibt es weiter schwierig. Restaurants können frühestens ab 22. März ihre Außengastronomie öffnen, wenn die Inzidenz stabil unter 50 liegt. Zwischen einer Inzidenz von 50 und 100 dürfen sich Gäste nur nach einer Terminbuchung draußen bewirten lassen. Außerdem ist ein tagesaktueller Corona-Test erforderlich. Über eine weiter gehende Perspektive für Restaurants und Kneipen, die auch den Innenbereich abdeckt, soll erst bei der nächsten Bund-Länder-Runde beraten werden.
Gastronom und Promi-Koch Alexander Herrmann sieht selbst die Öffnung des Terrassengeschäfts kritisch: „Außengastronomie kann im Frühjahr witterungsbedingt nicht ansatzweise rentabel sein.“ Nicht die Gastronomie sollte zugesperrt, sondern die Gesundheitsämter müssten mehr Unterstützung bekommen und bei der Nachverfolgung schneller werden. „Wenn die Spülküche nicht nachkommt, muss man ja nicht gleich das ganze Restaurant schließen“, sagte Herrmann. „Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben.“
Die Reise- und Übernachtungsbranche hat kaum noch Hoffnungen auf das Ostergeschäft. „Was wir derzeit erleben, ist die Demontage eines der größten Wirtschaftszweige in Deutschland“, warnte Marcus Bernhardt, Chef der Steigenberger-Dachgesellschaft Deutsche Hospitality. „Für viele Betriebe kommt es inzwischen buchstäblich auf jeden Tag an, an dem sich ihr Überleben neu entscheidet.“
Neben der Zukunft von drei Millionen Beschäftigten gehe es auch um drohende Pleiten bei Zulieferern und Dienstleistern. „Am 28. März werden unsere Betriebe insgesamt sieben Monate geschlossen sein“, sagte Dehoga-Präsident Zöllick. Hilfen kämen nur verzögert an oder reichten nicht aus, Verzweiflung und Existenzängste machten sich in der Branche breit.
Lufthansa-Chef Spohr musste am Donnerstag wegen der Pandemie einen Rekordverlust für das Jahr 2020 berichten: „Ich möchte noch mal den Appell an die Politik richten: Wir brauchen internationale und digitale Impfpass- und Testnachweise, um das Reisen wieder zu ermöglichen“, sagte er: „Nationale Alleingänge führen zu einem Flickenteppich, die Europa in der Krise weiter zurückfallen lassen.“
Wichtige Messen stehen vor der Absage
Die Messewirtschaft zeigte sich enttäuscht, als eine der am stärksten von der Pandemie betroffenen Branchen keinerlei Perspektive für einen Neustart zu bekommen. „Die Absagen für 2021 haben jetzt schon den Monat Mai erfasst, denn viele potenzielle Aussteller zögern mit Beteiligungsentscheidungen aufgrund der fehlenden Öffnungsperspektive für ihre Messen“, sagte Jörn Holtmeier, Geschäftsführer des Verbands Auma.
Spätestens bei der nächsten Ministerpräsidentenkonferenz am 22. März müsse es aufgrund der langen Planungszeiten eine kurzfristige Entscheidung für die Wiederzulassung von Messen geben. Sonst seien wichtige Messen im zweiten Halbjahr gefährdet.
Vertreter anderer Branchen zeigten aber auch Verständnis für die Vorsicht bei den Öffnungen: Evonik-Chef Christian Kullmann sagte beispielsweise, er wünsche sich von der Bundesregierung „vernünftige Entscheidungen“ unter Abwägung aller Interessen und geleitet von einer langfristigen Strategie. Der Wirtschaft sei nur dann gedient, wenn die Menschen gesund seien und blieben und wenn sie mit Zuversicht nach vorn blickten.
Die Einschränkungen bis Ende des Monats seien in Anbetracht der Infektionslage nachvollziehbar, sagte Henkel-Chef Carsten Knobel: „Wir brauchen niedrige Inzidenzwerte.“
„Die Beschlüsse der Bund-Länder-Runde sind der dringend erforderliche Einstieg in ein zielgenaueres und differenziertes Vorgehen“, sagte Arndt G. Kirchhoff, Autozulieferer und Präsident der Unternehmer NRW. Äußerst kritisch sei es, dass dennoch zahlreiche Betriebe in bedeutenden Bereichen unserer Wirtschaft zunächst nicht nur weiter geschlossen blieben, sondern ihnen nach wie vor eine verlässliche Öffnungsperspektive verwehrt geblieben sei. „Das trifft viele Menschen sehr hart und macht mir große Sorgen, denn sie kämpfen um ihre Existenz.“
Mitarbeit: C. Bialek, B. Fröndhoff, M. Buchenau, D. Neuerer, J. Koenen, A. Müller, C. Schlautmann, T. Sigmund
Mehr: Neuer Entwurf weicht Inzidenz-Grenze in Deutschland auf: Lockerungen bereits ab Wert unter 100
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Der Unsinn den Fortschritt im Kampf gegen Corona alleine über den Inzidenzwert zu definieren
wird deutlich, wenn in Ländern ohne "Testen, Testen, Testen..." dieser Wert auch schnell unter die
Marke von 35 zu positionieren ist, um den Wirtschaftsfaktor Tourismus zu fördern!
Der Wert ist beliebig manipulierbar, wie auch ein Blick in die Vergangenheit deutlich zeigt, wenn man das Umfeld der "Treffen im Kanzleramt" betrachtet!
Noch ein Wort zu den "persönlichen Schnelltests.
Wer von den "Lidl-Testern" wird künftig die Positiv-Ergebnisse den Gesundheitsämtern melden?
Welcher Fortschritt im Kampf gegen Corona ist damit von den Selbsttests zu erwarten?
Ich sehe darin nur einen weiteren Versuch der politisch verantwortlichen Akteure, von ihren zentralen Fehlern abzulenken.