Gastbeitrag Zukunft der Marktwirtschaft: Mit Kant gegen China

Nicola Leibinger-Kammüller ist promovierte Philologin und führt den Maschinenbauer Trumpf seit 2005.
Jede Epoche benötigt nach Ansicht von Historikern mindestens eine weitere, um vollständig verstanden zu werden. Denn erst der Abstand der Jahre hilft beim Ordnen von Dingen, die zum Zeitpunkt des Geschehens nur ansatzweise offenbar werden. Dies gilt für den Erfolg von Unternehmen. Aber auch den Erfolg von Wirtschaftssystemen.
Thomas Mann hat dafür in einem abendlichen Dialog zwischen Thomas und Tony Buddenbrook auf dem wirtschaftlichen Höhepunkt der Getreidehandlung die Worte gefunden: „Ich weiß, dass oft die äußeren, sichtbarlichen und greifbaren Zeichen und Symbole des Glückes und Aufstieges erst scheinen, wenn in Wahrheit alles schon wieder abwärts geht. Diese äußeren Zeichen brauchen Zeit, anzukommen, wie das Licht eines solchen Sternes dort oben, von dem wir nicht wissen, ob er nicht schon im Erlöschen begriffen, nicht schon erloschen ist, wenn er am hellsten strahlt.“
Bereits vor Monaten, inmitten der Pandemie, sind die Lücken in der Digitalisierung von Schulen und öffentlichen Verwaltungen offenbar geworden. Genau wie die Starrheit von Arbeitszeitregelungen im Krisenmodus.
Diese sind – man muss sie als Hörerin der Radionachrichten zumindest so interpretieren, wonach die Zahlen des RKI an Montagen erfahrungsgemäß niedriger ausfallen, weil an den Wochenenden weniger getestet wird oder weniger Daten übermittelt werden – auch Ausdruck einer inneren Haltung.
Ein Land nimmt Schulden in dreistelliger Milliardenhöhe auf, Existenzen sind bedroht, auch weil Überbrückungshilfen stocken, Ausgangssperren werden beschlossen, Millionen von Schülern und Eltern werden wöchentlich in die Ungewissheit entlassen, aber den zuständigen Stellen lässt man es nach über einem Jahr noch immer durchgehen, Daten nicht im Stundentakt auszutauschen?
Womöglich liegt in der Nonchalance, mit der dieser Hinweis Woche für Woche verlesen wird, ein noch größeres Problem als im Fakt an sich. Er ist eine Provokation. Aber wer sich den Zustand vieler Strukturen und Prozesse ansieht, erkennt daran die Mann’schen „äußeren Zeichen“ eines Kulturwandels.
Man kann diesen Kulturwandel zuletzt auch am zähen Ringen um Schnelltests oder Impfungen durch Unternehmen festmachen, die noch immer nicht überall möglich sind. Oder an der langwierigen Debatte um Lockerungen für Geimpfte. Bevor wir etwas riskieren und einige Bevölkerungsgruppen möglicherweise bevorteilen, wagen wir es im Grunde besser nicht.
Dass jene geimpften Bürger im Umkehrschluss dafür sorgen könnten, die ohnehin desaströse Ertragslage von Cafés, Restaurants und Theatern zumindest homöopathisch zu verbessern und damit Menschen aus ökonomischen wie seelischen Tälern zu holen, wurde selbst von offiziellen Gremien zu ethischen Fragen lange Zeit nicht diskutiert.
Kehren wir noch einmal zu den Historikern zurück. Jede Epoche droht in ihren Erzählungen in Vergessenheit zu geraten, wenn man diese nicht wachhält. Dies gilt für die Aussöhnung nach dem Zweiten Weltkrieg und die Unermesslichkeit Europas. Aber auch für das Wunder des deutschen Wohlfahrtsstaates auf Basis einer von Gestaltungswillen besessenen Generation. Sie konnte aus naheliegenden Gründen nicht die Idee des Bewahrens in ihr Zentrum stellen, sondern war beseelt von Aufbruch, Wettbewerb, Differenzierung – Risiko.
Wer sich hingegen viele Debatten der Gegenwart ansieht, erkennt einen bedenklich stimmenden Shift hin zum Minimieren aller nur denkbaren Folgewirkungen. Sie betreffen auch das Staatswesen und unsere Vorstellung von Zukunft. Der vorpolitische Raum ist in seiner Diskursgewalt dabei nicht zimperlich.
Statt Ordnungspolitik: Umverteilung und Regulierung
Nur ein Beispiel mit Bezug zur Marktwirtschaft, für deren Rahmen der Staat durch Investitionen in Bildung und Infrastrukturen, aber auch Regulierung sorgt: Wir haben in Deutschland über Jahre erfolgreich politische Erzählungen geschaffen wie jene der wachsenden Ungleichheit, die derselbe Staat auflösen soll, dessen Sozialhaushalt nicht kleiner, sondern immer größer geworden ist. Wo bleibt demgegenüber die Erzählung des „Du kannst“ oder des „Du kannst etwas auf eigene Faust unternehmen“? Man findet sie nur schwer, auch wenn es fraglos gute Impulse in der Innovationspolitik gibt.
Das erstaunliche Phänomen unserer Zeit ist deshalb nicht, dass wir zur Bewahrung des Erreichten neigen, so wie der Volksmund der jeweils nächsten Generation unterstellt, den Wohlstand der Mütter und Väter zunächst zu verwalten und schließlich zu verspielen. Das eigentlich Beängstigende ist der auch unter Meinungseliten verbreitete Glaube, dass wir mit noch mehr staatlicher Regulierung von Unternehmen und Bürgern anstatt mehr Eigeninitiative in Zukunft erfolgreich im internationalen Wettbewerb bestehen werden.
Vieles spricht für das Gegenteil, auch wenn nicht wenige Menschen derzeit Sympathien dafür hegen, angesichts der Erfahrungen während der Pandemie mehr Staat zu fordern – und nicht die Flexibilisierung von Rahmenbedingungen und eine Can-do-Attitüde à la Biontech als geistige Richtschnur unserer Gesellschaft.
Wer sich darum mit den aktuellen Regierungsplänen beispielsweise der Grünen und der SPD für die Bundestagswahl auseinandersetzt, erkennt hinter dem so proklamierten Bedarf für neue Steuern und Abgaben zur Gewährleistung von mehr Gerechtigkeit und Umweltschutz in Wahrheit ein anderes Bild der Gesellschaft – und ein anderes Bild vom Menschen hinsichtlich seiner Selbstbestimmung und Freiheit.
Auch jener übrigens, die Zukunft nicht genau zu kennen, sondern Fehler machen und diese auch verzeihen zu dürfen. Ein anderes Bild von der Integrität des Eigentums, der Triebfeder jeder wirtschaftlichen Bemühung. Ein anderes Bild des Individuums in seinen Möglichkeiten, alles oder nichts zu tun.
Möglichkeit zur Freiheit im Denken und Handeln
Man sollte deshalb genau hinschauen, was sich derzeit im Vorwahlkampf als bürgerlich geriert. Der unbestechliche Gradmesser, ob politische Ideen bürgerlich sind, ist in der Tradition der Emanzipation im 19. Jahrhundert am Ende noch immer die Frage, wie hoch sie die Freiheit und den Gestaltungswillen des Einzelnen in allen Bereichen des Lebens zu schützen vermögen.
Die Möglichkeit zur Freiheit im Denken und Handeln ist auch für Unternehmen eine Entscheidungsgröße für Investitionen. Die Absenkung der Unternehmensteuern in den USA ist beileibe nicht das einzige Kriterium. Aber es ist ein in Deutschland nicht einmal diskutiertes Achtungszeichen, Firmen im weltweiten Wettbewerb um Standorte und die Justierung ihrer Lieferketten entgegenzukommen. Wohlgemerkt: nicht nur großen Unternehmen, sondern vielen kleinen und mittelständischen, die das Gros der deutschen Wirtschaft ausmachen.
Globale Lieferketten sind gerade für die exportorientierte deutsche Wirtschaft unter dem Strich ein Segen. Nicola Leibinger-Kammüller
Die derzeit salonfähige Kritik an Wachstum und Globalisierung ist abgesehen von der notwendigen Abtragung der Staatsschulden darum fadenscheinig. Denn beides wird nach Corona nicht abklingen, sondern sogar zunehmen.
Globale Lieferketten bedeuten temporäre Verletzlichkeit – sie sind gerade für die exportorientierte deutsche Wirtschaft unter dem Strich aber ein Segen im Vergleich zu Isolation und Abschottung. Abgesehen davon, dass Handel sprichwörtlich auch Wandel bringt, eine Weitung des Horizonts. Curry in einem Hamburger Speicher war schon zu Zeiten Thomas Buddenbrooks mehr als nur ein Gewürz.
Die eigentlichen Fragen der Zukunftsvorsorge müssten deshalb lauten: Wie schaffen wir es angesichts der planwirtschaftlichen Konkurrenz aus China, aber auch der großen Tech-Plattformen aus den USA, die Innovationskraft der deutschen Unternehmen zu erhalten, ohne Konzessionen an Werte wie den digitalen Datenschutz zu machen? Was kann eine Bundesregierung auch bewusstseinsmäßig dafür tun, indem sie Menschen die globalen Wirtschaftskreisläufe näherbringt?
Brücken zwischen Grundlagenforschung und industrieller Anwendung
Es gibt viele Stellen, an denen wir ansetzen müssen. Wir brauchen effektivere, schnellere Brücken zwischen Grundlagenforschung und industrieller Anwendung. Wir müssen aber auch unvoreingenommener darüber nachdenken, wie wir Europa für weltweit führende Produzenten von Batteriezellen und Halbleitern attraktiver machen, anstatt mit Steuermilliarden eine eigene Produktion aufzubauen.
Dieser Wettbewerb ist angesichts des Vorsprungs Asiens nicht zu gewinnen. Bei Chipdesign, Verfahrens- und Produktions-Know-how ist die Förderung hingegen gut investiert, zumal die Hebel größer sind.
Schon heute wachsen die Lohnstückkosten in Deutschland stärker als in den meisten anderen Industrienationen, auch weil die Arbeitszeiten bei uns über die Jahre gesunken sind mit direkten Folgen für die Profitabilität. Nur: Sprechen wir öffentlich hierüber ähnlich intensiv wie über die Besetzung des Hambacher Forsts?
Die deutschen Unternehmen sind nicht synonym mit Wirecard. Nicola Leibinger-Kammüller
Umfragen von Allensbach zufolge lehnt die Hälfte der Deutschen den Kapitalismus und die Marktwirtschaft ab. Was unternehmen wir kommunikativ als Wirtschaft, dem entgegenzuwirken – und zu zeigen, dass die deutschen Unternehmen, und nicht nur der zahlenmäßig tonangebende Mittelstand, nicht synonym mit Wirecard sind?
Was wir brauchen, lässt sich darum weder in Essays einfordern noch über Nacht als Entwicklung umkehren. Aber wir könnten zumindest eine Debatte beginnen über das Wahljahr hinaus, woran es wirklich mangelt im Land – und dies ist weit mehr als die Ausstattung von Schulen oder Behörden mit Laptops. Beide sind nur ein durch Corona ins Rampenlicht gerücktes Sinnbild einer Geisteshaltung der Bewahrung und Verteilung. Eines Mindset, das die Dynamik der Welt noch nicht verinnerlicht hat, weil es uns sehr lange sehr gut ging. Und wir noch immer von diesem Gefühl zehren.
Ein erfolgreicher Innovationsstandort braucht hingegen Mut und Freiheit ebenso wie 5G oder die Entbürokratisierung der Verwaltung. Homeoffice-Quoten oder das Gendern mögen auch in Unternehmen heute zum Zeitgeist gehören. Wir sollten sie allerdings nicht zum Gradmesser von Modernität und Innovationsstärke verklären.
Wenn die Wirtschaftspolitik der nächsten Bundesregierung erkennte (ein nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich schwer von der Hand gehender Konjunktiv), dass nicht weitere Pläne und Regularien in Zukunft die Einkommen, Pensionen, Kulturförderungen, Stipendien, Sozialleistungen usw. bezahlen werden, sondern die Freude an Entfaltung und Selbstbestimmung, wäre viel gewonnen.
In der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft handeln
Unser kategorischer Imperativ im Sinne Immanuel Kants müsste darum lauten, dass jede Unterlassung zukunftsweisenden ökonomischen Handelns zugleich Auswirkungen auf das große Ganze haben wird. Was wir von Ländern wie China bei allen Unterschieden dabei lernen können, sind Entschlossenheit und Umsetzungsgeschwindigkeit bei wichtigen Projekten. Auch das ist eine Lehre aus Corona.
Der Maschinenbau als „Ausrüster der Welt“ ist der Seismograf der deutschen Wirtschaft. Was heute bestellt wird, zeigt an, wohin sich Investitionen verschieben. Es ist also kein Bauchgefühl, sondern faktenevident: Die Herausforderungen einer Welt im Wandel, deren Wertschöpfungsanteile sich in der Fertigung immer stärker nach Asien, in den digitalen Geschäftsmodellen immer weiter in Richtung USA verlagern, sind gigantisch. Es ist deshalb keineswegs redundant zu wiederholen: Nicht der Staat wird aller Voraussicht nach Arbeitsplätze und Steuereinnahmen der Kommunen und Gemeinden sichern, sondern Unternehmen, Menschen, Ideen.
Wir müssen den Kapitalismus aktiv gestalten, solange dies noch in unseren eigenen Händen liegt. Nicola Leibinger-Kammüller
Wer im Wahlkampf den sozialen Unmut gegen „Besserverdiener“ – gemeint ist ein Großteil der Mittelschicht – schürt, starrere Arbeitszeitgesetze, höhere Abgaben und mehr Begrenzung in ökologischen Fragen herbeisehnt, tut zumindest eines nicht und sollte dies den Menschen auch offen sagen: in der Tradition der Sozialen Marktwirtschaft zu handeln. Und jener des westlichen Liberalismus, der sich durch strategisch agierende Planwirtschaften im Stil von „Made in China 2025“ und digitale Monopole herausgefordert sieht.
Man mag dies – den Westen als Idee – als intellektuelle Eitelkeit verschmerzen. Um auch in Zukunft zu den wichtigsten Volkswirtschaften der Welt zu gehören, braucht es aber das Bewusstsein, dass wir den Kapitalismus aktiv gestalten müssen, solange dies noch in unseren eigenen Händen liegt. Die Zeiten, in denen Kernbranchen der deutschen Industrie quasi konkurrenzlos auf dem Weltmarkt agierten, sind passé.
Man muss dafür nicht das Beispiel der „Heraufkommenden“ bemühen, wie die Hagenströms von den Buddenbrooks abschätzig genannt werden, als sie deren Überlegenheit zu spät bemerken und schließlich ihr eigenes Haus in der Lübecker Mengstraße an diese verkaufen müssen. Man weiß es im Grunde auch jetzt schon, wie der weitsichtige Thomas seiner Schwester Tony in jener Nacht unter dem Lübecker Sternenhimmel sagt, aus „Leben und Geschichte.“
Die Autorin: Nicola Leibinger-Kammüller ist promovierte Philologin und führt den Maschinenbauer Trumpf seit 2005. Sie übernahm den Chefposten damals von ihrem inzwischen verstorbenen Vater Berthold, der das Familienunternehmen ab 1978 geleitet hatte. Sie engagiert sich in verschiedenen wissenschaftlichen und kulturellen Gremien – unter anderem ist sie Vizepräsidentin des Stifterverbands für die Deutsche Wissenschaft. Seit 2020 ist sie Mitglied des Herausgeberrates der „Zeit“. Die Mutter von vier Kindern steht der CDU nahe.
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Sehr geehrte Frau Leibinger-Kammüller,
danke für die klaren, klugen, eleganten Worte - Sie vertreten sehr überzeugend den gebildeten bürgerlichen Konservativismus und Sie haben vollkommen recht mit allem was Sie sagen.
Aber was folgt nun daraus? Wie soll die Umsetzung aussehen?
Die Macht liegt bei uns immer in der Hand gewählter Wähler
Und Wähler wählen den Hanswurst/die Hanswürstin, der/die das nächste Cacanien verspricht. Verkünder*innen unbequemer Wahrheiten landen seit jeher in der Verbannung.
Wollen Sie nicht eine Partei gründen (die Klugen)? Meine Stimme hätten Sie!