Neue Mobilität China erlaubt Testlabor für autonomes Fahren

Zehn Millionen Kilometer Straßentests hat allein Baidu laut eigenen Angaben mit seinen autonom fahrenden Autos bereits absolviert.
Peking, Zhengzhou Es ist ein seltsames Gefühl. Der Mann auf dem Fahrersitz vor uns hat die Hände in seinen Schoß gelegt, und trotzdem bewegt sich das Lenkrad nach rechts, das Auto wechselt die Spur. Wir befinden uns in einem autonom fahrenden Auto des chinesischen Suchmaschinenbetreibers Baidu. Doch nicht etwa auf einem abgeschirmten Testgelände, sondern auf einer ganz normalen Straße im Pekinger Distrikt Daxing.
Plötzlich ein abruptes Bremsen – ohne dass der Mann im Fahrersitz das Pedal bedient hat. Einen Meter von uns entfernt wollte sich ein weißer Pkw von hinten an uns vorbeimogeln – mitten in unserem Spurwechsel. Der Fahrer des Autos, das uns den Weg abschneiden wollte, ist ein Verkehrsteilnehmer aus Fleisch und Blut.
Nach einer kurzen Schrecksekunde geht es ruhig weiter. Mit bis zu 60 Stundenkilometern brausen wir an Lkws, Bussen und anderen Pkws vorbei, wechseln Spuren, überqueren Ampelkreuzungen, alles gesteuert von einem Algorithmus.
Seit Oktober testet Baidu seine autonom fahrenden Autos in Peking. Derzeit noch mit einem Fahrer hinter dem Lenkrad, der eingreifen kann, falls etwas nicht funktioniert. Jeder kann kostenlos mitfahren.
Der Prozess ist einfach: Über die Baidu-Straßenkarte klickt man auf die Funktion „selbst fahrend“ und wählt einen der möglichen Haltepunkte des Autos. Dann registriert man sich. Der Service funktioniert derzeit nur mit einem chinesischen Pass und zwischen 10 und 16 Uhr – außerhalb der Rushhour in der rund 20 Millionen Einwohner großen Stadt.
Peking sieht Chance für Chinas Unternehmen bei autonomem Fahren
Neben Baidu testen noch viele weitere Unternehmen derzeit ihre selbstfahrenden Fahrzeuge in ganz China unter realen Bedingungen, etwa das von Toyota unterstützte Pony.ai oder das von Alibaba unterstützte Unternehmen AutoX. Zahlreiche Firmen investieren zudem in die Technologie, wie etwa der IT-Riese Huawei.
Chinas Unternehmen konnten den Rückstand zu amerikanischen und europäischen Autobauern beim Verbrennungsmotor nie aufholen. Doch bei Elektroautos und autonom fahrenden Systemen sieht die chinesische Staatsführung eine Chance für heimische Firmen – und vergibt großzügig Genehmigungen für Experimente mit den neuen Technologien.
„Es hat eine sehr hohe Priorität für das Land, und die chinesische Regierung hat es einfacher gemacht, autonome Fahrzeuge auf öffentlichen Straßen, in mehr Städten und mit weniger Kontrollen zu testen“, sagt Norbert Meyring, Partner bei KPMG China.
In einem Report bezeichnet die Unternehmensberatung Peking als eine der wichtigsten fünf Städte der Welt, wenn es um die Entwicklung von autonomem Fahren geht. Weitere Städte, die darin hervorgehoben werden, sind die US-Metropolen Detroit und Pittsburgh sowie Helsinki und Seoul.
China ist ein riesiges Testlabor für autonom fahrende Fahrzeuge: Nicht nur in Peking, sondern auch in Shenzhen, Schanghai und Zhengzhou probieren Unternehmen ihre selbstfahrenden Gefährte unter realen Bedingungen aus.
Erst machen lassen, dann regulieren: Ähnlich war die chinesische Regierung schon bei Fintechs, E-Commerce oder Messengerdiensten in der zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt vorgegangen. Durch die geringe Regulierung in den Anfangsjahren – verbunden mit teilweisem Ausschluss von internationalen Konkurrenten – konnten Internetriesen wie der Zahlungs-App-Anbieter Ant, Messenger-Gigant Tencent („WeChat“) oder der Onlinehandelsriese Alibaba erst so groß werden, wie sie heute sind. Erst jetzt wird die Regulierung strikter.

Die vielen Experimente in China machen es schwer zu durchblicken, was lediglich schöner Schein ist und was wirklich innovativ.
Die Vorteile für Unternehmen wie Baidu, die in China umfassende Tests unter realen Bedingungen und bei nur wenigen Einschränkungen absolvieren können, liegen auf der Hand: Sie sammeln mit jeder Fahrt Erfahrungen – und die dazugehörigen Daten.
Zehn Millionen Kilometer Straßentests hat allein Baidu laut eigenen Angaben mit seinen autonom fahrenden Autos bereits absolviert. Während der Fahrt können die Passagiere verfolgen, was auch das Auto sieht: wie Fußgänger in Gruppen oder allein an Ampeln warten, welchen Weg das Auto nehmen will, welche anderen Fahrzeuge sich an dem Auto vorbeischieben. Das gibt ein Gefühl der Sicherheit. Hinter dem Rücksitz bläst dabei ununterbrochen ein großer Server – die großen Datenmengen, die die Kameras und Sensoren aus dem Auto liefern, zu verarbeiten, kostet viel Energie. In den 18 Minuten, in denen wir mit dem Auto fahren, greift der Sicherheitsbegleiter nicht einmal ins Lenkrad oder bremst.
Ab Mai will Baidu im Pekinger Shougang Industriepark sogar ganz auf eine Person auf dem Fahrersitz verzichten, wie das Unternehmen am Donnerstag ankündigte. Laut Medienberichten soll aber immer noch auf dem Beifahrersitz ein Sicherheitsbegleiter sitzen. Der Service soll dann auch etwas kosten.
Gefahr für unfreiwillige Versuchsteilnehmer
Doch was auf der einen Seite den Unternehmen bei der Entwicklung von neuen Technologien hilft, kann für die unfreiwilligen Testteilnehmer schwerwiegende Folgen haben. So führte ein Fehler in der Software dazu, dass 2018 eine Fußgängerin von einem autonomen Testfahrzeug des US-Fahrdienstleisters Uber getötet wurde. Google-Unternehmen Waymo gab Ende 2020 zu, dass seine selbstfahrenden Autos seit 2019 in 18 Unfälle verwickelt waren.
Eins ist klar: Die Einzigen, die an Experimenten wie dem von Baidu in Peking-Daxing freiwillig teilnehmen, sind die Passagiere des selbstfahrenden Taxis und der Sicherheitsbegleiter. Die anderen Verkehrsteilnehmer nehmen unfreiwillig an dem Test teil – sie sind nur zufällig in dem Stadtteil oder arbeiten in der Gegend. Ein Problem, was auf viele Versuche mit neuen Technologien in der Volksrepublik zutrifft.
Die vielen Experimente in China machen es auch schwer zu durchblicken, was lediglich schöner Schein ist und was wirklich innovativ. So wie in Zhengzhou, einer Zehn-Millionen-Einwohner Stadt rund 700 Kilometer von Peking entfernt.
„Ich bin nicht überzeugt“, sagt ein Mann mittleren Alters, der seinen Namen nicht nennen mag, „das ist doch mehr Propaganda als reale Technologie.“ Er ist gerade aus einem autonom fahrenden Bus in Zhengzhou ausgestiegen und zeigt sich wenig beeindruckt. Das kastenartige Gefährt mit zehn Plätzen dreht seine Runde auf dem „Smart Island“ genannten Bereich.
Der Busservice der Zhengzhouer Firma Yutong ist kostenlos, im Gefährt fährt ein Sicherheitsbegleiter mit. Dieser sitzt aber nicht am Lenkrad, sondern steht an der Tür des Fahrzeugs. „Bitte anschnallen“, fordert er seine Passagiere auf. Dann geht die Fahrt los – um nach zwei Metern abrupt unterbrochen zu werden.
Vor uns ragt ein Stück von dem hinteren Teil eines Fahrzeugs in unsere Fahrbahn. Das Auto hat falsch geparkt. Obwohl die Spur links neben dem autonom fahrenden Bus frei ist, kann er nicht überholen. Der Sicherheitsbegleiter muss aussteigen und den Besitzer des geparkten Autos auffordern, es umzustellen. Erst dann kann der Bus weiterfahren.
Den Rest der insgesamt rund zehnminütigen Strecke fährt das Fahrzeug maximal 15 Stundenkilometer und bleibt auf einer eigens gekennzeichneten Fahrbahn. Mehr Passagiere steigen nicht zu.
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