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Giga-Gipfel Erst der Traum und dann...

Vorstandschefs, Internetpioniere und Zukunftsforscher bereiten auf Initiative von Handelsblatt, „Wirtschaftswoche“, „Die Zeit“ und „Tagesspiegel“ ein digitales Manifest des 21. Jahrhunderts für Deutschland und Europa vor.
12.11.2017 - 18:50 Uhr Kommentieren
50 Vordenker aus Unternehmen, Strategieberatungen und Medien entwickeln in den Alpen die neue Agenda für Deutschland. Quelle: Sebastian Muth für Handelsblatt
Giga-Gipfel

50 Vordenker aus Unternehmen, Strategieberatungen und Medien entwickeln in den Alpen die neue Agenda für Deutschland.

(Foto: Sebastian Muth für Handelsblatt)

Sölden Während in Berlin, 30 Meter über dem Meeresspiegel, die Jamaika-Koalitionäre verhandeln, treffen sich in Sölden, auf 3.048 Metern, Entscheider, Gestalter und Visionäre, um die digitale Zukunft in Deutschland und Europa zu diskutieren – und vielleicht gar neu zu schreiben. Denn die Digitalisierung bestimmt die Agenda wie kaum etwas anderes. Doch im Wahlkampf und bei der Regierungsbildung spielte das Thema eine bescheidene Rolle. Dabei sind Weitsicht und Überblick bei den komplexen Herausforderungen für Wirtschaft, Politik und Gesellschaft gefragt.

Deutschlands Leitmedien, „Die Zeit“, „Tagesspiegel“, „Wirtschaftswoche“ und Handelsblatt, trieben das Sujet daher in dem alpinen Ferienort in Tirol quasi auf die Spitze. „Wir wollen als Bewegung eine digitale Agenda schreiben, damit sich Deutschland bei der Digitalisierung an die Spitze setzt“, sagte Handelsblatt-Herausgeber Gabor Steingart. „Kopiere nicht! Suche deinen eigenen oder europäischen Weg!“, formulierte Steingart als Regel, um die digitale Zukunft zu meistern. Nachbauen, was das Silicon Valley vormache, sei „der falsche Weg“.

Der legendäre Ice Q – bekannt aus dem letzten James-Bond-Film – mit seinem imposanten Panorama von Österreich bis nach Deutschland und Italien war der Austragungsort für den in jeder Hinsicht aussichtsreichen Giga-Gipfel. Das Ziel der versammelten 50 Visionäre, darunter Vodafone-Chef Hannes Ametsreiter, Siemens-Personalvorstand Janina Kugel, VW-Digitalchef Johann Jungwirth, Kuka-Chef Till Reuter und Daimler-Zukunftsforscher Alexander Mankowsky: ein digitales Manifest, das die Zukunft mitschreibt.

Unter den Teilnehmern waren auch die Microsoft-Managerin Magdalena Rogl, Christophe Hocquet, Mitgesellschafter und Chef von  Brille 24, der das stationäre Geschäft von Fielmann angreift, Alexander Schütz, Aufsichtsrat der Deutschen Bank und Gründer von C-Quadrat, Twitter-Deutschland-Chef Thomas de Buhr sowie der Digital-Vordenker der Lufthansa, Torsten Wingenter.

Der Befund zum digitalen Standort Deutschland fällt dabei besorgniserregend aus:

  • In Ländern wie Indien gibt es ein Ministerium für Elektronik und Informationstechnologien und in Kanada ein Innovationsministerium. In Deutschland hingegen gönnt sich die Regierung nicht einmal einen Digital-Beauftragten im Kanzleramt.
  • In der Liste der attraktivsten Standorte für Start-up-Unternehmer liegt Berlin nur auf dem bescheidenen Platz sieben. Die deutsche Hauptstadt rangiert abgeschlagen hinter dem Silicon Valley, New York, London, Peking oder Tel Aviv.
  • China und Russland haben die besten Softwareentwickler der Welt. Danach folgen Polen, Schweiz, Ungarn, Japan, Frankreich und Italien, wie eine Untersuchung von HackerRank belegt. Deutschland landet nur auf Platz 14 – hinter der Ukraine und Bulgarien.
  • In Deutschland sind noch immer wie im 19. Jahrhundert Tafel und Kreide beliebte Lehrinstrumente in der Schule. In Ländern wie Australien, Norwegen und Liechtenstein benutzten die Schüler bereits vor fünf Jahren zu über 90 Prozent einen Computer in der Schule. Selbst Jordanien brachte es auf 80 Prozent. In Deutschland waren es damals nur 69 Prozent.

Das Mantra des Giga-Gipfels gab Hannes Ametsreiter aus. Der Vorstandschef von Vodafone fordert statt frustrierender Pilgerfahrten zu Google und Apple ins Silicon Valley, sich endlich auf die Stärken der Industrie in Deutschland zu besinnen und sie in die digitale Zukunft zu überführen. „Gehe deinen eigenen Weg. Baue auf deine Stärken in Europa“, fordert Ametsreiter.

Nach Meinung des früheren Chefs der Telekom Austria lässt sich das Ziel nicht ohne kreative Zerstörung und eine klare Zukunftsvision erreichen, bei der der Mensch im Mittelpunkt steht. „Innovation, Disruption, Destruktion sind seit Schumpeter nicht neu“, so Ametsreiter. Diese Position unterstützt auch Johann Jungwirth, Chief Digital Officer der Volkswagen AG. Der Vordenker fordert: „Wir müssen unsere Stärken mit den Stärken von Silicon Valley, China und Israel verbinden.“ Die Zukunft sei, die richtigen Partner in einer vernetzten Welt zu finden und Ökosysteme zu schaffen.

Mut zum Experiment

Zur Einstimmung und um sich noch engmaschiger zu vernetzen, trafen sich die Teilnehmer am Vortag zu einem Tiroler Bergabend in Sölden. Dort tauschten sich die Gipfel-Stürmer aus und setzten die ersten Themen. Alissia Iljaitsch, Gründerin der Agentur IQ Gemini und Expertin für digitale Innovation, stimmte die Teilnehmer mit ihrer Analyse der Stellung des Menschen in Organisationen unter dem Einfluss disruptiver Technologien wie etwa künstlicher Intelligenz und virtueller Realität auf die Diskussionen am nächsten Tag ein.

Iljaitsch hilft Organisationen, bessere Fragen zum Thema Technologie zu stellen. Sie plädiert dafür, mit Mut zum Experiment den digitalen Spielplatz zu betreten, wobei Rückzugsmöglichkeiten vorhanden sein müssen. „Ein guter Spielplatz ist so gebaut, dass er auch einen sicheren Ort besitzt“, sagte die Strategin.

Voraussetzung für den digitalen Umbau, auch das wurde klar, ist geistige Beweglichkeit. Intellektuelle Flexibilität kann trainiert werden, das erfuhren die Mitglieder des Giga-Gipfels gleich zum Auftakt. Miriam Meckel, Herausgeberin der „Wirtschaftswoche“, und Léa Steinacker, Chief Digital Officer der „Wirtschaftswoche“, luden die Giga-Gipfel-Teilnehmer als intellektuelles Warm-up zum Gehirnjogging ein. Die Teilnehmer sollten sich an der Gestaltung leerer Kreise austoben. Die Ergebnisse fielen höchst unterschiedlich aus.

„Wir haben in der Regel die Angewohnheit, innerhalb des Kreises zu denken“, sagte Steinacker. „Lasst uns außerhalb von Kreisen denken.“ Eben denken ohne vorgegebene Grenzen. „Sei offen, trau dir das Gegenteil von dem zu, was du derzeit denkst. Habe den Mut, auch zu zerstören“, heißt eine der Regeln, die in das digitale Manifest von Sölden aufgenommen werden sollen.

Der Wettbewerb mit dem Silicon Valley kann aber nur gelingen, wenn der Highway für den digitalen Transport ohne Schlaglöcher und Geschwindigkeitsbegrenzungen auskommt. Doch genau hier liegt in Deutschland noch vieles im Argen. „Man mutet dem Bürger eine digitale Infrastruktur zu, die nicht ,state of the art‘ ist“, kritisiert Ametsreiter, der seit 2015 den deutschen Vodafone-Ableger anführt. Fördergelder würden immer noch viel zu stark ins Kupferkabel fließen. Nur acht Prozent aller Haushalte hätten in Deutschland bislang einen durchgehenden Glasfaser-Anschluss. Damit kommt Deutschland laut Vodafone auf den vorletzten Platz in Europa.

Auch wenn die politischen Parteien den schnellen Netzausbau predigen – bislang sei viel zu wenig passiert. Ametsreiter forderte, sich klare Ziele zu setzen. Er verlangt, 80 Prozent aller Haushalte in Deutschland bis zum Jahr 2023 mit einem Giga-Bit als Mindest-Datenvolumen pro Sekunde auszurüsten. Die staatliche Förderung solle künftig ausschließlich in Glasfaser gehen. Gabor Steingart verlangte ebenfalls eine „klare Marschroute“ für die Politik: „Schnelles Internet ist ein Grundrecht des Bürgers“, sagte der Handelsblatt-Herausgeber. Als künftige Regel für die Agenda von Sölden formuliert er: „Staatliche Förderung muss digitale Zukunft sichern.“

Verhältnis Mensch und Maschine

Zur digitalen Zukunft gehört auch das neue Verhältnis zwischen Mensch und Maschine. „Human first“, formulierte Johann Jungwirth, Chief Digital Officer der Volkswagen AG, als Regel. Der Individualverkehr werde sich mit künstlicher Intelligenz grundlegend zum Vorteil der Menschheit verändern.

Autonomes Fahren führe nicht nur zu mehr Sicherheit und weniger Verkehrstoten, sondern verringere auch die Flächen, die in den Städten beispielsweise für Parkplätze notwendig sind. Selbstfahrende Autos werden dann in Parkhochhäusern außerhalb der Zentren geparkt. Auf den frei werdenden Flächen können Parks, Spielplätze oder Museen gebaut werden. Zudem können sich behinderte oder kranke Menschen in selbstfahrenden Autos bewegen wie niemals zuvor. „Ich bin zutiefst überzeugt, dass die Automobilindustrie die Branche ist, wo man derzeit sein sollte“, sagt Jungwirth mit großem Optimismus. Er erwartet, dass bereits 2019/2020 in den USA selbstfahrende Autos in größeren Stil auf den Straßen zu finden sind. „In 2020 und 2021 können wir die ersten selbstfahrenden Autos nach Europa bringen“, kündigte Jungwirth an.

Die Digitalisierung verändert nicht nur die Wirtschaft, sondern auch die Politik. Der Kampagnen- und Strategieberater Julius van de Laar gibt im Gespräch mit Christoph Amend, Chef des „Zeit-Magazins“, einen Einblick. Er half 2012 US-Präsident Barack Obama, die Präsidentschaftswahl mit Hilfe von Facebook zu gewinnen. „Wir wussten, dass mit einer 80-prozentigen Wahrscheinlichkeit ein Toyota-Prius-Fahrer Obama wählt. Das Problem war nur, dass es nicht so viele Prius-Fahrer gab“, sagt der Experte. Van de Laar fordert statt konkreter Pläne eine Vision für die digitale Zukunft. Schließlich habe Martin Luther King gesagt: „I have a dream.“ Er habe aber nicht gesagt: „I have a plan.“ Van de Laar ergänzte: „Die Amerikaner fangen nicht mit Plan an. Sie sagen zuerst, wo sie hinwollen.“

Die digitale Transformation kann nur gelingen, wenn die Menschen zum Wandel beruflich und privat bereit sind. Zum Faktor Mensch diskutierte Miriam Meckel, Herausgeberin der „Wirtschaftswoche“, mit Janina Kugel, Chief Human Resources Officer und Vorstand der Siemens AG. Zum digitalen Umbau im eigenen Unternehmen sagte die Personalmanagerin: „Es gibt extrem viele Town Hall Meetings. Dennoch müssen wir eine hohe Barriere überwinden. Viele Mitarbeiter haben Ängste. Wir können noch keine richtige Antwort geben, was in fünf oder zehn Jahre sein wird.“

Kugel plädierte für mehr Zuversicht, um die Zukunft zu gewinnen, ohne die Angst vor Überforderung und vor Arbeitsplatzverlust zu übersehen. Auch Manager müssen dazulernen, auch zu bekennen, dass sie nicht immer wissen, wie es geht. „Ich kenne eine ganze Menge Leute, die glauben, sie wüssten alles“, merkt Kugel ironisch an. Es gehe darum, verstärkt Ideen auszuprobieren und Mitarbeiter zu motivieren.

Einer, der Ideen seit Jahren ausprobiert und umsetzt, ist der Roboterbauer Kuka. CEO Till Reuter gab einen optimistischen Ausblick: „Wir glauben, dass die Technik die Antwort auf viele gesellschaftliche Herausforderungen ist.“ Das Thema Robotik wachse in immer neue Bereiche, beispielsweise in den Gesundheits- und Medizinbereich. Automatisierte Aufstehhilfen könnten dafür sorgen, dass alte oder kranke Menschen zwei Jahre länger zu Hause leben können.

Grundrecht auf digitale Versorgung

Schon heute arbeitet Kuka nur noch zur Hälfte für die Autoindustrie. Vor einer Welt, die sich bei der digitalen Transformation ökonomisch stärker vernetzt, ist dem Kuka-Chef nicht bange. Im Gegenteil: „Globalisierung schafft Wohlstand. Die deutsche Wirtschaft tut gut daran, offen zu sein“, sagt Reuter, der 2009 den Chefsessel übernahm. Der mit 4,6 Milliarden Euro bewertete Konzern ist 2016 vom chinesischen Konzern Midea gekauft worden.

Der Manager machte auf dem Gipfel in Sölden Mut. „Wir als Menschen müssen entscheiden, wie weit wir gehen wollen“, sagt der frühere Investmentbanker Reuter. „Wir haben immer den Ausschaltknopf.“ Entgegen der ursprünglichen Planung wurde am Ende des Giga-Gipfels, der von Aline von Drateln ideenreich und empathisch moderiert wurde, noch kein endgültiges Manifest formuliert und verabschiedet. Vielmehr soll eine Agenda entstehen, die auch unter Einbeziehung der Leser fortgeschrieben wird.

Auf erste Thesen hat sich die digitale Bewegung im Söldener Ice Q bereits verständigt: Es braucht ein kollektives Grundrecht auf digitale Versorgung. Dazu gehören der schnelle Ausbau des Glasfaser-Netzes, die Förderung von Start-ups durch Venture-Capital und digitale Bildung von Beginn an. Im Bereich Politik unterstreicht die Agenda von Sölden die Notwendigkeit eines visionären Narrativs, wozu unter anderem eine Big-Data-getriebene Empathie und ein auf den Menschen ausgerichtetes Design gehören. Die Erklärung hebt außerdem die Bedeutung der Kooperation zwischen Mensch und lernender Maschine sowie die Notwendigkeit eines neuen, industriellen Ökosystems an Partnerschaften hervor. Weitere wichtige Eckpunkte der Agenda sind die Unterstützung überforderter Mitarbeiter, neue Jobdefinitionen, Experimentierfreudigkeit und die Forderung nach digitaler Teilhabe.

Mit kooperativer Kreativität soll die Diskussion in den nächsten Tagen digital weitergeführt werden. Auch die Leser des Handelsblatts sind aufgefordert, ihre Ideen, Anregungen und Forderungen zu senden. In rund einer Woche soll dann die fertige Digitale Agenda vorgestellt werden.

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