Sechs Meinungen zur Digitalisierung Revolution oder Hype?

Neue Dynamik durch die Digitalisierung? Bislang herrscht Ernüchterung.
Die Revolution fällt aus
Seit 2005 gibt es kaum noch Produktivitätsfortschritte in der Wirtschaft. Es fehlt an echten, volkswirtschaftlich relevanten Innovationen. Von Robert J. Gordon
Wer die digitale Revolution verstehen will, der muss sich vier Wachstumsphasen der USA genauer anschauen. Auf ein schnelles Wachstum in den 1950er- und 1960er-Jahren folgte ein Abschwung in den 1970ern und 1980ern. Zwischen 1997 und 2006 erlebten wir eine steile, aber zeitlich begrenzte Wiederbelebung. Die letzten zehn Jahre zeigten dann eine Wachstumsrate von kaum 0,5 Prozent pro Jahr. Was bewirkte den temporären Produktivitätsboom in den Spätneunzigern und dessen schnelles Ende?
Nachdem der Großteil der Wirtschaft bereits von Internet und Webrevolution profitiert hatte, veränderten sich die Produktionsmethoden in der vergangenen Dekade kaum noch. Bis spätestens 2005 waren die papierabhängigen Prozesse der Digitalisierung gewichen, und überall fanden sich auf einmal Flachbildschirme. Die alltäglichen Revolutionen, die durch E-Commerce und Suchmaschinen möglich wurden, waren fest etabliert. Die spannende Frage lautet: Werden künftige Innovationen ausreichend stark sein, um die kurze Phase des Produktivitätsanstiegs der späten Neunziger zu wiederholen?

US-Ökonom Robert J. Gordon gilt weltweit als führender Experte auf dem Gebiet der Produktivitätsforschung. Er schrieb den Bestseller „The Rise and Fall of American Growth“.
Durch die digitale Revolution zwischen 1970 und 2000 hat sich die Arbeitsweise in Büros tatsächlich stark verändert. 1970 war der elektronische Taschenrechner erfunden worden. Damals benötigten Büros Unmengen von Mitarbeitern – allein schon, um die Tastaturen der elektrischen Schreibmaschinen zu bedienen, die keine Möglichkeit hatten, Inhalte von irgendwo anders auf der Welt herunterzuladen. Speicherschreibmaschinen kamen gerade erst auf. 1970 war wiederholtes Abtippen normal.
Gerade einmal 30 Jahre später war jedes Büro mit Netzwerk-Computern ausgestattet. Diese beherrschten nicht nur die Textverarbeitung, sondern konnten auch eine Vielfalt von Inhalten herunterladen und rechneten in atemberaubender Geschwindigkeit. 2005 wurde die Transformation zu modernen Büros mit der Einführung von Flachbildschirmen abgeschlossen. Dann hörte der Fortschritt auf. Die Standardausstattung, die im Büro heute weltweit verwendet wird, sowie die Produktivität der Mitarbeiter haben sich seit zehn Jahren nicht groß verändert.
Ähnlich sieht es im Handel aus. In den 80er- und 90er-Jahren verbreiteten sich Mega-Supermärkte wie Wal-Mart, Kassen wurden auf Barcode-Scanner umgestellt. Beim Bezahlen wichen Bargeld und Schecks Kredit- und Debitkarten, deren Autorisierung nur noch wenige Sekunden dauert. Die großen Einzelhändler revolutionierten auch die Lieferketten, das Lagermanagement, die Preisgestaltung und die Produktauswahl. Diese Phase der Produktivitätsverbesserung ist jedoch nahezu abgeschlossen. E-Commerce steigert zwar die Produktivität. Dieser machte jedoch bis 2014 nur ungefähr sechs Prozent des Gesamteinzelhandels aus.
Stillstand auch im Finanz- und Bankensektor: Die IT-Revolution hat den Sektor maßgeblich verändert, angefangen vom Geldautomaten bis zum Hochfrequenzhandel an den Börsen. Beides sind jedoch Phänomene der achtziger und neunziger Jahre. Es hat sich seitdem nicht mehr viel getan, abgesehen von den Hochs und Tiefs der Aktienpreise. Und trotz der Geldautomaten unterhalten die USA nach wie vor ein System von 97 000 Bankfilialen, von denen viele die meiste Zeit leer sind.
Und bei der Unterhaltungselektronik? Fernsehen durchlief den Wandel zu Farbe zwischen 1965 und 1972, dann nahm die Programmvielfalt durch Kabelfernsehen zwischen den Siebzigern und Achtzigern stark zu. Die Bildqualität wurde durch HD- und neue Fernsehtechnologien verbessert. Die Vielfalt nahm weiter zu durch Video- und DVD-Verleih, und heute wird das Streaming immer populärer. Aber jetzt, da Smartphones und Tablets einem gesättigten Markt gegenüberstehen und die sozialen Netzwerke eine beherrschende Rolle eingenommen haben, sind die Fortschritte im Bereich Unterhaltungselektronik weniger spektakulär geworden. Die neuen Smart Watches und Virtual-Reality-Brillen wirken blass im Vergleich zu den elektronischen Möglichkeiten, welche die Verbraucher bereits genießen.
Neuere Untersuchungen haben das Wort „Dynamismus“ verwendet, um den Prozess der kreativen Zerstörung zu beschreiben, durch den Start-ups und junge Firmen die Quelle von Produktivitätsgewinnen sind. Dieser Fortschritt entsteht, wenn Start-ups neue Technologien und Methoden einführen und damit die Ressourcen weg von alten, wenig produktiven Firmen hin zu sich verlagern. Doch der Anteil von Beschäftigten bei Firmen, die jünger als fünf Jahre sind, hat in den USA um fast die Hälfte abgenommen – von 19,2 Prozent 1982 auf 10,7 Prozent 2011. Der Rückgang zog sich quer durch alle Dienstleistungsbranchen. Nach 2000 erfuhr auch der High-Tech Sektor einen großen Rückgang bei Start-ups und schnell wachsenden, jungen Unternehmen.
Neue Jobmöglichkeiten sind heute weniger zahlreich, und es ist schwieriger, eine Anstellung nach längerer Arbeitslosigkeit zu bekommen. Für Angestellte ist es schwieriger geworden, den Arbeitgeber zu wechseln, die Karriereleiter nach oben zu gelangen, die Laufbahn zu ändern oder einen Job am Wunschort zu finden. Untersuchungen haben unzählige solcher Indikatoren des abnehmenden Dynamismus der amerikanischen Gesellschaft aufgedeckt.
Robert J. Gordon – The Rise and Fall of American Growth
Princeton University Press
USA 2016
784 Seiten
Sprache: Englisch
ISBN: 0691147728
34,95 Euro
Der technische Fortschritt geht zwar weiter, aber der Einsatz von Robotern außerhalb der Produktion und in Großlagern schreitet nur schleppend voran. Künstliche Intelligenz kann inzwischen juristische Dokumente durchsuchen, Röntgenbilder interpretieren, Stimmen erkennen und Sprache übersetzen. Jedoch‧ funktionieren diese Technologien größtenteils Seite an Seite mit Menschen, ohne diese zu ersetzen. Ein Großteil der Big-Data-Analysen wiederum dient allein dem Marketing. Firmen jagen sich damit gegenseitig Kunden ab, ohne gesamtgesellschaftlichen Wohlfahrtsgewinn.
Fazit: Die digitale Revolution der achtziger und neunziger Jahre war ein Wunder. Schreibmaschinen und klobige Taschenrechner sind für immer verschwunden. Die Abnahme des Produktivitätswachstums innerhalb der letzten zehn Jahre ist jedoch keine Illusion. Millionen von Büromitarbeitern sitzen heute an ihren Bildschirmen und Laptops und arbeiten genauso wie vor zehn Jahren – und werden es auch morgen tun.
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