Architektin Regine Leibinger Weit weg und hoch hinaus

Angekommen in der ersten Liga deutscher Architekten.
New York“. Wenn Regine Leibinger über die Stadt der Wolkenkratzer spricht, dann weicht ihr geschäftiges warmes Schwäbisch mit einem Mal akzentfreiem amerikanischem Englisch. Es klingt, als sei sie dort geboren. New York, ihre Traumstadt. Dort wollte sie als junge Architektin hin, unbedingt etwas anderes sehen als Stuttgart. „Ich wollte auch aus dem Dunstkreis der Familie“, erinnert sie sich.
Die 52-jährige Tochter der schwäbischen Unternehmerikone Berthold Leibinger ist damals ausgebrochen. Ihre Schwester Nicola führt den Maschinenbauer und Laserspezialisten Trumpf gemeinsam mit Ehemann Mathias Kammüller und Bruder Peter. Nur Regine, die Mittlere der Geschwister, hat einen ganz eigenen Weg gewählt, abseits des „gmähts Wiesle“, wie man in Schwaben sagt. Sie wurde Architektin. Ob das der schwierigere Weg war, bietet noch heute Gesprächsstoff unter den Geschwistern.
Studiert hat Regine Leibinger in Berlin. Als 1989 die Mauer fiel, war sie schon in den USA – in Harvard. Nach der Zusage der Elite-Universität riet ihr die Mutter: „Nimm die bessere Uni.“ „New York hätte auch funktioniert“, glaubt Leibinger. Aber sie gab nach.
Eine glückliche Entscheidung. Bei der Einführung der Erstsemester durch die Zweitsemester lernte sie Frank Barkow kennen. Der Amerikaner aus Montana, mit einer Vorliebe für weite Landschaften und fürs Fliegenfischen, wurde ihr Mann. Nach Harvard hätten sie überall hingehen können. Aber der deutsche Bauboom nach der Wende entfaltete Anziehungskraft. Barkow musste mit in die neue Hauptstadt. Seit 23 Jahren haben sie in Berlin zusammen das Büro Barkow Leibinger und mittlerweile über 70 Mitarbeiter. Das Paar hat zwei Kinder. Als Architekten denken sie gleich, können sich bei dienstlichen Terminen problemlos gegenseitig vertreten. Die Familie wohnt städtisch in Charlottenburg in einer Altbauwohnung.
Regine Leibinger ist angekommen in der ersten Liga deutscher Architekten. In Berlin baut sie gerade das höchste Hotel Deutschlands, zugleich das höchste Gebäude Berlins. „Hochhäuser zu bauen ist immer ein Traum von Architekten“, sagt Leibinger, die seit 2006 als Professorin für Baukonstruktion und Entwerfen an der TU Berlin lehrt.

Preisgekrönte Industriebauten für die Firma der Familie.
Und manchmal bleibt es auch ein Traum. Sie hätte so gern den Turm am Alexanderplatz gebaut. Aber ihr Entwurf wurde nur Dritter hinter Frank O. Gehry und dem Architekturbüro Kleihues+Kleihues. Keine Schande, aber es wurmt sie immer noch. Das Strahlen in den großen Augen erlischt, sie geht zum Angriff über: „Schauen Sie doch mal den Gehry-Entwurf an, ist doch fürchterlich, null innovativ“, schimpft sie in dem gleichen Tonfall wie ihre Schwester, wenn die sich über die AfD oder Die Linke aufregt.
Die Leibinger-Töchter sind temperamentvoll, zielstrebig und ausdauernd, durch und durch Ästheten, aber eben nicht oberflächlich. Auch die große Schwester zollt Respekt. „Es ist ganz fantastisch, was die beiden sich in Berlin in den vergangenen Jahren aufgebaut haben. Und ich freue mich täglich an ihrer Architektur bei Trumpf“, sagte Nicola Leibinger-Kammüller.
Immerhin, Regine Leibinger wird jetzt in Berlin zu großen Wettbewerben eingeladen. Das war zu Beginn noch anders. Als das Paar sein Büro Anfang der 1990er-Jahre eröffnete, waren Wettbewerbe wie um die Neubebauung des Potsdamer Platzes gefühlte Lichtjahre entfernt. Barkow Leibinger nahmen damals alle Aufträge an, die sie kriegen konnten.
„Entwerfen ist immer Forschungsarbeit“
Erst zehn Jahre später kamen die ersten Projekte für Trumpf. Ihr Vater hatte sie um Rat gefragt. Die Ideen gefielen ihm, und er ließ die Tochter bauen. Heraus kamen am Firmensitz Ditzingen ein Schulungszentrum, eine Laserfabrik, die Kantine und eine neue Pforte für die Firmenzentrale. Alles preisgekrönte Industriebauten. „Wenn wir Mist gebaut hätten, hätte mein Vater uns nicht weitermachen lassen“, betont Leibinger. Andere Architekten beneiden sie um diesen Vorteil. Sie nutzte ihn und schuf eine eigene Marke.
Die Bauten von Barkow Leibinger zeichnet das intensive Bemühen um innovative Lösungen aus. „Spielraum, Raum für Erfindungen“, so drückt es der US-Kunsthistoriker Hal Foster, Lehrstuhlinhaber in Princeton aus. Die beiden seien beides – Bastler wie Ingenieure. „Entwerfen ist immer Forschungsarbeit“, sagt Leibinger. Und ganz kann sie dabei ihre Herkunft nicht verleugnen. Gemeinsam mit ihrem Mann tüftelt sie an Baustoffen, industrialisiert Fertigungsmethoden für komplizierte Glasfassaden eines Hochhauses in Seoul. Auch der Einsatz von Lasern zum Schneiden von Teilen für Metallfassaden wird ausprobiert. Das Büro in einem typischen Hinterhof keine 100 Meter von der Deutschen Oper entfernt, könnte genauso gut eine Tüftlerwerkstatt sein. Stünden da nicht etliche Architekturmodelle. Keramikfliesen, Holzspäne und biegsame, perforierte Metallrohre liegen herum. An der Decke hängen überdimensionierte Holzspäne.

Das Architekturbüro Barkow Leibinger baut das höchste Hotel Deutschlands.
Sie waren das Vorbild für ein aufsehenerregendes Projekt. Neben den Serpentine Galleries im Londoner Kensington Park wird jedes Jahr ein temporärer Pavillon eines Stararchitekten gebaut. In diesem Jahr kamen erstmals vier Sommerhäuser dazu. Eines davon bauten Barkow Leibinger. Ein weiterer Ritterschlag in der internationalen Architektenszene. Am 7. Juni wurde der Serpentine Pavillon and Summer Houses eröffnet.
Immer kommen Leibingers Entwürfe über das Material. Sie lässt sich davon inspirieren, wie Werkzeuge Materialien gestalten können und Formen generieren, die dann für die Architektur nutzbar sind. Die Auseinandersetzung mit dem Werkstoff Metall kennt sie seit Kindesbeinen im väterlichen Unternehmen. Die Firma geht vor, so wurde sie erzogen. Und der Firma geht es gut, wenn sie innovativ ist. Das versucht Regine Leibinger auf die Architektur zu übertragen. Es gehe nicht um Stil, sondern um eine Haltung. „Für mich muss Architektur nachvollziehbar, und sie muss angemessen sein.“ Deshalb ist ihr Schaffen so vielfältig, aber eben nicht unbedingt auf den ersten Blick wiedererkennbar wie etwa Werke der angesagten Architekten Frank O. Gehry oder Zaha Hadid. Doch wenn der 175 Meter hohe Estrel-Turm erst steht, wird auch Leibinger ein Ausrufezeichen in Berlin gesetzt haben. Der Turm muss zu dem dreiecksförmigen Hotel passen, das bereits existiert. Der gesamte Komplex setzt sich aus verbundenen Dreiecken zusammen.
Aus der Heimat Ditzingen ist Leibinger damals zwar geflohen, aber ganz fort war sie nie. Nicht nur, weil sie für Trumpf baute, dort sitzt sie auch im Aufsichtsrat. „Ich habe viel gelernt, auch was Mitarbeiterführung, Arbeitsmodelle und digitale Fertigung anbelangt“, sagt sie. Das Unternehmen bemühe sich ständig, mit guter Architektur auch die Mitarbeiter zu motivieren. Inzwischen hat sie einen Masterplan für das gesamte Areal der Ditzinger Zentrale entwickelt.
Und ein Architekturprojekt in Stuttgart? Lieber nicht, lautet ihre prompte Antwort. Womöglich hieße es dann hinterher, sie habe den Auftrag nur bekommen, weil sie eine Leibinger ist. Mag sein. Aber die triste Gegend um den neuen Hauptbahnhof könnte eine Auffrischung gut vertragen.
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