Erfolg nach neuen Management-Regeln Die verrücktesten Firmen der Welt

Nicht nur durch den Verzicht auf Hierarchien kann ein Unternehmen verrückt sein.
Düsseldorf Gary Hamel zählt zum geistigen Establishment des Kapitalimus. 1990 erdachte der Managementforscher zusammen mit seinem Kollegen C. K. Prahalad das Konzept der Kernkompetenz. Jene Idee, an der sich inzwischen fast jedes erfolgreiche Unternehmen der Welt ausrichtet, sei es bewusst oder unbewusst: In einem immer schnelleren und härteren Wettbewerb reicht es nicht mehr aus, mit seinen Produkten der Konkurrenz voraus zu sein. Vielmehr brauchen Unternehmen ein möglichst schwer zu kopierendes Set an Wissen und Fähigkeiten, mit dem sich immer wieder neue, bessere Produkte erschaffen lassen.
Auf seinem Ruf als Mister Kernkompetenz könnte sich Gary Hamel, Jahrgang 1954, für den Rest seines Lebens ausruhen. Hier ein Vortrag, da ein leichtes Beratungsmandat, und dann ist da ja auch noch der Lehrstuhl an der London Business School.
Doch stattdessen ist der Repräsentant des Establishments mit mehr als 60 Jahren zum Revolutionär geworden. Hamel hat einen neuen Kreuzzug gestartet. Diesmal geht es ihm nicht um die Kernkompetenzen der Konzerne, sondern um deren „Kerninkompetenzen“, wie er es nennt: „Unternehmen sind im Schnitt deutlich weniger anpassungsfähig, innovativ und inspirierend, als sie sein sollten und zunehmend auch sein müssten.“ Hauptschuldig an dieser Fehlentwicklung laut Hamel: das übersteigerte Bedürfnis nach Kontrolle und das Instrument, mit dem diese Kontrolle ausgeübt wird: Bürokratie.
„Die Bürokratie muss sterben“: Mit dem rhetorischen Furor eines Rotgardisten hämmerte Hamel diese Botschaft im Mai auf dem Pathfinder-Kongress des Handelsblatts in die Köpfe des versammelten Managementnachwuchses. Die „pyramidenförmige Architektur von Kommando und Kontrolle“ passe nicht länger zu Unternehmen in sich rasch wandelnden Märkten. Eine formale Hierarchie bremse neue Ideen aus, vor allem weil all jene, die es in der Hierarchie nach oben geschafft haben, nur noch wenig interessiert sind an Veränderung.

Ein klassische Unternehmenshierarchie – von oben nach unten – funktioniert immer seltener.
Bürokratische Organisationen in Pyramidenform sind mindestens so alt wie die ägyptischen Pyramiden selbst. Anweisungen werden nach unten weitergegeben und dort ausgeführt, die Umsetzung wird von der darüberliegenden Ebene kontrolliert. Wohlverhalten wird mit Aufstieg belohnt. Ganz oben an der Spitze steht ein Pharao, Generalfeldmarschall oder CEO, der die Strategie vorgibt.
Kann es überhaupt anders sein? Ja, sagt Gary Hamel. Seine neuen Helden heißen Gore und Morning Star. Im Chemiekonzern Gore („Goretex“) soll Bürokratie vermieden werden, indem das Unternehmen aus einer Vielzahl von Zellen besteht, die weitgehend autonom agieren. Beim Agrarunternehmen Morning Star wird die Hierarchie ersetzt durch ein komplexes System von basisdemokratischen Abmachungen zwischen einzelnen Teams.
Verrückt im besten Sinne
Gore und Morning Star sind im wahren Sinne des Wortes ver-rückte Unternehmen. Sie haben den Mut bewiesen, sich von angeblichen Management-Gesetzmäßigkeiten abzusetzen. Inzwischen gibt es Nachahmer, auch in Deutschland: Jungfalk Allsafe, ein Mittelständler aus Baden-Württemberg, stellt Ladesicherungssysteme für Lkws und Flugzeuge her, ganz bodenständige Zurrgurte etwa. Auch in diesem Unternehmen entscheiden die Mitarbeiter weitgehend selbst, wie sie Produktion und Vertrieb organisieren.
Nicht nur durch den Verzicht auf Hierarchien kann ein Unternehmen verrückt sein. Sondern auch, indem es sich einer scheinbar zwangsläufigen Branchenlogik verweigert und sein Geschäftsmodell statt an betriebswirtschaftlichen in erster Linie an ethischen Kriterien ausrichtet – so wie die Gemeinschaftsbank für Leihen und Schenken in Bochum. Die verlässt sich in ihrer Organisationsform auf das deutsche Genossenschaftsmodell, eines der ältesten und bewährtesten Konzepte für demokratisches Wirtschaften.
Google wiederum, mittlerweile in Alphabet umgetauft, ist vielleicht die Mutter aller verrückten Unternehmen: Ein großer Teil der Erträge wird weder ausgeschüttet noch ins Kerngeschäft reinvestiert, sondern fließt in sogenannte Moonshot Projects: in Ideen mit gewaltigem Kapitalbedarf und geringen Erfolgsaussichten – aber tendenziell eben auch riesigen Marktchancen. Daneben ist Google Vorreiter wenn nicht bei der Abschaffung, so doch bei der Abflachung von Hierarchien: Mittelmanager haben sich bei Google vor allem als Möglichmacher zu verstehen. Sie sollen all jenen, die die eigentliche Arbeit erledigen, den Rücken freihalten.
Für Linus Dahlander, Professor an der European School of Management and Technology (ESMT) in Berlin, folgen all diese Unternehmen einem simplen betriebswirtschaftlichen Kalkül: „Wer die Menschen so arbeiten lässt, wie sie es selbst möchten, erhöht ihr Engagement und damit ihre Produktivität.“ Umfragen wie der Gallup Engagement Index zeigen den gewaltigen Produktivitätsvorsprung von Teams, in denen sich die Mitarbeiter emotional stark mit ihrem Unternehmen identifizieren. Diese Umfragen zeigen aber auch: Den meisten Angestellten ist ihr Arbeitgeber herzlich egal.
Der nächste Wachstumsschub
Wenn es gelingt, das zu ändern, könnten Unternehmen einen wahren Produktivitätsschub erleben – und so den Industriestaaten das sehnsüchtig erwartete Wachstum bescheren. Gary Hamel geht sogar so weit, im Ende der Bürokratie jene grundlegende Reform des Kapitalismus zu sehen, nach der Organisationen wie Occupy seit der Finanzkrise lautstark rufen.
Paradoxerweise liefert dabei ausgerechnet die kapitalismuskritische Graswurzelbewegung eine Blaupause für den Kapitalismus der Zukunft: „Soziale Organisationen wie Occupy“, so Managementexperte Dahlander, „sind sehr dezentral und hierarchiefrei. Trotzdem verfolgen sie ein gemeinsames Ziel.“
Anders als Hamel ist Dahlander jedoch skeptisch, ob sich wirklich alle Unternehmen nach diesem Vorbild umbauen lassen. „Es hängt viel an Pfadabhängigkeiten“, sagt er: Unternehmen, die von Anfang an Mitarbeiter mit hoher Eigenverantwortung rekrutiert hätten, könnten auch auf viele Kontrollmechanismen verzichten. „In einem auf Befehl und Gehorsam gedrillten Konzern einfach alle Vorgaben und Kontrollen zu entfernen würde hingegen in der Katastrophe enden.“
Dahlander empfiehlt Unternehmen, mit den Verrücktheiten zunächst außerhalb der gewachsenen Organisation zu beginnen, in einem Inkubator für Innovationsprojekte oder einer neu gegründeten Tochtergesellschaft.
Hierarchiefreies Arbeiten verheißt dabei keineswegs jenes Arbeitnehmerparadies, als das es unterjochte Konzernheloten beim ersten Lesen empfinden mögen. Wer selbst entscheidet, muss auch die Verantwortung für sein mögliches Scheitern selbst tragen, muss seinen Wert für das Unternehmen fortwährend neu unter Beweis stellen. Bei der Unternehmensberatung V+S in Hannover können neue Mitarbeiter ihr Gehalt selbst bestimmen. Doch zugleich ist das Einkommen für alle Mitarbeiter transparent. Wer sich hoch einstuft, steht auch unter dem Druck der Kollegen, Großes zu leisten.
Am Ende steht womöglich ein Modell wie das des Taxi-Vermittlers Uber: Das eigentliche Kerngeschäft wird hierarchiefrei von selbstständigen Fahrern erledigt. Doch Chauffeure, die in den Kundenrankings nicht ganz oben landen, bekommen kaum Aufträge.
Dennoch: Unternehmen, die auch in Zukunft schneller wachsen wollen als der Markt, müssen raus aus der klassischen Pyramide. Das zeigt das Beispiel eines Konzerns, der über viele Jahrzehnte in ganz anderer Weise verrückt war: Walmart, das vielleicht hierarchischste Unternehmen der Welt. Solange es darum ging, die USA mit einem Supercenter nach dem anderen zuzubauen, war die militärisch straffe Organisation des Handelsriesen hilfreich. Unten wurde exekutiert und keine Zeit mit Fragen verdaddelt.
Doch dieses System stößt an seine Grenzen. Starre Unternehmen sind verloren in einer Welt, in der Anpassungsfähigkeit zur wichtigsten Kernkompetenz geworden ist. Christian Rickens
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