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Ethik und Markt Wie viel Moral braucht die Wirtschaft?

Der Kapitalismus ist das einzige Gesellschaftsmodell, das Wohlstand schafft. Doch die jüngsten Affären zeigen: Gesetzliche Regelungen allein reichen nicht. Die Marktwirtschaft ist vom ethischen Verhalten seiner Eliten abhängig.
29.04.2016 - 09:57 Uhr
Viele Manger in Führungspositionen verhalten sich unethisch. Quelle: Getty Images
Markt ohne Moral?

Viele Manger in Führungspositionen verhalten sich unethisch.

(Foto: Getty Images)

Düsseldorf Müde sieht Matthias Müller aus an jenem 10. Januar. Dem Tag, als er am Vorabend der alljährlichen Automesse in Detroit mit seiner Entourage das Lokal „Fishbone‘s“ betritt.

Es ist der erste Auftritt des neuen VW-Chefs in den USA seit Ausbruch von Dieselgate. Allein in den USA hatte der Konzern 580 000 VW, Audi und Porsche mit manipulierten Abgaswerten verkauft. Die Amerikaner fühlen sich betrogen.
In wackeligem Englisch verliest der 62-Jährige ein Statement vom Blatt, meidet den Blick ins Publikum. Ja, das Wort „sorry“ kommt vor, aber Müller wirkt irgendwie emotionslos, unbeteiligt.

Kurz nach seinem Vortrag umringen die Reporter den Chef des größten europäischen Industrieunternehmens. Auf die Frage, warum VW die US-Behörden angelogen habe, erwidert ein sichtlich irritierter Müller: „Wir haben nicht gelogen.“ Der Einsatz von Schummelsoftware sei ein technisches Problem, kein ethisches.

Die Amerikaner erwarteten Demut, sie bekamen eine Belehrung. Sie erwarteten ein Eingeständnis, und sie bekamen eine Demonstration der Selbstgewissheit.

Und es sollte noch schlimmer kommen. Drei Monate später spielte sich in der Wolfsburger Führungsetage ein Schauspiel ab, das dem Ruf des Konzerns einen weiteren irreparablen Schaden zufügte.

Obwohl schon absehbar war, dass VW wegen der Rückstellungen für den Dieselskandal den größten Jahresverlust der Unternehmensgeschichte vorlegen würde, leisteten sich Aufsichtsräte und Vorstände wochenlang eine ebenso hitzige wie quälende Debatte über die vollständige Auszahlung der Boni. Erfolgsprämien also, die auf Jahresgewinnen beruhen, die zumindest zum Teil mit betrügerischen Methoden erwirtschaftet wurden.

„Wir haben nicht gelogen.“ Quelle: Reuters
VW-Chef Matthias Müller

„Wir haben nicht gelogen.“

(Foto: Reuters)

Dass die Vorstände wegen der Welle der Empörung dann doch ein versöhnliches Signal sendeten, macht die Sache kaum besser. Denn der freiwillige Verzicht der Vorstände ist nichts als ein hinter einem komplexen Konstrukt getarnter Aufschub. „Das ist das Gegenteil eines positiven Signals“, urteilt Christoph Lütge, Wirtschaftsethiker der TU München.

Jedem außerhalb Wolfsburgs ist inzwischen klar: Auch sieben Monate nach Ausbruch der Dieselaffäre hat das VW-Topmanagement die Signale nicht gehört. Die Konzernführung hat offensichtlich ein Problem mit der Moral.

Die Causa Volkswagen deutet auf ein grundsätzliches Problem des Kapitalismus: Er hat der Welt mehr Wohlstand beschert, als es je ein anderes Wirtschaftssystem vermocht hätte. Mehr als eine Milliarde Menschen konnten nicht zuletzt dank des Kapitalismus seit der Jahrtausendwende der Armut entfliehen. Doch zugleich basiert die Akzeptanz des marktwirtschaftlichen Systems darauf, dass sich seine führenden Protagonisten an Spielregeln halten. Diese Regeln lassen sich nur zum Teil in Form von Gesetzen oder Verträgen niederschreiben.

Zum weit überwiegenden Teil bestehen diese Spielregeln aus einem informellen Verständnis darüber, was „in Ordnung“ ist und was nicht. Dabei ist entscheidend, dass diese Übereinkunft nicht nur innerhalb der Wirtschaftselite besteht, sondern auch innerhalb der Gesamtgesellschaft.

Was ist in Ordnung und was nicht?

Und genau an dieser Schnittstelle ist etwas verrutscht. Millionenboni trotz Dieselaffäre erscheinen im Verständnis der Wolfsburger Topmanager offenbar legitim, schließlich gibt es Verträge. Der Rest der Republik ist empört. Diese klaffenden Unterschiede in den Wertorientierungen sind nicht nur auf Volkswagen begrenzt. Sie zeigen sich an zahlreichen Stellen in unserem Wirtschaftssystem und untergraben bei immer mehr Bürgern die Akzeptanz der Marktwirtschaft. „Zwar kommt die Kapitalismuskritik in Schüben immer mal wieder, doch seit der Finanzkrise und mit den jüngsten Affären hat die Skepsis gegenüber der Marktwirtschaft bedenkliche Züge angenommen“, warnt der ehemalige Chef des Ifo Instituts, Hans-Werner Sinn. Moralregeln seien als Ergänzungen zu gesetzlichen Reglungen oder Verordnungen unerlässlich für das Funktionieren einer Volkswirtschaft.

Oder diese Volkswirtschaft hört eben allmählich auf zu funktionieren. Die Entwicklungen der vergangenen Jahre jedenfalls sind alarmierend.

Müllers Kollegen bei Daimler, Opel, Mitsubishi, Fiat gingen zwar nicht so systematisch und betrügerisch vor wie Volkswagen, aber auch sie täuschten Behörden und Verbraucher bei Abgaswerten, dehnten Verordnungen und Gesetze.
Drogeriekönig Anton Schlecker zerstörte mit seiner spektakulären Pleite die Existenzgrundlage Tausender von Mitarbeitern, soll aber zuvor Millionen auf die Seite geschafft haben.

Thyssen-Krupp traf mit seinen Mitwettbewerbern unter dem Decknamen „Schienenfreunde“ illegale Preisabsprachen, um die Deutsche Bahn mit überhöhten Preisen über den Tisch zu ziehen.

Manager der Deutschen Bank manipulierten den Libor, den weltweit wichtigsten Referenzwert für die Anleihemärkte. Siemens-Manager führten jahrelang schwarze Kassen für Schmiergeldzahlungen in Millionenhöhe, um sich lukrative Aufträge im Ausland zu sichern.

Die Liste ließe sich fast beliebig fortführen. Den jüngsten Beleg für das negative Ethikkapital in vielen Führungsetagen liefert die Veröffentlichung der „Panama Papers“, die ein globales Geflecht von Schattenfirmen unzähliger, vor allem ausländischer Wirtschaftsführer und Politiker offenlegten. Die Motivation, Briefkastenfirmen zu gründen, mag unterschiedlich sein. Dass es in der Mehrheit der Fälle darum geht, Vermögen vor dem Fiskus zu verstecken, daran zweifelt kaum ein Experte.

Neben den Steuerhinterziehern gibt es die Steuervermeider, die geschickt Gesetzeslücken nutzen, um den Beitrag des Unternehmens zum Gemeinwohl möglichst gering zu halten. So stehen Großkonzerne wie Apple, Ikea und Amazon in der öffentlichen Kritik, weil sie Offshore-Gesellschaften in Steueroasen unterhalten, um die Steuerbelastung zu minimieren. Aber auch deutsche Firmen besitzen Firmenbeteiligungen auf den Cayman-Inseln oder den Bahamas. Allein bei den Dax-Unternehmen sind es bis zu 2 500. Das alles mag legal sein – legitim ist es zumindest in den Augen der meisten Bundesbürger nicht.

Steuervermeidung ist das eine. Nicht weniger schädlich für das Gemeinwohl ist der Machtmissbrauch einzelner Konzerne, mit denen diese versuchen, die Spielregeln der Marktwirtschaft zu ihren Gunsten zu ändern. Allein in Berlin agieren bis zu 5 000 Lobbyisten, die die Parlamentarier bearbeiten, um eine für ihren Auftraggeber günstige Politik durchzusetzen. Dabei gilt: Wer mehr Aufwand betreibt, hat auch bessere Chancen, sich Zugang zu Politikern zu verschaffen. Zur wahren Meisterschaft haben es hier die Energie- und Autokonzerne gebracht. Alles legal – aber deshalb noch lange nicht in Ordnung.

Etwas läuft schief – nicht nur in Bangladesch

Fatal für die gesellschaftliche Legitimation des Kapitalismus ist auch die Tatsache, dass die Gewinne vieler westlicher Unternehmen wie Modeproduzenten oder Kaffeeröster immer noch auf teils menschenunwürdiger Arbeit in den Entwicklungsländern basieren. Der Einsturz einer Textilfabrik vor zwei Jahren in Bangladesch mit mehr als tausend Toten hat die Öffentlichkeit alarmiert. Mit unzähligen Arbeitsschutzkontrollen für Zulieferer wollen westliche Unternehmen demonstrieren: „Wir tun was.“ Doch noch immer sind sie nicht zu wirklich großen Schritten bereit, etwa dem von NGOs geforderten panasiatischen Mindestlohn, der den Arbeitern in dieser Region eine menschenwürdige Existenz ermöglichen würde.

Man muss kein Kapitalismuskritiker sein, um zu sehen, dass da etwas schiefläuft – nicht nur in Bangladesch. Der deutsche Rechtsstaat scheint immer weniger in der Lage zu sein, der im Artikel 14 des Grundgesetzes vorgeschriebenen Sozialbindung des Eigentums Geltung zu verschaffen. „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen“, heißt es dort.

Immer weniger Menschen glauben daran, weil die Fakten eine andere Sprache sprechen. Beispiel Einkommen: Die Vorstände der 30 Dax-Unternehmen verdienen heute im Durchschnitt 54-mal so viel wie ihre Mitarbeiter. Eine Umfrage der Harvard Business School in 40 Staaten dagegen zeigt: Akzeptabel scheint den Angestellten, wenn der oberste Chef fünfmal so viel verdient wie sie selbst. Wie mag sich der Mitarbeiter erst fühlen, wenn dieser Chef auch noch einen Großteil seiner Energie darauf verwendet, Steuerschlupflöcher für seine Millionenboni zu suchen, seien es nun legale oder illegale?

Was für eine Ironie der Geschichte: Das Verhalten vieler Wirtschaftsführer fügt der Marktwirtschaft mehr Schaden zu, als die größten Feinde der Marktwirtschaft je vermocht hätten. Marcel Fratzscher, Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), sieht sogar das Ende der Sozialen Marktwirtschaft kommen. Die wirtschaftliche Freiheit sei auch in Deutschland „nicht viel mehr als eine leere Worthülse und das Privileg einer immer kleineren Elite“. „Das marktwirtschaftliche Prinzip, wer von Gewinnen profitiert, müsse auch bei Verlusten haften, ist etwa bei VW komplett außer Kraft gesetzt worden.“

Führt der Kapitalismus zu „Ausbeutung und Entfremdung“? Quelle: dpa
Karl Marx

Führt der Kapitalismus zu „Ausbeutung und Entfremdung“?

(Foto: dpa)

Tatsächlich schwindet das Vertrauen in die Marktwirtschaft: Nach einer Umfrage der ARD glauben inzwischen 77 Prozent der Bundesbürger, dass die Soziale Markwirtschaft „die Reichen reicher und die Armen ärmer macht“. 73 Prozent sagen, sie „funktioniere nicht mehr so wie früher“, und immerhin noch 51 Prozent der Befragten fordern, dass die Soziale Marktwirtschaft „grundlegend verändert werden muss“.

Scheitert nun doch noch das 1959 mit dem Godesberger Programm der SPD begonnene Großprojekt, die Versöhnung der politischen Linken mit der Marktwirtschaft und dem Kapital? Hatte Karl Marx letztlich doch recht mit seiner Behauptung, der Kapitalismus führe zwangsläufig zu „Ausbeutung und Entfremdung“? Erweist sich der Glaube eines Adam Smith, eine „unsichtbare Hand“ würde dafür sorgen, dass das eigennützige Streben des Einzelnen dem Allgemeinwohl diene, nun endgültig als Illusion?

Spätestens seit Ausbruch der Finanzkrise wissen wir, dass die „unsichtbare Hand“ unter Arthritis leidet und gern mal kräftig danebenlangt. Die Finanzkrise, sie war die Geburtsstunde des jüngsten Zweifels am System. Banken blähten sich zu Monstern auf, die, völlig losgelöst von der Realwirtschaft und den Wertvorstellungen der Menschen, an den Märkten zu zocken begannen. Über Jahre kassierten Investmentbanker Boni in schwindelerregender Höhe – bis das System kollabierte. Eine Bank kippte nach der anderen, und ein Großteil musste mit Steuermilliarden gerettet werden, um das Weltfinanzsystem als Ganzes nicht zu gefährden.

Es waren die Zeiten von Protestbewegungen, die in den Banken ihren Hauptfeind sahen. Die „Occupy“-Bewegung gegen die Wall Street begann im September 2011 im Zuccotti-Park in Manhattan und verbreitete sich rasend schnell in mehr als 900 Städten in 82 Ländern. Und manch schwäbischer Familienunternehmer teilte plötzlich die Weltsicht der strubbeligen Occupy-Aktivisten: hier die bösen Investmentbanker, die mit ihrer Gier und Skrupellosigkeit die Marktwirtschaft diskreditierten. Dort die ehrbaren Manager der Industrieunternehmen, die mit Ingenieurskunst den wahren Mehrwert schaffen und eben nicht systemgefährdend sind. Die Front verlief plötzlich nicht mehr zwischen Arbeit und Kapital, sondern zwischen guten Kapitalisten und schlechten.
Heute, acht Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise und diverse Unternehmensskandale später, müssen wir feststellen: So einfach ist es nicht. Die Wirtschaft als Ganzes hat erkennbar ein ethisches Problem.

Warum der naive Glaube an den Staat gefährlich ist
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