Flossbach & Storch-Bilanzexperte Kai Lehmann „Im Extremfall droht Unternehmen sogar die Insolvenz“

„Abschreibungen drücken das Ergebnis, den Aktienkurs und damit oftmals auch die Vergütung.“
Der Ökonom besitzt die seltene Gabe, sich mit komplizierten Bilanzen und ihrem Fachchinesisch auszukennen – und dennoch verständlich zu sprechen. Seine Warnung fällt eindeutig aus.
Herr Lehmann, der Dax steigt und steigt, warum?
Das ist keine ganz große Überraschung: Das Wirtschaftswachstum ist robust, moderat und damit okay, der Arbeitsmarkt brummt, und die Unternehmensgewinne wachsen stetig.
Brexit, Trump – selbst Hiobsbotschaften können den Börsen anscheinend nichts anhaben.
Angesichts der extrem niedrigen Zinsen treibt der Anlagenotstand immer neues Geld an die Börse. Kleinste Kursschwächen nutzen die Anleger sofort zum Einstieg.
Der Dax hat sich seit 2009 mehr als verdreifacht. Sind Aktien zu teuer?
Nein, das kann man so pauschal nicht sagen. Die Gewinne der Unternehmen wachsen stetig und mit ihnen die Kurse. Das ist abzulesen an einem immer noch moderaten Kurs-Gewinn-Verhältnis. Es liegt nur ganz leicht über dem langjährigen Durchschnitt.
Und welche Rolle spielen die vielen teuren Übernahmen, wie wir sie fast täglich erleben?
Angesichts rekordtiefer Zinsen sehen immer mehr Unternehmen im Wachstum durch Übernahmen eine Alternative zu eigenen Investitionen und organischem Wachstum.
Woran erkennen Anleger, ob Übernahmen teuer sind?
Viele Unternehmen bezahlen immer höhere Aufpreise auf den aktuellen Börsenkurs. Interessant daran ist allerdings, dass die Unternehmen trotz höherer Aufpreise kaum noch abschreiben und deshalb immer höhere Goodwill-Bestände auftürmen.
Warum sind hohe Goodwills eine Gefahr?
Die Höhe drückt aus, wie viel ein Unternehmen für eine übernommene Firma über den objektiv fairen Wert hinaus zu viel bezahlt hat. Dafür gibt es keinen materiellen Gegenwert, sondern nur Hoffnungen. Erfüllen sich diese nicht, muss der Konzern den zu viel gezahlten Preis abschreiben.
Ist das so schlimm?
Es drohen Verluste und rote Zahlen, im Extremfall sogar die Überschuldung bis hin zur Insolvenz, wenn ein Unternehmen weniger Eigenkapital als Goodwill ausweist und gezwungen wäre, diesen komplett abzuschreiben.
Kann das passieren?
Theoretisch ja, beispielsweise wenn Geschäftsfelder durch regulatorische Veränderungen massiv einbrechen oder wenn die Produkte der gekauften Firmen plötzlich nicht mehr gefragt sind.
Und dann muss ein Unternehmen seinen Goodwill abschreiben, auch im Bewusstsein, die Insolvenz herbeizuführen?
Die Unternehmen werden in solch einem Fall vermutlich genügend Kreativität erzeugen, um Totalabschreibungen zu verhindern. Die Transparenz bei den sogenannten Impairment-Tests ist für Investoren leider sehr gering.
Selbst in der Wirtschaftskrise 2009 haben die Konzerne so gut wie nichts abgeschrieben. Wäre es möglich, dass der Bilanzposten Goodwill immer weiter wächst und sich niemand darum schert?
Im Prinzip beobachten wir genau das. Ab einem gewissen Punkt sind aber Zweifel angebracht, ob diese Entwicklung sich immer weiter fortsetzen kann.
Warum schreiben die Unternehmen so wenig ab?
Abschreibungen drücken das Ergebnis, den Aktienkurs und damit oftmals auch die Vergütung. Sie sind das Eingeständnis, zu teuer gekauft zu haben. Das mag kein Vorstandschef gern von sich behaupten.
Wer also heute Aktien aus dem Dax erwirbt, kauft damit bei vielen Titeln teure Übernahmen gleich mit?
Das lässt sich nicht vermeiden. Kleiner Trost: Diesen Trend gibt es angesichts niedriger Zinsen nicht allein in Deutschland, sondern auch an der Wall Street und in weiten Teilen Europas.
Welche Aktien sind denn nach den vielen Übernahmen teuer?
Bitte haben Sie Verständnis dafür, dass ich mich zu Einzeltiteln nicht äußern darf. Aber einen guten Hinweis bekommen Anleger, die den Goodwill in Relation zum Eigenkapital setzen.
Wie das?
Je höher der Goodwill zum Eigenkapital ist, desto stärker wirken sich Abschreibungen auf das Eigenkapital aus – und desto risikoreicher ist diesbezüglich die Aktie. Kleine Einschränkung: Im Pharma- und IT-Bereich werden höhere Prämien bezahlt. Deshalb sind hier die Goodwills höher als im klassischen Industrie- und Bankensektor.
Vor über acht Jahren startete der Börsenaufschwung. Wie lange wird der Dax noch steigen?
Zugegeben, der Aufschwung ist schon recht betagt. Aber solange die Zinsen niedrig bleiben und die Wirtschaft brummt, spricht nichts gegen eine Fortsetzung des Trends. Und langfristig kommen Anleger an Aktien qualitativ hochwertiger Unternehmen ohnehin nicht herum.
Herr Lehmann, vielen Dank für das Gespräch.
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