Goodwill Das 314-Milliarden-Risiko der Dax-Konzerne

Dax-Konzerne mit hohem Goodwill entwickeln sich schlechter als der Markt.
Düsseldorf Große Unternehmen haben Krisen in der Vergangenheit oft dafür genutzt, um sich von bilanziellen Altlasten zu befreien. Das war 2020 anders. Im ersten Corona-Jahr ist die große Abschreibungswelle auf die Bilanzposten Geschäfts- oder Firmenwert (Goodwill), für die es keinen materiellen Gegenwert gibt, ausgeblieben. Das zeigen Berechnungen des Handelsblatts in Zusammenarbeit mit dem Vermögensverwalter Flossbach von Storch.
Demnach strapazieren die 30 Dax-Konzerne ihre Bilanzen inzwischen mit Hoffnungswerten aus überteuerten Zukäufen in Höhe von 313,6 Milliarden Euro. Das sind nur zwei Milliarden Euro weniger als im Rekordjahr 2019 – und doppelt so viel wie noch 2005.
„Angesichts der Schwere der Krise wäre zu erwarten gewesen, dass noch mehr Unternehmen ihre Bilanz bereinigen müssen“, sagt Flossbach-Analyst Kai Lehmann. „Durch die rasche Erholung ist das nicht passiert.“ Nur vier Unternehmen haben im abgelaufenen Geschäftsjahr größere Bilanzbereinigungen vorgenommen: Bayer schrieb 2,2 Milliarden Euro seiner Firmenwerte ab, die jetzt noch bei 36 Milliarden liegen. Heidelberg Cement nahm Abschreibungen von 2,7 Milliarden Euro vor, bei BASF waren es 786 Millionen Euro und bei Continental 655 Millionen.
„Der hohe Goodwill hängt wie ein Damoklesschwert über den Unternehmen und ihren Anteilsscheinen“, sagt Lehmann. Denn: Eine Handelsblatt-Analyse zeigt, dass sich Aktien von Konzernen mit hohen Hoffnungswerten aus teuren Übernahmen deutlich schlechter entwickeln als der Gesamtmarkt.
Unter den 30 größten börsennotierten Konzernen Deutschlands haben Eon, Bayer, Fresenius Medical Care (FMC) und der FMC-Mutterkonzern Fresenius ihre Bilanzen am stärksten belastet: Sie haben mehr Hoffnungswerte aus überteuerten Übernahmen in ihrer Bilanz angehäuft, als sie an Eigenkapital ausweisen.
Das birgt Risiken: Müssten diese Firmen ihren Goodwill komplett abschreiben, weil Geschäftsmodelle veralten und sich nicht mehr rechnen, wären die Unternehmen überschuldet. Gemeinsam ist den vier Konzernen auch, dass ihre Aktienkurse seit Jahren dem Gesamtmarkt weit hinterherhinken. Während der Leitindex in den vergangenen fünf Jahren um gut 50 Prozent zulegte, schaffte die Eon-Aktie nur rund halb so viel. FMC liegt 13 Prozent im Minus, Fresenius 37 und Bayer 45 Prozent.
Richtig ist zwar, dass Abschreibungen keinen Einfluss auf das operative Tagesgeschäft und die Barmittel haben. Sie sind nicht cash-wirksam. Insofern erscheinen sie auf den ersten Blick als ungefährlich. Aber Abschreibungen mindern sowohl den Nettogewinn als auch das Eigenkapital und erhöhen die Verschuldung. Das mussten im abgelaufenen Jahr Aktionäre von Bayer, Heidelberg Cement, BASF und Continental erfahren. Bei Continental reduzierte sich das für die langfristige Substanz wichtige Eigenkapital im vergangenen Jahr um gut 20 Prozent auf 12,6 Milliarden Euro, bei Bayer schmolz es um rund 35 Prozent auf 30,7 Milliarden Euro zusammen.
Bei Eon ist die bilanzielle Schieflage am größten
Insgesamt verringerte sich durch Verluste und Abschreibungen bei den 30 Dax-Konzernen die durchschnittliche Eigenkapitalquote – das ist das Verhältnis aus Eigenkapital und der Bilanzsumme – auf 37 Prozent. „Damit liegt sie wieder auf dem gleichen Niveau wie 2014, womit der kräftige Anstieg der Jahre 2017 und 2018 auf Höchststände von über 42 Prozent eliminiert wurde“, warnt Bilanzexperte Markus Wallner von der Commerzbank.
Die Folge von weniger Eigenkapital ist eine größere Abhängigkeit der Unternehmen von Banken und anderen Gläubigern, was in der Regel höhere Schuldzinsen zur Folge hat.
Aus Sorge vor derartigen Entwicklungen meiden viele Anleger solche Unternehmen. Deshalb sind bilanzielle Schieflagen in Form eines hohen Goodwills und eine schlechte Aktienperformance kein Zufall – wie nachfolgende Aktienanalysen zeigen.
Verglichen mit allen Dax-Konzernen ist die bilanzielle Schieflage bei Eon am größten: 17,8 Milliarden Euro aus verbuchten Firmenwerten, die als Goodwill in der Bilanz ausgewiesen werden, steht ein Eigenkapital von lediglich gut neun Milliarden Euro gegenüber. Bei einer Komplettabwertung, weil sich ursprüngliche Hoffnungen, Synergien oder Wachstumserwartungen nicht erfüllen, stünde Eon also ohne Eigenkapital da, wäre überschuldet und müsste seine Aktionäre um Geld bitten.
Zumindest das Szenario einer massiven Abschreibung ist Eon-Aktionären nicht fremd. 2015 musste der Versorger seinen Goodwill massiv um fast fünf Milliarden Euro bereinigen. Die Gründe dafür waren sich verschlechternde Ertragsprognosen bei den Kraftwerken für fossile Brennstoffe und für Kernenergie.
Seit 2019 ist der Goodwill neuerlich um gut 15 Milliarden Euro gestiegen. Maßgeblich verantwortlich ist der Kauf des Netzbetreibers Innogy vom Wettbewerber RWE. Abschreibungen darauf gab es bislang nicht. Damit konfrontiert, ob es Korrekturbedarf gebe und die bilanzielle Schieflage Sorge bereite, antwortete ein Konzernsprecher, dass durch die Übernahme „nachhaltig Mehrwert für Eon geschaffen wurde“. Eon setzt auf Einsparpotenziale nach dem Kauf des Netzgeschäfts. „Der zum Jahresende 2020 bilanzierte Goodwill war durch erwartete zukünftige Erträge hinreichend unterlegt; Anhaltspunkte für Abschreibungsbedarf liegen auch zum jetzigen Zeitpunkt nicht vor“, so der Sprecher gegenüber dem Handelsblatt.
Etwas anderes kann er und können die Finanz- und Vorstandschefs der anderen Unternehmen auch nicht sagen. Ihre Bilanzen sind vom Wirtschaftsprüfer testiert und damit formal über jeden Zweifel erhaben. Eon verweist auf den jährlichen „Impairment“-Test, in dem alle Bilanzpositionen auf ihre Werthaltigkeit geprüft werden. Das Manko ist nur: Für Aktionäre und Außenstehende ist dieser jährliche Test, dem sich alle Unternehmen unterziehen, nicht einsehbar – auch nicht in Grundzügen.
Unternehmen schreiben so gut wie gar nichts mehr ab
Dass Unternehmen wie Eon bei Neuerwerbungen einen Aufschlag zahlen, ist durchaus normal. Übernimmt eine Firma eine andere, so ist das Management verpflichtet, das Vermögen der gekauften Firma rechnerisch in Einzelteile zu zerlegen. Ob Maschinen, Fuhrpark, Grundstücke, Patente oder Kundenkontakte – jede Position wird bewertet. Fällt der Kaufpreis für die neue Firma höher aus, als alle Einzelteile wert sind, so wird diese Übernahmeprämie als Hoffnungswert, auf Englisch „Goodwill“, in der Bilanz verbucht.
Weil sich Geschäftsmodelle und Ideen mit der Zeit überholen und damit an Wert verlieren, musste dieser Goodwill früher abgeschrieben werden – in der Regel innerhalb von zehn Jahren. Seit 2005 gibt es diese Regel nicht mehr. Deutschland passte sich damit dem internationalen Standard, wie er von den angelsächsischen Ländern vorgegeben wird, an.
Die Folge ist, dass die Unternehmen so gut wie gar nichts mehr abschreiben. Seit 2005 haben sich die Goodwill-Positionen der 30 Dax-Konzerne von 119 auf 313 Milliarden Euro erhöht. Doch immer weiter aufgeschoben ist nicht aufgehoben.
Das wohl prominenteste Beispiel ist Kraft Heinz. Der amerikanische Ketchuphersteller verlor vor gut zwei Jahren binnen eines Tages 15 Milliarden Euro an Börsenwert, als sich das Management gezwungen sah, die Goodwill-Posten aus überteuerten Übernahmen um sechs Milliarden Euro abzuwerten.
Aus Sorge vor weiteren Abschreibungen und damit weniger Eigenkapital und zugleich höheren Schulden hat der Aktienkurs binnen vier Jahren zwei Drittel an Wert verloren. Anleger halten den noch bestehenden Goodwill von 27 Milliarden Dollar für nicht werthaltig. Großaktionär Warren Buffett, der gut ein Viertel aller Kraft-Heinz-Aktien hält, gab gegenüber dem US-Fernsehsender CNBC Anfang 2019 freimütig zu, für diese Aktien viel zu viel bezahlt zu haben.
Dasselbe müssen sich Bayer-Aktionäre auch fragen, die 2015, vor der Übernahme des umstrittenen amerikanischen Saatgutherstellers Monsanto, über 140 Euro je Aktie für den einst wertvollsten deutschen Konzern bezahlt haben. Heute sind es 55 Euro.
Bei Bayer stehen noch 36 Milliarden Euro an Goodwill in der Bilanz
Der Kaufpreis von gut 50 Milliarden Euro – das entspricht in etwa dem heutigen Börsenwert des fusionierten Konzerns – entpuppt sich für Anleger bislang als Fiasko. Nicht nur dass Rechtsstreitigkeiten und ein ausstehender Vergleich Bayer weit mehr als zehn Milliarden Euro kosten werden. Schlimmer wiegt, dass sich die hochgesteckten Wachstumshoffnungen mit Saatgut samt für Monsanto bilanziertem Goodwill von einst über 20 Milliarden Euro nicht erfüllen. Bayer hat die Perspektiven des US-Konzerns viel zu optimistisch eingeschätzt.
Die Kritik vieler Aktionäre, zu viel für Monsanto bezahlt zu haben, lässt Konzernchef Werner Baumann nicht gelten. Indirekt gibt es dieses Eingeständnis allerdings sehr wohl: Bayer schrieb 2020 insgesamt 12,2 Milliarden Euro auf Patente, Technologien, Saatgut und andere Produkte ab, was am Ende zu einem Nettojahresverlust von 10,5 Milliarden Euro führte. Ein kleiner Teil der Abschreibungen, 2,2 Milliarden Euro, entfielen auf überhöhte Firmenwerte.
36 Milliarden Euro an Goodwill stehen immer noch in der Bilanz. Gut möglich, dass in den nächsten Quartalen und Jahren weitere Abschreibungen folgen, sollten sich die inzwischen drastisch verschlechterten Perspektiven in der Agrarsparte nicht nachhaltig verbessern – oder sich Technologien wie das umstrittene Pestizid Glyphosat überholen und durch bessere ersetzt werden.
„Aktionäre preisen dieses Szenario ein“, sagt ein Frankfurter Händler, der nicht genannt werden möchte: „Der Kursverfall spiegelt dieses Risiko und die bilanzielle Schieflage wider.“ Ein Ende der Kursmisere sei erst dann in Sicht, wenn sich Bayer von seinen Altlasten befreie.
Solch ein „Tabula rasa“ gibt es oftmals bei einem Vorstandswechsel. Den Abgang von Unternehmenschef Bernd Scheifele beispielsweise nutzte der Baustoffkonzern Heidelberg Cement für Abschreibungen in Höhe von gut drei Milliarden Euro. Durch die Aktion reduzierten sich die gesamten Hoffnungswerte in der Bilanz mit einem Schlag um 27 Prozent. So viel Bereinigung blieb 2020 einmalig im Dax.
Die Finanzmärkte honorierten den Mut: Die Aktie zählt mit einem Zugewinn von 30 Prozent in diesem Jahr zu den drei besten Dax-Aktien. Binnen eines Jahres hat sich der Titel fast verdoppelt.
Bei Bayer ist solch ein Befreiungsschlag in weiter Ferne. Auf der Hauptversammlung 2024 steht der Abgang von Konzernchef Werner Baumann an, der für den umstrittenen Monsanto-Deal maßgeblich verantwortlich ist. Einstweilen hinkt die Bayer-Aktie dem Dax weit hinterher.
Fresenius hat seine Firmenwerte seit 2005 mehr als verfünffacht
Ähnlich sieht es beim Fresenius-Konzern und seiner ebenfalls im Dax notierten Tochter Fresenius Medical Care (FMC) aus. Der Bad Homburger Gesundheitskonzern hat nach vielen teuren Zukäufen seit dem Ende der Abschreibungspflicht vor 15 Jahren seine Hoffnungswerte von 4,7 auf 26,6 Milliarden Euro mehr als verfünffacht. Dem steht ein Eigenkapital von 26 Milliarden Euro gegenüber.
2016 hatte Fresenius für 5,8 Milliarden Euro den spanischen Klinikbetreiber Quirónsalud gekauft, davor die Rhön-Kliniken, den Generikahersteller APP Pharmaceuticals und davor den Dialysespezialisten Renal Care – die Liste ist noch viel länger.
Der sich in den vergangenen vier Jahren halbierte Aktienkurs muss als Warnindiz verstanden werden. Schon in der Vergangenheit waren massive Aktienverkäufe und fallende Kurse häufig ein zuverlässiger Indikator für bevorstehende Abschreibungen. Ob Heidelberg Cement, BASF oder Continental: Bevor die Unternehmen im vergangenen Jahr mit ihren Milliardenabschreibungen schockierten, war die Aktie bereits überdurchschnittlich stark gefallen.
Der Autozulieferer Continental verdeutlicht wohl am besten die Vergänglichkeit für teuer erworbene Expertise und Goodwill. Nach 2,3 Milliarden Euro im Jahr 2019 schrieb Continental im abgelaufenen Geschäftsjahr weitere 650 Millionen Euro an Firmenwerten aus überteuerten Zukäufen für Antriebstechnik ab, die sich im Elektrozeitalter nicht mehr rechnet. Im Zeitalter von E-Mobilität bei den Autobauern und Digitalisierung samt automatisierten Geschäftsabläufen in der gesamten Industrie werden schmerzhafte Einschnitte und Abschreibungen wie bei Continental wohl nicht die letzten bleiben.
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