Zum Jahreswechsel 2018 Special von Handelsblatt Online

Thema des Jahres – Respekt Ein Hashtag allein nützt nichts

Kein menschliches Zusammenleben, keine Gesellschaft, kein Staat ist denkbar ohne ein gewisses Maß an respektvollem Umgang. Aber wem gebührt Respekt – und wem nicht?
13.12.2018 - 22:03 Uhr Kommentieren
Quelle: istock/arthobbit [M] Handelsblatt
(Foto: istock/arthobbit [M] Handelsblatt)

Es gibt Begriffe, die werden benutzt, bis sie abgegriffen sind wie die Füße von Heiligenfiguren. „Respekt“ ist ein solcher Begriff. Kaum eine Sonntagsrede kommt ohne ihn aus. Die Uefa initiiert seit Jahren „Respect!“-Kampagnen, alldieweil die Spitze des FC Bayern München bei einer Pressekonferenz wettert, sie werde keine „respektlose Berichterstattung“ über die Leistungen ihres Vereins mehr akzeptieren.

Die AfD wittert rund um die Uhr Respektlosigkeiten gegen alles Deutsche, während zahlreiche ihrer Mitglieder selbst nichts lieber tun, als Respektlosigkeiten gegen alles Nicht-Deutsche zu twittern. Ein türkischstämmiger Reporter des WDR empfindet die Blutwurst, die sich bei der Islamkonferenz auf manch ein Kanapee verirrt hat, als grobe Respektlosigkeit gegenüber Muslimen.

Seit der #MeToo-Debatte herrscht Ratlosigkeit darüber, ob männliche Komplimente in Richtung eines weiblichen Dekolletés grundsätzlich respektlos sind. Die Grünen zollen Angela Merkel, nachdem diese ihren schrittweisen Rückzug aus der Politik ankündigt, öffentlich Respekt.

Kein menschliches Zusammenleben, keine Gesellschaft, kein Staat ist denkbar ohne die Idee des Respekts – und ohne ein gewisses Maß an respektvollem Umgang miteinander. Die Schwierigkeit beginnt damit, dass es alles andere als klar ist, wem oder welchen Aspekten Respekt gebührt, was „respektvolles Verhalten“ konkret bedeutet und wie viel Respektlosigkeiten eine Gesellschaft verkraften muss, wenn sie liberal sein und bleiben will.

Ideal und Wirklichkeit

Unsere modernen, westlichen Gesellschaften beruhen auf der Überzeugung, dass alle Menschen gleich und frei geboren sind, dass ihnen allen dieselben unveräußerlichen Rechte zukommen, dass ihre Würde unantastbar ist. In diesem Sinne gebührt jedem Menschen Respekt. Schlicht und einfach deshalb, weil er ein Mensch ist.

Schaut man sich in der Geschichte und auf der Welt um, gelangt man schnell zu der Einsicht, dass diese egalitäre Auffassung von Respekt mitnichten üblich ist. Deutlich weiterverbreitet war – und ist – es, das Maß an Respekt davon abhängig zu machen, welchen sozialen Status ein Mensch innehat.

Dieser hierarchischen Auffassung zufolge ist es selbstverständlich, dass dem Kaiser, König, Stammesfürsten mehr Respekt gebührt als dem Untertanen; dem Reichen mehr als dem Armen; dem Mann mehr als der Frau; dem Rechtgläubigen mehr als dem Falsch- oder Ungläubigen; dem Heterosexuellen mehr als dem Homosexuellen; dem Alter mehr als der Jugend. Respekt ist die Münze, mit der im Reich der sozialen Hierarchie bezahlt wird.

Thea Dorn ist eine preisgekrönte Schriftstellerin. Die 48-Jährige schrieb Romane, Theaterstücke, Drehbücher und Essays. 2011 veröffentlichte sie mit Richard Wagner den Bestseller „Die deutsche Seele“. Seit März 2017 ist sie festes Mitglied im „Literarischen Quartett“. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“, in dem sie sich den Schicksalsfragen unserer Gesellschaft zuwendet. Quelle: BREUELBILD
Über die Autorin Thea Dorn

Thea Dorn ist eine preisgekrönte Schriftstellerin. Die 48-Jährige schrieb Romane, Theaterstücke, Drehbücher und Essays. 2011 veröffentlichte sie mit Richard Wagner den Bestseller „Die deutsche Seele“. Seit März 2017 ist sie festes Mitglied im „Literarischen Quartett“. Zuletzt erschien von ihr das Buch „Deutsch, nicht dumpf. Ein Leitfaden für aufgeklärte Patrioten“, in dem sie sich den Schicksalsfragen unserer Gesellschaft zuwendet.

(Foto: BREUELBILD)

Viele der Kämpfe, die wir gegenwärtig in unseren westlichen Gesellschaften erleben, lassen sich als Gefechte deuten, mit denen die Anhänger der hierarchischen Respektauffassung verhindern wollen, dass sich die egalitäre Auffassung tatsächlich durchsetzt.

Denn dass alle Menschen, unangesehen ihrer Person, zu respektieren sind, hat sich bei uns seit der Aufklärung zwar als Leitidee etabliert – bis weit ins letzte Jahrhundert hinein kannte man jedoch keine Skrupel, Frauen, Schwarzen, Juden, Homosexuellen und anderen sozialen Gruppen wenig bis gar keinen Respekt entgegenzubringen.

Anders ausgedrückt: Das Ideal, dass allen Menschen Respekt gebührt, wurde bis vor Kurzem in der Praxis dadurch relativiert, dass sich die Vertreter der traditionell angeseheneren Gruppen durchaus als respektabler betrachten durften, was ihnen wiederum erlaubte, auf die weniger Angesehenen herabzuschauen beziehungsweise zu erwarten, dass diese sie mit dem gebotenen Extra-Respekt behandeln.

Entscheidungsschlacht #MeToo

Hierin liegt die heikle Zweischneidigkeit des Begriffs „Respekt“: Wer ihn im Munde führt beziehungsweise sich über „Respektlosigkeit“ beschwert, kann entweder meinen, dass ein anderer sich weigert, ihm „auf Augenhöhe“ zu begegnen. Oder er kann meinen, dass der andere sich weigert, zu ihm aufzublicken, seine Überlegenheit anzuerkennen.

Deshalb lohnt es sich, genau hinzuhören, ob eine Beschwerde über Respektlosigkeit meint, dass tatsächlich jemand als Mensch gedemütigt wird, oder ob eine Mimose explodiert, die nicht verkraftet, dass andere ihre vermeintlich prinzipielle Überlegenheit nicht anerkennen wollen. Dabei spielt es keine Rolle, ob es sich bei den Mimosen um die Chefs eines Edelbundesligavereins handelt oder um einen wütenden jungen Mann muslimischen Glaubens.

Letzterer hat einen Anspruch darauf, dass wir seine Beschwerde ernst nehmen, wenn Nicht-Muslime auf ihn herabschauen, weil er Ahmet heißt; besteht seine Kränkung in Wahrheit darin, dass eine Frau seine Überlegenheit als Mann nicht anerkennen will, müssen wir ihm sagen: „Die Tage in denen sich ein Mann etwas auf die nackte Tatsache, dass er ein Mann ist, einbilden durfte, sind bei uns vorbei.“

Die einstigen Respektspersonen im traditionell hierarchischen Modell geraten in der bürgerlichen Leistungsgesellschaft zusätzlich unter Druck, weil diese eher geneigt ist, zu denjenigen aufzublicken, die etwas Besonderes vollbringen, als zu denjenigen, die meinen, unabhängig von ihren Verdiensten etwas Besonderes zu sein.

So kann es geschehen, dass ein alternder Familienvater ohne auffällige Meriten die Erfahrung machen muss, dass seine lesbische Tochter nicht nur denselben Respekt genießt wie er – sondern sogar einen weit größeren, wenn es ihr etwa gelingt, Herausgeberin einer wichtigen Tageszeitung oder erfolgreiche Tennisspielerin zu werden.

In diesem Sinne lässt sich die #MeToo-Debatte durchaus als Entscheidungsschlacht im männlich-weiblichen Kampf um gesellschaftlichen Respekt interpretieren. Auf der einen Seite stehen – zumeist ältere – Männer, die in größter Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass Frauen sich wie in der Vergangenheit ihnen und ihrem Begehren unterzuordnen haben.

Auf der anderen Seite stehen Frauen, die endgültig genug davon haben, das uralte Spiel von männlicher Dominanz und weiblicher Unterwerfung mitzuspielen.

Problematisch wird es in dem Moment, in dem von weiblicher – und wohlmeinender männlicher – Seite versucht wird, die immer auch dunklen Gefilde des Eros gänzlich durchzurespektabilisieren. Es stimmt: „Nein“ heißt (meistens) „nein“.

Aber einem „(Nur)-ja-heißt-ja“-Gesetz, wie es im vergangenen Sommer in Schweden verabschiedet wurde, liegt die aberwitzige Vorstellung zugrunde, die erotischen Annäherungsversuche eines Mannes an eine Frau erfüllten nur dann die Gebote des Respekts, wenn sich der Mann bei jedem weiteren Schritt vergewissert, ob die Frau explizit einverstanden ist.

Für eine gewisse Robustheit

Abgesehen davon lässt sich bezweifeln, ob diese Art Frauenschutz tatsächlich dazu beiträgt, den Respekt vor Frauen in einer Gesellschaft zu erhöhen. Haben Angela Merkel, Annegret Kramp-Karrenbauer und die Frauen-Union nicht vergangene Woche erst eindrucksvoll demonstriert, wie man als Frau Männern Respekt abnötigt?

Nicht, indem man jede sexistische Unverschämtheit, jede männliche Respektlosigkeit – die alle Genannten im Übermaß erlebt haben dürften – mit einem Hashtag versehen anprangert, sondern indem man höchst effizient Netzwerke bildet und souveräne Stärke zeigt, um sich auf diese Weise gegen männliche Alphatiere durchzusetzen. Eine gewisse Robustheit steht auch Frauen gut.

Der gegenwärtige Trend, den „weißen, alten Mann“ zum bornierten Auslaufmodell zu erklären, scheint mir eine dritte Gefahr zu bergen: Es ist verkehrt, wenn das berechtigte egalitär-emanzipatorische Anliegen, dass tatsächlich keine Frau mehr aufgrund ihres Geschlechts als minderwertig betrachtet wird, dazu führt, dass sich hinterrücks eine neue, umgedrehte Hierarchie einschleicht, nach dem Motto: Eine junge, lesbische Frau verdient per se mehr Respekt als ein alternder heterosexueller Mann, eben weil es heute angesagter ist, jung und lesbisch zu sein als alt und hetero. Vergangene Demütigungen werden nicht gesühnt, indem man den Demütigungsspieß in der Gegenwart umdreht.

Für den sozialen Frieden in unserem Land scheint mir unerlässlich, dass wir die zwei Ebenen von Respekt auseinanderhalten: den grundsätzlichen Respekt, der jedem in gleicher Weise gebührt, weil er ein Mensch ist; und den speziellen Respekt, der ungleich verteilt ist, weil er denjenigen, die Außergewöhnliches leisten, die Verantwortung übernehmen, die sich durch ihr Tun als noble Personen erweisen, in größerer Weise zukommt als all denen, die sich um die Werte unserer Gesellschaft weniger verdient machen.

Wer einem Menschen den wohlverdienten Extra-Respekt auf dieser zweiten Ebene verweigert, weil ihm dessen oder deren Geschlecht, Abstammung oder Religion nicht passen, macht sich einer grundsätzlichen Respektverletzung schuldig. Wer einem anderen den aufblickenden Extra-Respekt verweigert, weil er nicht überzeugt davon ist, dass dieser oder diese tatsächlich ein verdienstvoller Zeitgenosse ist, beweist hingegen möglicherweise nur, dass er kritisch ist.

Vor diesem Hintergrund wird auch klarer, welche Respektlosigkeiten den zivilen, humanen Geist unserer Gesellschaft verletzen – und welche ein Ausdruck von Freiheitlichkeit sind. Jede Respektlosigkeit, die einen Menschen in seinem Menschsein degradieren will, ist gesellschaftliches Gift und gehört geächtet. Anders sieht es mit Respektlosigkeiten gegenüber Institutionen oder Personen hinsichtlich ihrer sozialen Rolle aus.

Solche Respektlosigkeiten signalisieren zunächst einmal: Ich erkenne deine Autorität nicht an, für mich bist du keine überlegene Instanz. Eins der berüchtigtsten Beispiele der Vergangenheit: Joschka Fischer, der 1984 im Bundestag Richard Stücklen mit den Worten bedachte: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch.“

Die Beispiele der Gegenwart liefert im Wesentlichen die AfD, wenn etwa deren parlamentarischer Geschäftsführer Hansjörg Müller bei der diesjährigen Gedenkstunde für die Opfer des Nationalsozialismus jeglichen Applaus, auch bei den Reden des Bundestagspräsidenten Wolfgang Schäuble und der Holocaust-Überlebenden Anita Lasker-Wallfisch, verweigert.

Ein Rat an alle Mimosen

Ob derlei Respektlosigkeiten die freiheitlich-zivile Ordnung untergraben oder ein Akt emanzipatorischen Aufbegehrens und als solcher der notwendige Stachel im Fleisch einer freiheitlichen Gesellschaft sind, lässt sich nur entscheiden, wenn man fragt, welche Ziele derjenige verfolgt, der die Autorität einer Person oder Institution infrage stellt.

Angesichts jeder Respektlosigkeit aus der Haut zu fahren und nach Bestrafung des Flegels zu rufen ist nicht nur ein Kennzeichen von Schwäche, sondern ebenso von autoritären Charakteren oder Systemen: siehe Erdogan, siehe Trump, siehe den dogmatischen Islam.

Personen oder Institutionen, die ihrer Souveränität und Autorität vertrauen, können auf Provokationen gelassen reagieren. Andererseits gibt es einen Punkt, an dem die Gelassenheit in Laisser-faire umzuschlagen droht, an dem die herausgeforderte Autorität mit Augenmaß und unaufgeregter Strenge beweisen muss, dass sie zu Recht eine Autorität ist.

Ob sich die Bundesrepublik Deutschland diesem Punkt nähert, wird eine der großen Fragen des kommenden Jahres sein. Einstweilen rate ich allen Mimosen, sich unterm Weihnachtsbaum zu entspannen.

Lesen Sie in unserem 35-seitigen Dossier „Menschen des Jahres 2018“, wer in diesem Jahr Großes geleistet hat, wer überrascht oder enttäuscht hat.

Startseite
Mehr zu: Thema des Jahres – Respekt - Ein Hashtag allein nützt nichts
0 Kommentare zu "Thema des Jahres – Respekt: Ein Hashtag allein nützt nichts"

Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.

Zur Startseite
-0%1%2%3%4%5%6%7%8%9%10%11%12%13%14%15%16%17%18%19%20%21%22%23%24%25%26%27%28%29%30%31%32%33%34%35%36%37%38%39%40%41%42%43%44%45%46%47%48%49%50%51%52%53%54%55%56%57%58%59%60%61%62%63%64%65%66%67%68%69%70%71%72%73%74%75%76%77%78%79%80%81%82%83%84%85%86%87%88%89%90%91%92%93%94%95%96%97%98%99%100%