Digitalisierung im Mittelstand Neue Chancen am Bau: Zulieferer werden zu Dienstleistern

Die digitale Unterstützung am Bau wächst.
München Daria Saharovas Urteil über die Bauindustrie fällt wenig schmeichelhaft aus. „Das ist eine der letzten Branchen, die sich der Digitalisierung öffnen“, sagt die Chefin des Risikokapitalgebers Vito One. Sie sieht das als Chance. Die Münchener Managerin investiert seit Jahren gezielt in Start-ups, die diese Lücken füllen.
Jetzt allerdings schlagen die Bauzulieferer zurück. Die Firmen haben erkannt, dass sie neue Geschäftsfelder erschließen müssen – denn sonst tun es junge Unternehmen an ihrer Stelle. Mehr noch: Auch auf den Baustellen hierzulande könnte es künftig rauer zugehen. Nicht jedes Projekt dürfte in der Coronakrise und danach noch verwirklicht werden. Da braucht es neue Einnahmequellen – und das sind vor allem digitale Dienstleistungen.
„Die Produkte werden immer austauschbarer“, sagt Stephan Schusser. Der Chef der Münchener Unternehmensberatung Keylens drängt die Bauzulieferer deshalb dazu, Service nicht nur zur Schulung und Beratung anzubieten, sondern eigenständig zu vermarkten. „Es wird immer wichtiger, Dienstleistungen anzubieten, die unabhängig von Produkten sind“, meint Schusser.
Das hätten zwar viele Herstellerunternehmen erkannt. Würden sie aber nicht Gas geben, bestünde die Gefahr, dass Start-ups oder Quereinsteiger bestimmte Servicethemen besetzen und damit Umsätze und gute Margen realisieren.
„Externe Player, egal ob Apple, Amazon oder dynamische Neugründungen, werden noch nicht ausreichend ernst genommen“, betont auch Florian Kaiser, Partner und Leiter des Geschäftsbereichs Bauzulieferindustrie der Beratungsgesellschaft Dr. Wieselhuber & Partner.
Ein Vorreiter der Bewegung ist Schüco. Der Spezialist für Fenster- und Türsysteme hat mit „Plan One“ ein eigenes Such- und Verkaufsportal für Bauprodukte geschaffen. Architekten und Planer finden dort Artikel, die sie für ihr Vorhaben brauchen – und zwar ganz unabhängig von Schüco.
Bislang würden die Experten häufig bei Google suchen. Dem setze Schüco nun etwas entgegen. „Wir haben damit eine Plattform und einen Service etabliert, bevor andere das angehen“, erläutert Digitalchef Thomas Schlenker. Der Mittelständler mit 1,8 Milliarden Euro Umsatz beschäftigt inzwischen 250 Softwareentwickler und vermarktet zum Beispiel auch ein Programm zur Kalkulation am Bau.
Abruptes Ende des Booms
Auch Vaillant drängt in neue, digitale Geschäftsfelder. Die Strategie des Heizungsbauers aus Remscheid: Die Basis-Dienstleistungen kosten nichts, weitergehende Angebote müssen die Handwerker bezahlen. So seien Produktschulungen umsonst, erläutert Tillmann von Schröter, Chef der Vaillant Deutschland GmbH. Wer aber Expertensysteme der Firma nutzen wolle, werde zur Kasse gebeten.
So bietet Vaillant zum Beispiel eine Art Navi für die Heizung an, also einen elektronischen Helfer für die Monteure, wenn sie Arbeiten an der Anlage erledigen. Damit nicht genug: Mithilfe von eigenen Datenanalysen sowie Künstlicher Intelligenz könne Vaillant den Handwerkern vor Terminen bei Kunden vorschlagen, welche Ersatzteile sie mitnehmen sollten. Die Produkte selbst wiederum sollten möglichst selbsterklärend sein.
In den vergangenen Jahren haben die Zulieferer vom Boom auf dem Bau profitiert. Es lief glänzend bei ihren Kunden – bis das Coronavirus sich hierzulande verbreitete. Den jüngsten Zahlen des Statistischen Bundesamts zufolge sind die Baufirmen mit einem Umsatzplus von 13 Prozent im Januar in das Jahr 2020 gestartet. Sie beschäftigten vor der Krise 2,3 Prozent mehr Leute als noch im Januar 2019.
Der Grund: der bis dahin ungebrochene Immobilienboom und zahlreiche öffentliche Aufträge insbesondere im Straßenbau. Die hohe Auslastung trieb auch die Baupreise nach oben. Im Februar lagen sie 3,4 Prozent höher als ein Jahr zuvor, davon profitierten die Bauzulieferer.
Von der Coronakrise ist inzwischen allerdings auch die Baubranche betroffen. Dem Ifo-Institut zufolge haben die Baufirmen derzeit gut ein Drittel ihrer Leute in Kurzarbeit geschickt. Das heißt: Der Umsatz der Bauzulieferer ist unter Druck geraten, denn auf vielen Baustellen läuft der Betrieb nur eingeschränkt, auf manchen ruht er.
Allerdings fällt das Minus moderat aus im Vergleich zum Handel oder der Industrie, wo wesentlich mehr Leute kürzer arbeiten oder ganz zu Hause bleiben müssen. Zudem blicken die Baufirmen viel zuversichtlicher in die Zukunft. Die Wirtschaftsforscher haben herausgefunden, dass ein Fünftel der Betriebe in der Industrie und bei den Dienstleistern Stellen abbauen will. Im Handel seien es immerhin 15 Prozent. Unter den Betrieben auf dem Bau dagegen nur zwei Prozent.
Personalknappheit am Bau als Chance
Das könnte auch daran liegen, dass die meisten Firmen auf dem Bau in den vergangenen Jahren massive Probleme hatten, Mitarbeiter zu finden, und viele Positionen daher gar nicht besetzt waren. Für die Bauzulieferer wiederum ist die Personalknappheit eine gewaltige Chance. Denn damit seien Bauunternehmen für Dienstleistungen empfänglich, meint Marc Köppe, Chef der Bauchemiefirma PCI Augsburg. „Alles, was hilft, um effizienter zu werden, hat entsprechend ein Vermarktungspotenzial.“
So hat der Manager eine Hotline mit Profis aufgebaut, die den Verarbeitern per Video zur Seite stehen. Fragen können direkt auf der Baustelle schnell und kompetent beantwortet werden. Ein Service, der Tausende Male im Jahr genutzt werde.
Das ist noch nicht alles: Mit einem Farbton-Messgerät können Handwerker den Wunschton der Kunden für Fugenmörtel abhängig von den Fliesen haargenau erfassen. Hochmoderne Abläufe in der Produktion ermöglichen es PCI, nach zwei bis drei Tagen den personalisierten Fugenmörtel auszuliefern.
Berater Schusser zufolge könnten die Bauzulieferer sich durchaus ein Beispiel an anderen Branchen nehmen. So habe es Apple als einst reiner Hardwarehersteller in den zurückliegenden zehn Jahren geschafft, den Serviceanteil am Umsatz auf fast ein Fünftel zu steigern. Beim Händler Amazon betrage er fast 40 Prozent.
Nicht alle Firmen auf dem Bau seien allerdings offen für solche neuen Angebote. „Noch ist die digitale Affinität unserer Zielgruppe nicht allzu ausgeprägt, wenn auch wachsend“, sagt Manager Köppe. In jedem Fall sei es wichtig, die Produkte möglichst selbsterklärend zu konstruieren, meint Schüco-Manager Schlenker: „Plug and Play am Bau wird immer wichtiger. Ein Arbeiter muss heute nach zwei, drei Monaten angelernt sein.“
Viele Kunden seien es bisher einfach nicht gewohnt, für Services rund ums Produkt zu bezahlen, beklagt Wieland Frank, geschäftsführender Gesellschafter von Siegenia-Aubi. Der Mittelständler aus der Nähe von Siegen liefert unter anderem Beschlagtechnik für Fenster und Fenstertüren sowie Sensoren und Motoren für Lüftungs- und Gebäudetechnik. Frank: „Wir müssen die Zahlungsbereitschaft für Dienstleistungen erst ausloten.“
Update fürs Fenster
Das sei wohl der größte Unterschied zu den jungen Angreifern, meint Berater Schusser. „Während etablierte Hersteller Services größtenteils als unbepreiste Verkaufsförderung einsetzen, schaffen es Start-ups fast in allen Fällen, ihre Serviceleistungen zu monetarisieren.“
Dabei seien die Kunden durchaus offen für die neuen Angebote, glaubt Christoph Blepp, Chef der Münchener Beratungsgesellschaft S&B Strategy: „Sowohl das Handwerk als auch die Planer wünschen sich mehr Unterstützung in der Anwendung und Logistik seitens der Hersteller der Bauzulieferindustrie.“
Die Hersteller hätten sich in den vergangenen Jahren überwiegend mit internen Themen wie Prozesseffizienz und IT-Systemen beschäftigt. Viele hätten darüber ihre Anwender aus den Augen verloren: „Das heißt, dass es große Potenziale gibt, welche die Hersteller der Bauzulieferindustrie heben können, um so die Kundenbindung und Marktdurchdringung zu erhöhen.“
Siegenia-Chef Frank ist indes überzeugt, dass er auch mit moderner Technik in seinen Produkten neue Erlösquellen erschließen kann. „Zusatzfunktionen werden immer wichtiger, zum Beispiel Schiebetüren, die sich per Gesichtserkennung öffnen.“ Dafür wiederum sei mehr Beratung nötig.
Unternehmer Frank: „Wir werden Technik-Chats mit den Handwerkern ausbauen.“ Bei elektronischen Türen ließen sich auch über Softwareupdates neue Funktionen aufspielen, ein Service, der ebenfalls zusätzlichen Umsatz einbringen könnte.
Investorin Saharova kennt beide Welten, die der traditionellen Bauzulieferer und die der quirligen Start-ups. Das liegt an der Firma, die hinter ihrem Arbeitgeber, der Venture-Capital-Firma Vito One, steckt: Es ist der traditionsreiche Heizungsspezialist Viessmann.
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Sehr gute Ansätze - und so geht Zukunft. Viel Glück allen Beteiligten.