Ahron Gafni Wie ultraorthodoxe Juden den Sprung in die Tech-Welt schaffen

„Wir wollen uns in die Geschäftswelt integrieren, aber uns nicht aus unserem Glauben zurückziehen.“
Tel Aviv Als Ahron Gafni, ein ultraorthodoxer Jude, erstmals Geld verdienen wollte, entschloss er sich mit 25 Jahren, Unternehmer zu werden. Von der Tradition seiner Vorväter wollte er sich dabei auf keinen Fall distanzieren, er nahm sich vor, Religion und Business zu vereinbaren.
Doch da gab es ein Problem. In der Talmudhochschule, wo er studiert hatte, standen weder Physik noch Mathematik oder Biologie auf dem Lehrplan. Auch Englisch wurde nicht unterrichtet. „Ich bin mit der Thora aufgewachsen,“ sagt er. „Weltliche Fächer hatten in unserer engen Welt keinen Platz.“ Er konnte nicht einmal das ABC auf Englisch herunterleiern.
Wir treffen Gafni – weisses Hemd, schwarze Hosen, Kippa – in den Bürogemeinschaftsräumen von Achim Global, die er, wie er sagt, „mit Erfolg“ leitet. Er vermiete ähnlich wie WeWork Arbeitsplätze an Start-ups, allerdings ausschließlich an orthodoxe. Die einen entwickeln bei ihm Apps auf den Gebieten Datenschutz oder Medizin, andere suchen nach Internetlösungen für Werbebüros oder für Immobilienmakler.
Bevor Gafni in die Welt der Unternehmer einsteigen konnte, musste er zunächst Fächer studieren, von denen er in seiner Schulzeit ausgeschlossen worden war. Nach seinem Abgang von der Talmudhochschule, einer Yeshiva, schrieb er sich deshalb an einem College unweit von Tel Aviv ein, das auf die enormen Wissenslücken der Orthodoxen Rücksicht nimmt, und studierte Management und Pädagogik.
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Er komme soeben von einem Treffen in London zurück, wo er Investoren für die Bereiche Medizin, Cyber und Life Science gesucht habe, sagt Gafni bei unserem Interview. „Ohne Englischkenntnisse?“, fragen wir erstaunt. Die Sprache habe er schnell gelernt, behauptet er – dank seinem Lehrer Chaim Bragg.
Englisch als Brücke zur säkularen Welt
Der gebürtige Amerikaner Bragg – zotteliger Bart, lange Schläfenlocken, schwarze Kleidung und Kippa – hat sich vor 14 Jahren in Israel niedergelassen. Als Orthodoxer kennt er die Hürden, die angehende Gründer überwinden müssen, die in ihrem Tornister bloß das Alte Testament und die dazugehörigen Schriften der Gelehrten mitbringen.
Weil sie mit der säkularen Kultur nicht vertraut sind, sagt der 44jährige, der an der University of Massachusetts Amherst Public Relations studiert hat, habe er ein Lehrprogramm ausgearbeitet, das auf die Welt der Frommen zugeschnitten ist. Einem Charedi oder Gottesfürchtigen, wie die strengsten unter den gläubigen Juden genannt werden, seien Vokabeln wie „Brasilien“ oder „Strand“ fremd, sagt Bragg, weil sie in ihrer Kultur nicht vorkommen.

Inbal Arieli: Chutzpah. Why Israel is a Hub of Innovation and Entrepeneurship
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272 Seiten
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Deshalb bringe er ihnen zunächst Sätze bei, die für sie Sinn machen. Nur so könne für sie Englisch zur Brücke in die säkulare Welt werden. Weil ein Orthodoxer in der Öffentlichkeit Blicke auf fremde Frauen und auch den Kontakt zu ihnen meidet, richtet er den Blick stets nach unten. „Auf die Augen achten“, nennen das die Orthodoxen. Deshalb bringt ihnen Bragg bei, wie man das auf Englisch sagt : „Protect your eyes.“
Um halb fünf schallt es „Gebetszeit“ durch die Räume, und Gafni, der CEO, geht durch die Büros, um das vorgeschriebene Mindestquorum von zehn Männern zusammenzutrommeln, das für ein Gebet als Gemeinde erforderlich ist. In einem der Zimmer ist eine bescheidene Synagoge eingerichtet. „Wir wollen uns in die Geschäftswelt integrieren, aber uns nicht aus unserem Glauben zurückziehen“, sagt Gafni.
Zeit also, das Coworking der Frommen zu inspizieren. Auf 1350 Quadratmetern haben sich 120 Jungunternehmer eingemietet, eine große Dachterrasse steht für Meetings zur Verfügung. In der Küche stehen zwei Mikrowellengrills – einer für fleischige und ein zweiter für milchige Nahrung, die laut Koschervorschriften streng getrennt werden müssen.
In den Büros fallen Bücherregale mit jüdischen Schriften und ökonomischer Literatur auf, in den Arbeitsräumen stehen moderne Büromöbel, und an der Wand neben der Küche hängt ein Fake-Cover der „New York Times“, auf dem in großen Lettern „Erfolg hängt von Gott ab“ prangt, versehen mit dem Zusatz: „So true“.
Fehlendes Basiswissen erschwert die Integration
Gafni ermöglicht in Bnei Brak, einem Vorort von Tel Aviv, eine Ergänzung zur traditionellen Welt der Orthodoxen, die innerhalb der israelischen Gesellschaft ein Inseldasein führen. Sie studieren, aber sie arbeiten nicht. Das ewige Lernen der Heiligen Schrift hat in ihrer Tradition einen höheren Stellenwert, als Geld zu verdienen. Die meisten entziehen sich deshalb der allgemeinen Wehrpflicht mit dem Argument, dass sie sich dem Thorastudium verschrieben haben.
Der Einstieg der Strenggläubigen ins Geschäftsleben sei grundsätzlich zu begrüßen, sagt der Ökonom Dan Ben-David vom Shoresh-Institut der Universität Tel Aviv, der das Universum der Ultraorthodoxen statistisch ausgeleuchtet hat. Er rechnet mit einer „exponentiellen Zunahme“ des Anteils des charedischen Sektors. Heute machen Kinder aus ultraorthodoxen Familien 19 Prozent aller israelischen Kinder aus. Bis 2065 werde dieser Prozentsatz auf 49 steigen, sagt Ben-David voraus.
Aber solange das Schulsystem der Frommen kein säkulares Basiswissen vermittelt, hält er eine stärkere Integration der Frommen in die Moderne für unmöglich. Ein paar erfolgreiche Charedim seien kein Beweis dafür, dass sich das in großem Stil ändern werde. Die Charedim machen heute rund zehn Prozent der Bevölkerung aus, aber weniger als ein Prozent ist ins Berufsleben eingespannt.
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