Audeering Dieses Start-up kann Corona-Erkrankungen an der Stimme erkennen

Mittels Künstlicher Intelligenz können anhand der Stimme Emotionen erkannt werden, aber auch Krankheiten wie Parkinson und Covid-19.
München Eine Schamanin ist Dagmar Schuller nicht. Auch wenn das „PatakaPatakaPataka“, das sie in ihrem Gilchinger Büro nahe München in einen Laptop spricht, wie ein Zauber klingt. Die Silben enthalten Stimmsignale, die eine künstlich intelligente Software genau mitschneidet.
Sie registriert Frequenz, Lautstärke, Atempausen, das Zusammenspiel von Vokalen und Konsonanten – und weiß nach wenigen Sekunden, woran die 45-Jährige sicher nicht leidet: Parkinson. „Ein Parkinson-Patient könnte das Pataka wegen motorischer oder kognitiver Einschränkungen nicht so flüssig und pointiert wiederholen“, sagt Schuller und lächelt zufrieden.
Die Frau mit den roten Locken ist Mitgründerin und Geschäftsführerin von Audeering, einem Unternehmen, das Erkrankungen wie Parkinson, Alzheimer oder Depressionen anhand der Stimme erkennen will. Auch Emotionen entschlüsseln die Algorithmen. Etwa, ob jemand traurig, fröhlich oder gestresst ist. Das funktioniert, weil tiefe neuronale Netze den Sprachprozess, das komplexe Zusammenspiel von Muskeln, Stimmbändern und Atemluft immer besser verstehen und kleinste Auffälligkeiten dechiffrieren können.
Größere Bekanntheit erlangte die einstige Ausgründung der TU München im vergangenen Jahr mit einer App, die Covid-19 aus Sprachsignalen heraushört. Die Erkennungsrate, wenn Betroffene ins Handy sprechen oder hineinhusten, liegt laut Schuller bei nahezu 90 Prozent. „In Flughäfen oder Restaurants wäre so eine Handy-App eine schnelle und kostengünstige Alternative“, so Schuller.
Gerade wenn Corona-Tests für Impfunwillige kostenpflichtig werden. Doch auch Geimpfte erkranken wegen neuer Mutationen und brauchen Tests. Ein zuverlässiger Covid-Check via Stimme hätte daher „erhebliches Potenzial“, glaubt nicht nur die gebürtige Steirerin. Markus Wehler, Direktor der Zentralen Notaufnahme des Uniklinikums Augsburg, sagt: „Aus Sicht der Notfall- und Akutmedizin wäre ein solches Instrument sehr hilfreich, da ein Sprachtest schnell durchzuführen, wenig belastend ist und innerhalb weniger Minuten ein Ergebnis vorliegt.“ Dafür sei weder eine Blutabnahme nötig noch ein Röntgenbild.
Aufwendige Zertifizierung für die Sprachanalyse-App
Mit der Stimme als zusätzlichem Diagnostikinstrument ließen sich Krankheiten womöglich schneller erkennen, wirksamer behandeln und Kosten drücken. Europa könnte bis 2027 rund acht Milliarden Euro einsparen, würde man allein Demenz früher entdecken, haben die Wirtschaftsprüfer von Pricewaterhouse-Coopers errechnet.
Neben Audeering, einem der verheißungsvollsten Start-ups in der maschinellen Stimmanalyse mit 80 Mitarbeitern in Gilching und Berlin, arbeiten weitere Firmen wie PeakProfiling in Berlin oder Vocalis Health in Israel sowie Universitäten wie das MIT daran, Gesundheitsinformationen aus der Sprache zu gewinnen.
Zu den führenden Forschern gehört Björn Schuller. Der Ehemann von Dagmar Schuller und wissenschaftliche Leiter von Audeering ist Professor für Künstliche Intelligenz und Digitale Gesundheit an der Uni Augsburg und am Imperial College in London. Ihn und drei Kollegen vom Lehrstuhl für Mensch-Maschine-Kommunikation der TU München überzeugte Dagmar Schuller 2012 von einer Gründung. „Sie machten tolle Forschung, aber es endete universitär beim Prototyp. Wir beschlossen, die PS gemeinsam auf die Straße zu bringen“, erzählt sie rückblickend.
Weil sie schon immer gründen wollte, zog es Schuller aus einem 800-Seelen-Dorf zunächst nach Wien, wo sie eine Höhere Technikschule mit Schwerpunkt Informatik besuchte und als Jahrgangsstufenbeste abschloss. Später studierte Schuller zunächst Wirtschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Wirtschaftsinformatik, dann Jura.

Die Gründerin von Audeering wollte schon immer ein eigenes Unternehmen führen.
Nach einem Stipendium in Datenwissenschaften an der Stern School of Business der New York University ging sie mit 22 Jahren als jüngste Managerin für Digitalstrategie zu Ernst & Young nach New York. In München baute sie später als Vorständin ein Medien-Start-up auf, bevor sie zu einem Investment von Hubert Burda wechselte. Etwas „von null“ aufzubauen liegt ihr, Widerstände zu überwinden auch, wer mit einem Problem kommt, dem präsentiert sie am liebsten drei Lösungen.
Daher frustriert es sie, „dass wir mit der Stimm-KI im Gesundheitsbereich so zaudern“. Bislang ist Forschungseinrichtungen Audeerings Stimmdiagnostik vorbehalten. Um sie in die App Stores zu bringen, brauchte es eine „aufwendige Zertifizierung für Medizinprodukte“, die bis zu 18 Monaten dauern kann. Dass der wirtschaftliche Durchbruch noch fehlt, habe viel mit Akzeptanz zu tun. Schuller moniert, dass „innovative KI-Firmen von zu starrer EU-Regulierung ausgebremst“ würden.
Hürde Datenschutz: Nutzer sollen über Freigabe für Forschungszwecke entscheiden
Um etwa Covid-19 noch präziser zu erkennen, braucht Audeering größere Mengen an robusten Stimmdaten. Während die Gilchinger dafür auf Sprachspenden und Forschungskooperationen angewiesen seien, könnten Konzerne aus den USA oder aus China nicht nur in ihren Heimatmärkten, sondern auch in Europa Daten „massenhaft abgreifen“, so Schuller.
Das verzerre den Wettbewerb und überlasse internationalen Tech-Unternehmen, die sich „nicht um die Privatsphäre von Nutzerinnen“ scherten, den KI-Gesundheitsmarkt, kritisiert Schuller. „Trotz Verboten sammeln Konzerne über ihre Sprachassistenten Stimmdaten in Europa.“
Man arbeite „gemeinsam im Europäischen Datenschutzausschuss daran, dass Datenschutzverletzungen globaler Tech-Konzerne schneller geahndet werden, auch wenn die federführende Behörde in einem anderen EU-Land sitzt“, sagt dazu ein Sprecher des Bundesdatenschutzbeauftragten. Gemeint sind Länder wie Irland und Luxemburg, Standorte von Facebook, Google, Tiktok oder Amazon. Dort hätten „Behörden Untersuchungen verzögert oder Kontrollen unterlassen“, bemängelt Johannes Caspar, Honorarprofessor für Datenschutz an der Uni Hamburg.
Schuller versteht Sorgen um gläserne Bürger, weshalb der Einsatz ihrer Software eine doppelte Zustimmung voraussetze. Nutzer entschieden selbst, ob sie Daten für Forschungszwecke anonymisiert spenden wollten. Zugleich plädiert sie für eine „rationalere Risikoabwägung“. Es sei absurd, wie leicht sich Intimes in sozialen Netzwerken preisgeben ließe, während Gesundheitstechnologien um Akzeptanz kämpften.
Noch verdient Audeering Geld vor allem mit stimmlicher Emotionsanalyse. Kunden sind etwa Autobauer, die anhand der Stimme „die Fahrerzufriedenheit verbessern“ wollen oder Callcenter. Audeerings Technologie steckt zudem in Jabra-Kopfhörern des Partners GN Store Nord.
Doch Schuller will sich damit nicht zufriedengeben. Derzeit bastelt sie mit einem Pharmaunternehmen, das Stimmdaten über Probanden liefern soll, an einer eigenen „Medizinunit“ mit Ärzten. Sie ist überzeugt, dass mit der maschinellen Stimmdiagnostik von Krankheiten „vieles möglich sein“ werde. „Wenn es in Europa zu lange dauert, müssen wir uns eben auf andere Märkte konzentrieren.“
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