Finanzdienstleister Wise-Gründer Taavet Hinrikus will jetzt Europas Start-up-Szene zur Weltklasse machen

Hinrikus (links) scheidet als Chairman des Zahlungsdienstleisters in den kommenden Monaten aus.
London Taavet Hinrikus ist erst 40 Jahre alt. Doch hat der Este schon mehr Erfahrung gesammelt als mancher ältere Unternehmer. Mit dem Messengerdienst Skype und dem Zahlungsdienstleister Wise hat er gleich zwei weltbekannte Start-ups zu Einhörnern, also Firmen mit Milliardenbewertung, gemacht. In Europas Tech-Szene ist er ein respektierter Ratgeber, Investor – und unermüdlicher Cheerleader.
Der Milliardär hält nichts davon, Europa als rückständige Tech-Provinz hinter den Supermächten USA und China abzustempeln. „Das Silicon Valley hat seinen Höhepunkt überschritten“, sagt er. „Wir leben in einer Welt mit vielen Silicon Valleys. Europa ist ziemlich gut positioniert. Wir haben jede Menge Talente. Auf Pro-Kopf-Basis hat Estland die größte Zahl an Einhörnern in der Welt.“
Seit dem Wise-Börsengang an der London Stock Exchange in diesem Sommer ist Hinrikus der zweitreichste Mann Estlands. Das US-Wirtschaftsmagazin „Forbes“ schätzt sein Vermögen auf 1,6 Milliarden Dollar. Nur Wise-Mitgründer und CEO Kristo Käärmann ist mit 2,8 Milliarden Dollar noch reicher.
Den Börsengang hat Hinrikus zum Anlass genommen, seinen Rückzug von dem Zahlungsdienstleister zu verkünden. In den kommenden Monaten will er das Amt des Chairman abgeben. Künftig möchte er sich ganz seinen anderen Projekten widmen.
Als Kapitalgeber hat der Este in mehr als hundert Firmen weltweit investiert. Rund 80 Prozent davon sitzen in Europa. Das hat auch mit seiner persönlichen Lebensqualität zu tun. „Wenn man Sachen in den USA und Singapur macht, dehnt sich der Tag bis in seltsame Uhrzeiten“, sagt er. „Und es gibt so viel Potenzial in Europa.“
„Anleger schätzen ein unabhängiges Board“
Der Abschied von Wise sei traurig, aber das Leben gehe weiter, sagt der Unternehmer. „Wir haben die Firma vor zehn Jahren mit Kristo gegründet, sie in die Gewinnzone geführt und nun in die Hände von neuen Eigentümern gelegt. Für mich ist die unternehmerische Mission damit beendet.“
Der Abgang ist auch unter dem Druck der institutionellen Investoren erfolgt. „Anleger schätzen ein unabhängiges Board“, sagt Hinrikus. Sein Rückzug sei „besser für die Governance“. Er hätte sicherlich auch bleiben können, wenn er darauf bestanden hätte, sagt er. Aber dann stelle sich die Frage des Warums. „Alles hat seine Zeit. Irgendwann fragt man sich immer, wie lange man etwas noch machen möchte. Dies ist eine gute Lösung, die alle glücklich macht.“
Wise ist seit Jahren eine der Vorzeigefirmen Europas. Mit ihrer Idee, Auslandsüberweisungen zu Echtzeit-Wechselkursen anzubieten, haben Hinrikus und Käärmann einen Nerv getroffen. Im Gegensatz zu vielen anderen Start-ups ist der Zahlungsdienstleister schon seit 2017 profitabel. Deshalb entschieden sich die Gründer nun, per Direktnotierung an die Londoner Börse zu gehen.
In den USA ist diese Art des Börsengangs unter Start-ups durchaus üblich, in Europa war Wise der Pionier. Anders als bei einem klassischen IPO wird dabei kein zusätzliches Kapital aufgenommen, der Börsengang bietet nur den bestehenden Investoren die Gelegenheit, ihre Aktien zu verkaufen. Die Gründer sparen nicht nur die hohen IPO-Gebühren, sondern vermeiden auch die Verwässerung ihrer Anteile. Er könne das anderen Gründern nur empfehlen, sagt Hinrikus.
Der Mitgründer hält nur noch einen Anteil von elf Prozent an seiner Firma und will die verbleibenden Aktien in den kommenden Jahren nach und nach verkaufen. „Es ist sinnvoll, sich zu diversifizieren“, sagt er. An seinem Alltag hat der neue Milliardärsstatus nichts geändert. „Ich wache immer noch morgens auf, dusche, mache mir mein Frühstück und werde von meinen Kindern geärgert“, sagt er. „Es fühlt sich genauso an wie vor einem Jahr oder vor fünf Jahren.“
Sicherstellen, dass die nächsten hundert Firmen so erfolgreich wie Wise werden
Zu Beginn der Corona-Pandemie ist Hinrikus mit seiner italienischen Frau und den beiden kleinen Kindern von London nach Tallinn gezogen. Die Entscheidung hat er nicht bereut. Die Kinder könnten jetzt fließend Estnisch sprechen, sagt er. Nächsten Sommer soll es aber zurück nach London gehen.
Für den Wahl-Londoner ist die britische Hauptstadt immer noch der Primus der europäischen Tech-Szene. Hier gebe es die größten unternehmerischen Erfolge, sagt Hinrikus. Neue Zahlen des Datenanbieters Dealroom bestätigen seine Einschätzung. Demnach haben Risikokapitalgeber im ersten Halbjahr 2021 in Großbritannien 18 Milliarden Dollar investiert. Abgeschlagen auf dem zweiten Platz rangiert Deutschland mit 8,7 Milliarden Dollar. Allein in London wurden 10,8 Milliarden Dollar investiert, mehr als in Stockholm (5,9 Milliarden) und Berlin (4,6 Milliarden Dollar).
Es sei eine der Stärken Europas, dass es viele Tech-Hauptstädte gebe, sagt Hinrikus. „London liegt vorn, aber es passieren auch aufregende Dinge in Paris, Berlin und Stockholm.“ Als Investor mischt er überall mit. Er wolle sicherstellen, dass die nächsten hundert Firmen so erfolgreich wie Wise werden. „Ich konzentriere mich überhaupt nicht auf Fintech“, sagt er. „Mich interessieren neuere Bereiche.“ Er nennt Biotech und Klimatech.
Große Hoffnungen setzt er in den Mobilitätsdienst Bolt. Gestartet in Estland, hat die Firma inzwischen in mehrere Länder expandiert. „Sie können eine europäische Version von Uber werden“, sagt Hinrikus. Das Unternehmen füge immer mehr Fahrdienstleistungen hinzu – von Carsharing bis hin zu E-Scootern.
Vom in der Tech-Szene gehypten Konzept der Super-App hält Hinrikus hingegen nichts. Etliche Start-ups geben als Ziel an, die Super-App für eine Branche sein zu wollen: Sie wollen alle denkbaren Produkte in einer App anbieten.
Hinrikus sieht diese Strategie kritisch. „Es ist sehr leicht, ein paar Sachen oberflächlich zusammenzuklatschen und zu sehen, wie viele Produkte man seiner bestehenden Kundenbasis verkaufen kann“, sagt er. Das sei jedoch sehr kurzfristig gedacht. „Bei Wise gehen wir stattdessen in die Tiefe. Wir wollen ein Problem richtig gut lösen und die Kundenerfahrung immer weiter verbessern.“
Bevor er Wise gründete, hatte Hinrikus bereits sechs Jahre bei Skype gearbeitet – er war der erste Mitarbeiter nach den beiden Gründern und als Strategiechef für die Entwicklung der Firma verantwortlich. Als Skype 2005 für drei Milliarden Dollar an Ebay verkauft wurde, stieß Hinrikus seine Anteile ab und legte so den Grundstein für sein Vermögen. Er ging zurück an die Uni und machte einen MBA an der Wirtschaftshochschule Insead. Jahre zuvor hatte er sein Bachelor-Studium in Tallinn abgebrochen und hatte dann das Gefühl, einen Abschluss nachholen zu müssen.
Besonders stolz ist Hinrikus auf ein gemeinnütziges Projekt, das er gerade begonnen hat: ein Internat für Programmierer in seiner estnischen Heimat. Es bietet 200 ausgewählten Schülerinnen und Schülern eine kostenlose zweijährige Ausbildung. Hinrikus sieht dies als seinen Beitrag, um den Fachkräftemangel in Estland zu lindern – und neue Tech-Gründer für Europa hervorzubringen.
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