Textilkonzern Atair – Hidden Champion der Sockenbranche

Bald übernimmt die zweite Generation die Firma Atair.
Steinfurt Als der damalige Weltbankpräsident Paul Wolfowitz vor zwölf Jahren in der Türkei eine Moschee besuchte, blamierte er sich fürchterlich. Seine Socken hatten an den großen Zehen riesige Löcher. Die Bilder gingen um die Welt. Reiner Baumbach, Gründer und Chef von Sockenhersteller Atair aus dem Münsterland, zögerte nicht lange. Er schickte Wolfowitz ein Paket mit neuen Socken.
„Zwei Monate später bekam ich einen persönlichen Dankesbrief“, erinnert sich Baumbach. Wolfowitz schrieb, er hätte für sein Leben ausgesorgt. Denn nach dem peinlichen Patzer war er aus der ganzen Welt mit Socken beschenkt worden.
Anders als der Ex-Weltbankchef wissen die meisten Sockenträger nicht, dass sie Fußbekleidung „designed in Steinfurt“ besitzen. 70 Millionen Paar verkaufen die Münsterländer jedes Jahr. Damit gehört Atair von der Stückzahl her zu den Marktführern.
Anders als die Traditionsmarke Falke etwa kennt die Firma trotzdem kaum jemand. Denn sie produziert überwiegend für Handelsmarken oder Life-Style-Marken wie Tom Tailor, Bugatti oder Camel Active. Ein echter Hidden Champion.
„Wir leben davon, dass die Waschmaschine die Socken frisst“, scherzt Maren Baumbach-Sim. Die 41-Jährige ist im Sommer mit Bruder Jan, 35, in die Geschäftsführung aufgestiegen ist. „Es gab sogar mal Überlegungen, je drei statt zwei Socken als Paar zu verkaufen“, sagt ihr Vater, 66, der sich in diesem Jahr aus dem operativen Geschäft zurückziehen will.
Zehn Paar Socken oder Strümpfe kauft jeder Deutsche im Schnitt pro Jahr, für insgesamt 1,5 Milliarden Euro – Tendenz leicht sinkend. „Die Sockenbranche ist unter Preisdruck geraten“, konstatiert Baumbach. „Wir leben in einem Discount-Land, da gibt es Socken ab 1,99 Euro das Paar.“
Trotzdem schafft es das Familienunternehmen seit 33 Jahren, in einem sinkenden Markt zu wachsen. Der Umsatz stieg 2018 von 53 auf 55 Millionen Euro. „Atair hatte zwar Dellen, etwa als Kunden wie Schlecker oder Strauss verschwanden, aber nie Verlustjahre“, betont Reiner Baumbach. Dabei hatte er mit der Gründung 1986 Neuland betreten.
Skeptischer Handel
Der Diplom-Kaufmann arbeitete zuvor bei Schulte & Dieckhoff, damals Europas größtem Strumpfhersteller. Die Firma hatte die Branche mit ihrer Marke „Nur die“ aufgemischt. Denn sie verkaufte Strümpfe nicht im Modehaus, sondern im Supermarkt. Baumbach brütete mit einem Kollegen in der Kaffeeküche eine neue Geschäftsidee aus: „Handelsmarken gab es damals für Milch und Klopapier, nicht aber für Socken.“
Beherzt kündigten beide und gründeten Atair. „Heute noch schrecke ich nachts manchmal auf, wenn ich darüber nachdenke“, lacht er. Schließlich hatte Baumbach mit 42 Jahren drei kleine Kinder. Anfangs reagierte der Handel skeptisch auf die Newcomer. Doch Kurt Ernsting konnten sie überzeugen. Ernsting’s Family war Atairs erster großer Abnehmer von Feinstrumpfhosen.
Reiner Baumbach hatte den richtigen Riecher für eine lukrative Marktlücke. Dieter Brandes, Ex-Aldi-Manager und Handelsexperte
Die beiden Gründer hatten keine eigenen Maschinen, sondern ließen in Italien und später in Osteuropa fertigen. Während viele deutsche Hersteller untergingen, wuchs Atair mit Socken für Fachhandel, Drogerien, Supermärkte und Kaufhäuser stetig.
Im Jahr 2000 allerdings überwarf sich Baumbach mit seinem Mitgründer. „Weil wir beide die Hälfte der Anteile hatten, blockierten wir uns komplett“, sagt er. Baumbach kaufte die Anteile des Ex-Partners – erneut ein unternehmerisches Wagnis. Später holte er Ex-Kollege Günter Hacke, 64, zu Atair. Der hält heute 15 Prozent, der Rest ist fest in Familienhand.
Vor zwölf Jahren machte Baumbach den nächsten mutigen Schritt und kaufte ein Werk in Serbien. Atair wurde vom Strumpfdesigner und -vertriebler zum Hersteller. „Es ist zwar nur eine Socke, aber die ist sehr komplex“, sagt er. Es sei wichtig, die Kontrolle über die gesamte Wertschöpfungskette zu haben. So gilt heute für Atair: „Designed in Germany, made in Europe.“ 65 Mitarbeiter sind in Steinfurt, 550 in Serbien beschäftigt.
„Reiner Baumbach ist ein typischer Selfmademan: ein umtriebiger Netzwerker, bodenständig und beliebt bei den Mitarbeitern“, sagt Dieter Brandes, Ex-Aldi-Manager und Handelsberater. „Baumbach hatte den richtigen Riecher für eine lukrative Marktlücke.“ Obwohl das Geschäft mit Handelsmarken sehr volatil sein könne, sei es ihm gelungen, Atair Schritt für Schritt erfolgreich auszubauen.
Exportanteil: 15 Prozent
So wächst der Markt in Russland und Osteuropa, der Exportanteil von Atair beträgt aber erst 15 Prozent. Anders als Falke ist Atair, abgesehen von den Eigenmarken Disée und den Kompressionsstrümpfen Provital, kaum bekannt. „Handelsmarken wachsen auch in Osteuropa und Asien stark. Dort hat Atair sicher noch Chancen zu wachsen“, meint Brandes.
Doch die Konkurrenz von Ketten wie Primark und Zara wird überall stärker. „Wir müssen hellwach sein“, weiß Baumbach. Markenhersteller wie Kunert oder Wolford durchlebten bereits Insolvenzen. „Wir müssen etwas Besonderes anbieten, dazu braucht es frische Ideen“, sagt Baumbach und deutet auf Tochter und Sohn.
Maren Baumbach-Sims hat schon in den Ferien Socken etikettiert, um ihr Taschengeld aufzubessern. Nach dem Diplom in BWL und Französisch arbeitete sie zehn Jahre als Produktmanagerin für Klebstoffe bei Henkel. „Für die eigene Firma zu arbeiten macht viel mehr Spaß als für anonyme Aktionäre“, sagt die dreifache Mutter.
Sie teilt sich die operative Führung mit ihrem Vater, ihrem Bruder Jan und Ex-Takko-Manager Benjamin Siedhoff und Mitinhaber Hacke. „Es ist ein Glücksfall für mich, mit meinen Kindern zusammen zu arbeiten“, freut sich der Firmengründer. Sohn Jan, der nach dem Abschluss als Wirtschaftsgeograf als Trainee bei Atair einstieg, weiß: „Für meinen umtriebigen Vater ist es nicht einfach, sich bei Entscheidungen zurückzunehmen.“
Markenzeichen des Vaters sind rote Socken. Damit fiel er früher auf, heute kaum noch. „Die Leute werden immer mutiger“, sagt Jan Baumbach. Socken sind heute ein Modeartikel. Selbst der verstorbene US-Präsident George Bush trug mit über 90 Jahren Statement-Socken. „Je greller und verrückter ein Muster, umso besser“, war Bushs Socken-Credo.
Nicht nur für ausgefallenes Design der Socken geben die Leute heute gern etwas mehr aus, auch für Zusatznutzen. So gibt es Silikon gegen Druckstellen, Düfte in Mikrokapseln, die 30 Wäschen halten, oder Silberzusätze gegen Bakterien. Selbst heiße Sommer setzen Atair kaum zu. Zwar verkaufen sich dann weniger Nylonstrümpfe, dafür mehr unsichtbare Füßlinge. Der Sneakertrend kompensiert vieles.
Bisher hat Atair rund 1,3 Milliarden Paar Socken verkauft. „Das klingt nach hohen Einnahmen, aber wir haben in 33 Jahren auch sehr viel investiert, um unsere Marktposition auszubauen“, sagt der Gründer. Er würde sich freuen, wenn auch die dritte Generation einmal die Firma übernimmt. Das Geschäft wird komplizierter, aber Tochter Maren ist wie er überzeugt: „Die Welt wird immer Socken brauchen.“
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.