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Gastbeitrag zu Start-ups in Deutschland Warnung und Verheißung für die Wirtschaft

Für Deutschlands Zukunft ist eine kluge Start-up-Strategie entscheidend. Mittelständer und Nachwuchsunternehmer müssen zusammenrücken und vom Silicon Valley lernen – besonders aus seinen Pleiten. Ein Gastbeitrag.
  • Steven Hill
16.06.2017 - 19:08 Uhr Kommentieren
Steven Hill ist Buchautor („Die Start-up- Illusion“) und Wirtschaftspublizist. Er war 2016 Holtzbrinck Fellow in Berlin. Sie erreichen ihn unter: gastautor@handelsblatt.com. Quelle: AMERICAN ACADEMY
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Steven Hill ist Buchautor („Die Start-up- Illusion“) und Wirtschaftspublizist. Er war 2016 Holtzbrinck Fellow in Berlin. Sie erreichen ihn unter: [email protected]

(Foto: AMERICAN ACADEMY)

Berlin In Deutschland stellen sich die Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft dieselben Fragen: „Warum gibt es kein deutsches Facebook, Google, Amazon oder Apple? Warum ist Deutschland nicht innovativer? Sollte Deutschland nicht dem Entwicklungsmodell des Silicon Valleys nacheifern?“ Doch ist das Nachahmen von Start-ups aus dem Silicon Valley wirklich die beste Zukunftsstrategie? Ist es überhaupt möglich?

Das schmutzige kleine Geheimnis des Silicon Valleys, über das niemand gerne spricht, lautet: Sieben von zehn Start-up-Unternehmen scheitern, neun von zehn erreichen niemals die Gewinnzone. Viele von ihnen spezialisieren sich auf Produkte oder Dienstleistungen, die cool anmuten, von denen sich aber über kurz oder lang herausstellt, dass es keinen Markt für sie gibt. In diesem Moment versiegen die Zuschüsse der Investoren, mit denen sich viele Start-ups finanzieren – und das junge Unternehmen stirbt. Das passiert ständig und überall. Die Risikokapitalgeber des Silicon Valleys investieren, als zockten sie in einem Kasino, verschwenden riesige Mengen an Geld und Talent auf die abwegigsten Ideen in der vagen Hoffnung, es Facebook gleichzutun.

In Deutschland existieren derzeit etwa 6.000 Start-ups. Falls ihre Erfolgsaussichten mit denen im Silicon Valley vergleichbar sind, werden 4.500 von ihnen scheitern und nur 600 jemals die Gewinnzone erreichen – trotz der Milliarden, die in sie gepumpt werden. Hätten staatliche Förderprogramme eine vergleichbare Erfolgsquote: Die Steuerzahler würden auf die Barrikaden gehen.

Maschinen statt Menschen?

Doch das Modell des Silicon Valleys weist noch mehr Unzulänglichkeiten auf. Eine von ihnen ist, dass diese Unternehmen kaum Arbeitsplätze schaffen. Facebook beschäftigt lediglich 12.000 Vollzeitarbeitskräfte. Google und Apple geben jeweils 70.000 Menschen Arbeit, während Uber, Airbnb und Twitter jeweils nur etwa 5.000 Direktbeschäftigte haben. Das Arbeitsplatzwachstum ist also im Vergleich zu Unternehmen der klassischen Industrie wie Volkswagen, BMW, Bosch und Siemens, die Hunderttausenden Menschen Arbeit geben, äußerst überschaubar. Als der US-amerikanische Computer- und Elektronikhändler Circuit City Insolvenz anmeldete, verloren mehr Menschen ihren Arbeitsplatz, als Facebook, Yelp, Zynga, LinkedIn, Zillow, Zulily und Box zusammen auf der ganzen Welt beschäftigen. Und die Technologieriesen brüsten sich geradezu damit, dass ihre Erfindungen Maschinen noch intelligenter machen und ihre Software und Algorithmen den Menschen ersetzen werden.

Die Unternehmen ergänzen ihre Belegschaften durch Heerscharen von Scheinselbstständigen und Freiberuflern, die oft in prekären Verhältnissen ohne Sicherheit und Sozialleistungen leben. Solche Beschäftigungsverhältnisse sind kein solides Fundament für eine gesunde Volkswirtschaft. Deutsche und Europäer haben wegen der Globalisierung dieselben Zugangsmöglichkeiten zu Produkten und Dienstleistungen von Facebook, Google, Apple und Amazon wie die Amerikaner. Da diese Unternehmen aber kaum Jobs schaffen und globale Märkte bedienen, sind die Vorteile für ihre Heimatländer und das zugrunde liegende kasinoartige Geschäftsmodell klar überbewertet. Doch Deutschland kann es besser machen. Anstatt derart unsichere Anlagemodelle zu fördern, sollte Deutschland eigene Wege gehen. Diese sollten zwar durchaus auf Start-up-Unternehmen und Innovation aufbauen, aber auch auf den typischen deutschen Stärken. Nirgendwo kommen diese Qualitäten erfolgreicher zur Geltung als im deutschen Mittelstand, der gut 3,6 Millionen Unternehmen umfasst, etwa 60 Prozent aller Arbeitsplätze in Deutschland, 56 Prozent der Wirtschaftsleistung generiert und die Exportmaschine des Landes am Laufen hält.

Der Mittelstand steht für eine Innovation, die mehr bewirkt als alle Facebooks, Googles, Amazons und Apples zusammen. Tatsächlich beschäftigen die Silicon-Valley-Giganten nicht einmal ein Prozent der 25 Millionen Arbeitskräfte des Mittelstands. Doch nun steht der Mittelstand vor einem neuen Dilemma. Wie soll man auf die aufkommende digitale Transformation reagieren? Selbstverständlich müssen sich viele dieser kleinen Unternehmen anpassen, was zu der pikanten Frage führt, ob sich nicht eine Mischung aus Mittelstand und Start-up-Universum schaffen ließe.

Zielgerichtete Start-up-Strategie

Natürlich wäre das denkbar. Doch auf den ersten Blick erscheinen die beiden Branchen völlig unterschiedlich. „Es gibt einen extremen Kontrast zwischen der Internet- und der Industriekultur, zwischen dem herstellenden Gewerbe und der Digitalisierung“, sagt Martin Botteck, Professor für Ingenieurwesen an der Fachhochschule Südwestfalen. „Die eine dieser Kulturen geht davon aus, dass Produkte vor der Markteinführung nicht perfekt sein müssen, da man sie auch nachträglich mit Software-Updates nachrüsten könne. Folglich sollte man sie so schnell wie möglich auf den Markt werfen, um der Erste zu sein und sich Marktanteile zu sichern.“ Die andere Kultur, so Botteck, plant sämtliche Schritte sorgfältig, methodisch und unter Berücksichtigung von Konstruktion, Präzision und Ausführung durch – nicht nur das Produkt, sondern den gesamten Produktionsprozess. Mittelstandsunternehmen vertreten damit eine typisch deutsche Form des „Familienkapitalismus“, bei dem Unternehmen Wert auf das Verhältnis zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern legen. So bildet er einen Gegensatz zur schrillen Start-up-Kultur.

Tatsächlich könnte man mit dem richtigen Maß an Pflege und Unterstützung das Beste beider Welten zusammenbringen. Start-ups brauchen Geld, Mittelständler haben es; kleine und mittlere Firmen brauchen talentierte und motivierte Digitalarbeiter, die sich in den Start-ups in Berlin, Hamburg und München tummeln. Mittelständler haben oft Schwierigkeiten, die besten Nachwuchskräfte anzuziehen, da sie sich außerhalb der attraktiven Ballungsgebiete befinden. Viele Mittelständler sind an der Weltspitze im Export und in Fragen der Skalierung äußerst versiert. „Man muss gute kleine Start-ups finden und sie mit Hilfe der deutschen Ingenieurskunst wachsen lassen“, sagt Lars Zimmermann, Vizepräsident der Digital- und Start-up-Beratung Hy!. Beispiele für eine solche gegenseitige Befruchtung gibt es. Die Deutsche Bahn hat Start-up-Unternehmen eingespannt, um neue Technologien im Bereich Fahrkartenautomaten und hinsichtlich anderer Servicekomponenten zu sondieren. Axel Springer hat sich von einem traditionellen Verlag in ein Online-Medienimperium verwandelt.

Einer der bedeutendsten Innovatoren ist Trumpf, einer der größten Werkzeugmaschinenbauer der Welt. Trumpf hat sich mit einer vernetzten Plattform aus Tausenden Sensoren, die in Industrieanlagen Maschinen miteinander verknüpfen, Daten sammeln und so die Betriebseffizienz steigern, ins digitale Zeitalter katapultiert. So kann das Netzwerk den Fertigungsprozess mit äußerster Präzision überwachen und die Produktionsleiter benachrichtigen, wenn bestimmte Materialien knapp werden. Es kann sogar eigenständig Ersatzmaterialien bestellen.

Schlüsselrolle für die Politik

Die Politik spielt eine entscheidende Rolle dabei, die Zusammenarbeit zwischen den unterschiedlichen Firmenkulturen harmonisch zu gestalten. Einige Politiker haben zwar bereits einzelne konkrete Vorhaben formuliert, eine überzeugende Vision hat sich jedoch nicht herauskristallisiert. Gelegentlich erhält man den Eindruck, dass der deutschen Politik nicht klar ist, wie viel beim Übergang zur digitalen Wirtschaft auf dem Spiel steht. Und die Start-up-Hipster, die sich ihres urbanen Lifestyles erfreuen, scheinen Traditionsunternehmen im Hinterland zu schmähen. Wie viele von ihnen haben schon mal einen Fahrzeugbauer oder einen Mittelständler besucht?

Deutschland braucht also eine „zielgerichtete Start-up-Strategie“, die sich ganz auf die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Bereichen konzentriert. Es bräuchte Führer aus Politik und Wirtschaft, die die beiden Sphären Berlin und Mittelstand zusammenbringen. Das erfordert vielleicht eine Abkehr vom Anspruch, ständig die neuesten, fantastischsten Konsumprodukte und Dienstleistungen wie Apple oder Facebook herzustellen. Die deutsche Stärke aber liegt seit jeher in der Industrie, nicht in der Konsumorientierung. Deutschland wird niemals über die finanzielle Leistungskraft der Vereinigten Staaten verfügen und Investments schrotflintenartig auf so viele Akteure abfeuern können.

Der Mittelstand ist Deutschlands größter Trumpf. Er ist einzigartig und hebt Deutschland vom internationalen Wettbewerb ab. Und auch die Start-up-Hipster in ihren Cafés in Berlin-Mitte sind für Deutschlands Zukunft wichtig. Denn sie verkörpern die Begeisterung, den Optimismus, die Computerversiertheit und die Zukunftsvisionen einer neuen Generation. Die beiden Sphären sind demnach zwei Seiten ein und derselben Medaille. Man könnte das „Rocket-Mittelstand“ nennen, eine Kreuzung aus der Ingenieurskunst und Innovationskraft der deutschen Industrie auf der einen und der Skalierungskraft des Berliner Inkubators Rocket Internet auf der anderen Seite. Start-up-Wirtschaft und Mittelstand werden nach Einschätzung von Philipp Semmer (Motu Ventures) entweder gemeinsam Erfolg haben oder gemeinsam scheitern. Seine Worte sollten der Wirtschaft gleichermaßen Warnung und Verheißung sein.

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