Gründermythen Was Konzerne von Start-ups lernen können

Die jungen Gründer werden zur Projektionsfläche der unerfüllten Sehnsucht der „old economy“.
Berlin Sie baden im Bällebad und kreieren ständig neue Ideen. Über Nacht übersetzen sie diese in Algorithmen und erzeugen gewaltige Skalierungseffekte bei null Grenzkosten. Sie demonstrieren die neue Leichtigkeit des Seins, stehen mit offenen Bierflaschen an der Spree, sind frei von Hierarchien und werden in null Komma nichts zu Milliardären.
Das ist das Bild, das die durch Abstimmungsorgien, Schnittstellenflut, Silodenken und Unbeweglichkeit in gestandenen Unternehmen zermürbten CEOs von Gründern der schönen neuen digitalen Welt haben. Start-ups werden zur Projektionsfläche der unerfüllten Sehnsucht der „old economy“ – Steve Jobs und Elon Musk zu Idolen einer neuen Zeit. Heerscharen von Vorständen pilgern zu den digitalen Höhenzügen in Berlin, Tel Aviv und im Silicon Valley. Sie hoffen, etwas von dem Glanz der dort spürbaren Agilität zu erhaschen.

Markus Baumanns ist Berater.
Zurück im Jammertal des Alltags wird das Heulen und Zähneknirschen noch größer. Das phrasenschweinverdächtige Wort der Disruption macht die Runde: Nichts als Krieg sei es, was die jungen, digitalen Wilden gegen lieb gewonnene Geschäftsmodelle in Verlagswesen, Logistik und Maschinenbau betrieben. Die Prinzipien der Digitalökonomie: Zugang nicht Besitz, Wissen teilen statt Wissen schützen — mehr Paradigmenwechsel geht nicht.
Das mit dem Paradigmenwechsel stimmt. Die Digitalisierung wirbelt alle Geschäftsmodelle durcheinander. Das Bild von den Start-ups hingegen ist Blödsinn. Eine Studie des Berliner Thinktanks Lead, der Hochschule St. Gallen und der Company Companions räumt auf mit den Mythen. Statt im Bällebad zu baden, werden erfolgreiche Start-ups von ihren Investoren gezwungen, Strukturen und Prozesse in die Organisation einzuziehen. Nur über Standardisierung von Abläufen lassen sich die Skalierungseffekte heben. Start-ups sind ständig knapp bei Kasse und hecheln den projektierten Ergebnissen hinterher.
Digitalisierung schafft Veränderung
Statt freien Experimentierens herrschen knallharte Kontrolle und Zahlenziele, statt Basisdemokratie straffe Führung. Die Gründer suchen ihre neue Rolle als Manager, die die Balance finden müssen zwischen dem Zwang zu Strukturen und dem Wunsch, die Agilität der ersten Stunde zu erhalten. Nur wenige, die es schaffen, harter Kampf um Talente, 20-Stunden-Tage – das ist die Wirklichkeit in der neuen Mitte Berlins.
Und doch gibt es Lehren, die gestandene Unternehmen mitnehmen können. Unsicherheit und dauernde Unruhe als Normalzustand akzeptieren: Das Mantra, endlich wieder Ruhe im Unternehmen haben zu wollen, hat ausgedient. Sich vorantasten, Halbfertiges am Kunden testen und mit ihm gemeinsam vorwärts irren. Erst mit dem perfekten Produkt an den Markt zu gehen ist angesichts sich schnell verändernder Kundenbedürfnisse realitätsfern. Gute Zusammenarbeit ins Zentrum stellen und zu einem lebendigen Organismus werden. Starre Hierarchien, Organigramme und Stellenbeschreibungen sind Relikte aus einer längst vergangenen Zeit.
Start-ups kochen auch nur mit Wasser. Statt Sehnsüchte zu projizieren und Mythen hinterherzulaufen, sollten wir hinschauen und lernen.
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