Start-up-Standort NRW Zwischen Rhein und Ruhr herrscht digitale Aufbruchstimmung
Essen Es gibt Orte, die verraten nicht, dass dort digitaler Pioniergeist zu Hause ist. Altenessen ist so ein Ort. Die ehemalige Zechensiedlung im Essener Norden ist vom Strukturwandel gezeichnet: Kohle weg, Arbeitsplätze weg. Hier sitzt Q.One Technologies. Das Tech-Unternehmen hat seinen Sitz in einem dieser verglasten Bürogebäude aus den späten Neunzigern, bei denen Budget und Bauvorschriften Architektenträume aus Stahl und Glas auf Provinzialität und Fliesenboden reduzierten.
Innen ist es anders: Hier hat Chef Carsten Puschmann alles auf Start-up getrimmt. Hippe Büromöbel, Motivationssprüche und – ohne die kommt wohl kein Digitalunternehmen aus – To-Do-Listen auf Post-its an den Wänden.
Puschmann musste vergrößern, sein Unternehmen wächst. Es könnte auch irgendwo in einem Berliner Hinterhofbüro in Mitte oder Kreuzberg beheimatet sein. Aber draußen donnern die Autos über die Schnellstraße, am Horizont reihen sich die Mehrfamilienhäuser, hier wird Currywurst statt Quinoasalat gegessen. Trotzdem ist Puschmann überzeugt: Essen, ja das ganze Ruhrgebiet hat das Zeug dazu, zum aufstrebenden Standort für Start-ups zu werden.
So wie Puschmann sehen das viele Gründer in Nordrhein-Westfalen – die, die sich nicht für Berlin oder München entschieden haben, um ihr Unternehmen zur Marktreife zu entwickeln. Es herrscht Aufbruchstimmung zwischen Rhein und Ruhr, zwischen Ostwestfalen-Lippe und Aachen.
Und nicht nur die Jungunternehmer glauben an den Standort – auch viele Experten halten das bevölkerungsreichste Bundesland für einen idealen Ausgangspunkt für den nächsten Schritt der Digitalisierung: der Industrialisierung 4.0.
Doch auch wenn Unternehmer gerne einmal den neuen Gründergeist herbeireden, ist noch viel zu tun im Westen: In Start-up-Rankings belegt NRW gerade einmal die Plätze im Mittelfeld, das Geld sitzt nicht besonders locker, und das Klein-Klein vieler Bürgermeister verhindert flächendeckende Lösungen.
Zuletzt zeichnete sich aber ein anderes Bild ab: So konstatierte die Unternehmensberatung EY in ihrem Start-up-Barometer einen deutlichen Anstieg bei den Finanzierungssummen in NRW. So stieg das Gesamtvolumen von 54 Millionen Euro im ersten Halbjahr 2017 auf rund 129 Millionen im selben Zeitraum 2018 – ein Zuwachs von 138 Prozent. Expertenhalten das nicht für einen Ausreißer, sondern einen Trend.
Region hinkt hinterher
Gründer Carsten Puschmann in Essen weiß um die Vorurteile des Standorts: „Wenn ich in Berlin bin, fragen die Leute manchmal gerne noch mal nach, um sicher zu gehen, ob sie es richtig verstanden haben“, schmunzelt der Gründer. Q.One Technologies ist dabei eigentlich kein Start-up mehr, sondern ein über zehn Jahre altes Digitalunternehmen mit Kunden wie der Deutschen Bahn, Hubert Burda oder Payback.
Puschmann und sein Team bauen für sie Online-Plattformen oder Netzwerke. Kernprodukt ist der sogenannte Cloud-Basket, ein universaler Warenkorb, der es ermöglicht. mit einem Account und Login in verschiedenen Onlineshops einzukaufen. Für Mitgründer Puschmann stand nie zur Debatte, dass er sich zwecks Gründung aus Nordrhein-Westfalen gen Osten aufmachen würde: „Ich glaube an den Standort – und an seine Vorteile.“
Diese Vorteile lassen sich auf den ersten Blick nicht wirklich fassen: Nachdem Stahl, Kohle und Montanindustrie das Ruhrgebiet weitestgehend verlassen haben, kommt die Region nur schwer wieder auf Kurs. 2012 war das Bruttoinlandsprodukt pro Erwerbstätigem fast 1500 Euro niedriger als im restlichen Bundesland. Mit einer Belebung des Arbeitsmarktes sei in der näheren Zukunft zudem nicht zu rechnen, konstatierte die IHK Ruhr 2015.
Manch einer sieht da Hoffnung in der digitalen Revolution: Wie zum Beispiel das Forschungsinstitut Prognos feststellte, könnte die Industrie 4.0 der große Wachstumstreiber für das Ruhrgebiet, ja ganz Nordrhein-Westfalen werden.
Christian Lüdtke, Gründer und Geschäftsführer der Digitalberatung und Start-up-Schmiede Etventure, sieht die Vorbedingungen günstig: „NRW ist die größte Volkswirtschaft aller deutschen Länder, neun Dax-Konzerne sitzen hier und noch immer gibt es eine starke Industrie – da müssen Start-ups ran.“
Lüdtke ist Duisburger, gründete in Berlin und ist seit dem Ruhr Summit 2017 Gründerkoordinator Ruhr. Seitdem will er die Region nach vorne bringen – aktuell mit dem sogenannten Data Hub Ruhr: „Partner wie RAG, die Haniel Digitaleinheit Schacht One oder Evonik stellen uns Daten zur Verfügung, um das strategische Datenpotenzial für sie herauszufiltern – diesen Job sollen Start-ups mit entsprechenden Geschäftsmodell erledigen.“
Im Herbst wird der Hub ans Netz gehen, Gründer könnten dann ihre Technologie hier ausprobieren – auch für Konzerne ist das interessant, schließlich setzt der Data Hub erfolgsversprechende Start-ups auf ihren Radar.
Geldgeber schauen eher nach Berlin oder München
Auch Investor Frank Thelen, bekannt unter anderem aus der Start-up-Show „Die Höhle der Löwen“, glaubt an den Standort NRW: „Klar, wenn ich eine App entwickle, ist es grundsätzlich egal, ob ich diese von Kleve, Berlin oder San Francisco aus in die Welt schicke. Aber die große Zeit der reinen App-Start-ups ist vorbei.“
Es komme inzwischen auf mehr Substanz an, ist der Branchenkenner überzeugt: „Ist ein Start-up etwa im Biotech- oder Industrie-Bereich unterwegs, kann die Nähe zu etablierten Unternehmen sehr wichtig werden.“ NRW habe da einen Wettbewerbsvorteil etwa gegenüber Berlin.
Das zeigt sich weiter nordöstlich in Bielefeld. Mit seinem zurückhaltendem Charme des leisen Geldes gilt die Stadt vielen als die Hauptstadt des deutschen Mittelstands. In und um das Herz von Ostwestfalenlippe sitzen Konzerne wie Oetker, Miele oder Schüco.
Für Start-ups bietet diese Tatsache den idealen Nährboden, glaubt Andreas von Estorff. Er ist Gründer des Bielefelder Pioneers Club, einem Co-Working-Space für Gründer und Mittelständler. Zusammen mit der Founders Foundation unter Manager Sebastian Borek einer der Anlaufstellen für Start-ups in der Region. Doch von Estorff sieht auch die Probleme: „Noch fehlt es häufig am nötigen Kapital – Berlin erhält knapp 70 Prozent des gesamten Investitionsvolumens in deutsche Start-ups, da kann NRW natürlich nicht mithalten.“
Das Geld ist ein Knackpunkt im Westen: Die großen Wagniskapitalgeber aus dem In- und Ausland richten ihren Blick eher auf Berlin, vielleicht gen München, meist aber nicht auf Ruhrgebiet oder Rheinland. Man müsse die heimischen Unternehmer dafür sensibilisieren, damit sie diese Lücke schließen, ist von Estorff überzeugt.
Zwei, die das schon geschafft haben, sind Daniel Schütt und Stefan Peukert mit ihrem E-Learning-Start-up Masterplan aus Bochum. Unter ihren Investoren sind zum Beispiel Tengelmann Ventures, Unternehmer Thomas Bachem und Trivago-Gründer Rolf Schrömgens, dessen einstiges Start-up Trivago ein paar Kilometer weiter in Düsseldorf sitzt.
Auch sie glauben an den Standort: „Wir haben ein riesiges Einzugsgebiet hier – wir können wegen der guten Infrastruktur Mitarbeiter aus der ganzen Region anwerben“, sagt Mitgründer Schütt. Zudem sei die Nähe zu Universitäten ein Riesenvorteil, meint der Bochumer: „Wir stehen im Austausch mit entsprechenden Professoren, die uns dann auch auf Talente unter ihren Studenten aufmerksam machen.“ Und das sei doch überall in NRW so, ist der Unternehmer überzeugt: „Es gibt exzellente Universitäten und Fachhochschulen – Talente also quasi frei Haus.“
Gründer klagen über schlechte Rahmenbedingungen
Und die sind weitaus günstiger zu haben, weiß Philipp Heltewig, Mitgründer des Düsseldorfer Start-ups Cognigy, das Chatbots oder sogenannte Skills für Sprachassistenten wie Amazon Alexas für Kunden wie BMW oder Henkel baut: „Jedes große Unternehmen hat doch mittlerweile eine Digitaleinheit in Berlin – da konkurrieren Start-ups dann mit Dax-Konzernen um Programmierer.“
Das sieht auch Gründer Puschmann aus Essen so: „Wir können hier zum Beispiel viel einfacher Personal rekrutieren, da der Wettbewerb geringer ist.“ Heltewig ergänzt: „Außerdem kommen viele Talente aus dem Datenbereich zum Beispiel nach der Zeit im Ausland zurück in ihre Heimat Rhein-Ruhr und suchen geeignete Arbeitsplätze.“ Da könne man als Start-up natürlich dann einen interessanten bieten.
Ärgerlich wird Heltewig allerdings, wenn es um andere Rahmenbedingungen am Standort geht: „Das ist eine Katastrophe – die Banken hier sind nicht auf Gründer eingerichtet und von der Bürokratie her ist die Gründung eines Start-ups enorm komplex. Von der Finanzierung ganz zu Schweigen – Förderungsmöglichkeiten seien entweder kaum vorhanden und wenn, dann in zu geringem Maße.“ Da müsse eindeutig die Politik ran.
Auch Seriengründer von Estorff sieht die Politik in einer Mitverantwortung: „Bei allem geht es um eine gute Vernetzung von Unternehmen, Gründern, Hochschulen und Kapital und das idealerweise unterstützt durch die Politik.“ Doch noch setzt man zwischen Rhein und Ruhr eher auf Isolation statt Kooperation, viele Bürgermeister pflegen lieber eifersüchtig ihre Start-ups, statt den Austausch zu suchen.
Das glaubt auch Investor Thelen: Die Stärke NRWs sei die Vielfalt, aber die werde auch zum Problem: „Im Fokus stehen die einzelnen Städte, weniger das Land.“ Zudem stünden viele Städte noch oft in einem Wettbewerb zueinander, kritisiert Thelen: „Als Gründer kann man also auch schnell den Überblick verlieren – mehr Koordination durch das Land könnte helfen, NRW als Start-up-Standort bekannter und attraktiver zu machen.“
Für Data-Hub-Gründer Lüdtke hat sein Engagement auch mit Stolz zu tun: „Das Ruhrgebiet war einmal das industrielle Herz des Landes und kann beachtliche Unternehmerpersönlichkeiten vorweisen – das sollte die Region durch seine Gründer wiederentdecken.“ Vielleicht sitzen die Krupps und Haniels der nächsten industriellen Revolution ja tatsächlich wieder an Ruhr und Rhein.
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