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Interview mit Kerstin Andreae BDEW-Chefin: „Wer den Kohleausstieg will, darf sich nicht gegen neue Gaskraftwerke stellen“

Nach Überzeugung von Energie-Verbandschefin Kerstin Andreae spielen Gaskraftwerke eine zentrale Rolle, um die Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
03.11.2021 - 10:02 Uhr 1 Kommentar
„Die Zeitspanne von einem Antrag bis zur rechtssicheren Genehmigung beträgt vier bis acht Jahre. Das ist so nicht akzeptabel und steht dem Transformationsprozess zur Klimaneutralität massiv im Weg“, sagt Andreae. Quelle: dpa
Kerstin Andreae

„Die Zeitspanne von einem Antrag bis zur rechtssicheren Genehmigung beträgt vier bis acht Jahre. Das ist so nicht akzeptabel und steht dem Transformationsprozess zur Klimaneutralität massiv im Weg“, sagt Andreae.

(Foto: dpa)

BDEW-Hauptgeschäftsführerin Kerstin Andreae warnt vor einem übereilten Ausstieg aus der Erdgasnutzung. Das politisch definierte Ziel der Klimaneutralität bis 2045 sei „äußerst ambitioniert“, sagte Andreae dem Handelsblatt. „Ich warne davor, beliebig mit anderen Zahlen und neuen Ausstiegsdaten zu hantieren“, ergänzte sie.

Wer einen raschen Ausstieg aus der Erdgasnutzung fordere, spiele mit der Versorgungssicherheit. „Und die ist elementar für uns alle. Wer sie gefährdet, gefährdet damit auch die Grundlage der Akzeptanz für den gesamten Transformationsprozess“, warnte Andreae. Klimaschutzorganisationen oder etwa die Grünen-Nachwuchsorganisation Grüne Jugend fordern einen Erdgas-Ausstieg im Jahr 2035.

Andreae sprach sich für eine drastische Verkürzung der Genehmigungsverfahren für neue Kraftwerke aus. „Die Zeitspanne von einem Antrag bis zur rechtssicheren Genehmigung beträgt vier bis acht Jahre. Das ist so nicht akzeptabel und steht dem Transformationsprozess zur Klimaneutralität massiv im Weg“, sagte sie. „Um diesen Flaschenhals zu beseitigen, müssen unpraktikable Vorschriften weg, die Personalausstattung der Genehmigungsbehörden muss deutlich verbessert werden, Verwaltungsverfahren müssen konsequent digitalisiert werden. Anders lassen sich die ehrgeizigen Ziele der Politik keinesfalls erreichen.“

Lesen Sie hier das gesamte Interview im Wortlaut:

Frau Andreae, der Kohle- und der Atomausstieg haben zur Folge, dass gesicherte Kraftwerksleistung wegfällt. Es müssen daher bis 2030 neue Gaskraftwerke als Back-up-Lösung her. Über welche Größenordnungen reden wir?
Dazu hat es zuletzt zahlreiche verschiedene Studien und Berechnungen gegeben. Wenn man die Ergebnisse zusammenfasst, sieht man, dass Deutschland 2030 eine installierte regelbare Kraftwerksleistung im Bereich von 60 bis 75 Gigawatt (GW) benötigt. Wir  halten 68 GW  für erforderlich, die ganz überwiegend mit Gas betrieben werden. Dabei unterstellen wir die Analyse im Auftrag des Wirtschaftsministeriums, laut der gasbetriebene Kraftwerke mit einer Leistung von 15 GW neu gebaut werden müssen. Dabei handelt es sich dann um Anlagen mit Kraft-Wärme-Kopplung (KWK), in denen also die Produktion von Strom und Wärme kombiniert wird.

Bei einem wachsenden Anteil von Wind- und Sonnenstrom werden die neuen Kraftwerke nur selten zum Einsatz kommen. Es wird also schwer, mit den neuen Anlagen Geld zu verdienen. Was ist zu tun?
Zu den Grundvoraussetzungen einer erfolgreichen Energiewende gehört der massive Zubau erneuerbarer Energien. Zugleich muss es aber darum gehen, das hohe Maß an Versorgungssicherheit, das wir aktuell zu verzeichnen haben, zu erhalten. Um dieses Ziel zu erreichen, brauchen wir mehr Flexibilität im Gesamtsystem, auch auf der Nachfrageseite. Hinzu kommt, dass wir die Speicherkapazitäten erhöhen müssen. Es ist also nicht so, dass Versorgungssicherheit nur durch regelbare Kraftwerke, also durch die sogenannte Residuallast, sichergestellt werden kann. Aber wenn all diese Potenziale ausgeschöpft sind, bleibt ohne jede Frage ein Bedarf an regelbarer Kraftwerksleistung. Das wird nicht ohne neue Gaskraftwerke gehen. Es muss sichergestellt sein, dass diese Kraftwerke auch tatsächlich gebaut werden durch auskömmliche KWK-Grundvergütung und Kohle-Ersatzbonus.

Bedarf es weiterer Anreize?
Wir müssen intensiv darüber diskutieren, ob zusätzliche Instrumente erforderlich sind oder ob die Investition in neue Kraftwerke sich allein durch den Stromverkauf refinanzieren lässt. Entscheidend ist, dass die Kraftwerke auch wirklich am Netz sind, wenn sie gebraucht werden. Viel Zeit ist nicht mehr. Es darf am Ende nicht passieren, dass die Bundesnetzagentur sich gezwungen sieht, Kohlekraftwerke in Betrieb zu halten, weil sich die Versorgungssicherheit ansonsten nicht sicherstellen ließe. Wer den Kohleausstieg will, darf sich nicht gegen neue Gaskraftwerke stellen. Klar ist, dass die neuen Gaskraftwerke H2-ready sein müssen, also auf den Betrieb mit Wasserstoff oder anderen CO2-freien Gasen vorbereitet sind. Das muss sich nach unserer Überzeugung auch in der EU-Taxonomie widerspiegeln. Sie muss so ausgestaltet werden, dass Investitionen in moderne Gaskraftwerke, die H2-ready sind, erfasst sind.

Gibt es Vorbilder für Kapazitätsmarktmodelle in Europa, auf die man zurückgreifen könnte?
Die Beispiele aus der EU lassen sich nicht auf Deutschland übertragen, da geht es immer um sehr länderspezifische Lösungen. Außerdem sind die beihilferechtlichen Hürden sehr hoch. Einfache Lösungen sind daher nicht in Sicht.

Selbst wenn die Marktbedingungen stimmen: Langwierige Genehmigungsverfahren machen den raschen Bau von neuen Kraftwerken zur Herausforderung. Wie realistisch ist es also, dass bis 2030 neue Kraftwerke betriebsbereit sind?
Das ist in der Tat eine große Hürde. Die Zeitspanne von einem Antrag bis zur rechtssicheren Genehmigung beträgt vier bis acht Jahre. Das ist so nicht akzeptabel und steht dem Transformationsprozess zur Klimaneutralität massiv im Weg. Um diesen Flaschenhals zu beseitigen, müssen unpraktikable Vorschriften weg, die Personalausstattung der Genehmigungsbehörden muss deutlich verbessert werden, Verwaltungsverfahren müssen konsequent digitalisiert werden. Anders lassen sich die ehrgeizigen Ziele der Politik keinesfalls erreichen.

Muss die Spitzenlast im Inland gedeckt werden können – oder kann man sich auch auf die „elektrischen Nachbarn“ verlassen?
Wir haben einen EU-Strombinnenmarkt, und das ist gut so. Das Zusammenwachsen der Energiemärkte stärkt die Versorgungssicherheit. Wir profitieren davon, wenn wir uns gegenseitig unterstützen können, etwa dann, wenn ein Kraftwerk ausfällt und der Strom aus dem Nachbarland kommt. Aber das allein reicht nicht. Deutschland muss sich weiter anstrengen, beim Ausbau der Erneuerbaren voranzukommen. Wir reden über eine Verdopplung der Windkraftkapazitäten und über eine Verdreifachung der Photovoltaikkapazitäten bis 2030. Gleichzeitig brauchen wir ausreichend gesicherte Leistung – dabei können wir uns nicht einfach auf unsere Nachbarn verlassen.

In vielen Szenarien zur Entwicklung des Stromversorgungssystems wird davon ausgegangen, dass Deutschland auch übers Jahr betrachtet einen wachsenden Anteil des benötigten Stroms aus dem Ausland importiert. Ist das okay oder eher problematisch?
Man darf den Blick nicht auf den Stromsektor verengen. Deutschland importiert schon heute rund 80 Prozent seines Primärenergiebedarfs aus dem Ausland. Auch wenn wir unsere Erneuerbaren-Kapazitäten drastisch ausbauen, werden wir Energie-Importland bleiben. Allerdings wird sich die Struktur der Importe wandeln. Künftig werden wir nicht mehr Öl und Erdgas importieren, sondern dekarbonisiertes Gas, etwa in Form von grünem Wasserstoff.

Klimaschutzorganisationen und beispielsweise die Grüne Jugend fordern einen Ausstieg aus der Erdgasnutzung ab 2035. Kann das gelingen?
Das politisch definierte Ziel ist Klimaneutralität bis 2045. Bis dahin muss das Gas, das wir einsetzen, dekarbonisiert sein. Dieses Ziel ist äußerst ambitioniert. Ich warne davor, beliebig mit anderen Zahlen und neuen Ausstiegsdaten zu hantieren. Wer so einen Ausstieg aus der Erdgasnutzung fordert, spielt mit der Versorgungssicherheit. Und die ist elementar für uns alle. Wer sie gefährdet, gefährdet damit auch die Grundlage der Akzeptanz für den gesamten Transformationsprozess.

Mit Erdgas betriebene Kraftwerke und auch die gesamte Erdgasinfrastruktur haben den Vorteil, dass sie auf eine Nutzung mit Wasserstoff umgestellt werden können. Ab wann wird das praktisch relevant sein?
Wir stehen erst am Anfang einer grundlegenden Umwälzung. Die Hälfte meiner Zeit widme ich der Frage, wie wir beim Thema Wasserstoff vorankommen. In den Mitgliedsunternehmen gibt es quer durch alle Größenklassen beachtliche Initiativen und Projekte. Von entscheidender Bedeutung ist in dieser Phase der Aufbau der Transportinfrastruktur. Auch auf allen anderen Eben der gesamten Wertschöpfungskette sehe ich vielversprechende Vorhaben. Es wird aber sicher noch einige Jahre dauern, ehe der Hochlauf gelingt und Skaleneffekte zum Tragen kommen.

Bislang steht klimaneutraler Wasserstoff noch nicht zur Verfügung. Mit welcher Entwicklung rechnen Sie?
Das Potenzial ist enorm. Natürlich ist Wasserstoff nicht der Heilsbringer für alles, aber er wird die eine tragende Säule des transformierten Energieversorgungsystems werden, da bin ich mir sicher. Wir plädieren für einen breiten Ansatz. Wasserstoff kann nicht nur in den Sektoren Industrie und im Schwerlast- oder Flugverkehr entscheidende Beiträge auf dem Weg zur Klimaneutralität liefern. Allein seine Speicherbarkeit wird ihn mittelfristig unverzichtbar machen.

Aktuell muss sich die Gasbranche vor allen Dingen mit dem Thema Methan auseinandersetzen. Was ist zu tun? Wie bewerten Sie die Regulierungspläne der EU-Kommission?
Die Methan-Strategie der EU-Kommission ist sinnvoll. Wir unterstützen das. Wir brauchen eine einheitliche Datenbasis für Messung und Berichterstattung sowie mehr Transparenz. Die Branche ist sich bewusst, dass sie nachlegen muss. Das Erkennen und Reparieren von Lecks muss höhere Priorität bekommen. Unsere Branche in Deutschland konnte den Methanausstoß im Zeitraum 1990 bis 2017 bereits um 40 Prozent reduzieren. Die Gasverteilnetzbetreiber und die Fernleitungsnetzbetreiber arbeiten konkret an Projekten, die zur weiteren Emissionsminderung beitragen.

Stichwort Gebäudesektor: In vielen Szenarien spielen elektrische Wärmepumpen eine dominante Rolle. Sind Erdgasheizungen ein Auslaufmodell?
Wir brauchen alle Lösungsansätze. Wir reden in Deutschland über einen äußerst heterogenen Gebäudebestand von 42 Millionen Wohnungen. Hinsichtlich der Bausubstanz und der Einkommensverhältnisse der Bewohnerinnen und Bewohner gibt es eine riesige Spannbreite. Ich halte es für realistisch, die Zahl der elektrischen Wärmepumpen von derzeit einer Million auf sechs Millionen bis 2030 zu erhöhen. Gerade im Neubaubereich stellt die Wärmepumpe in Kombination mit Solarthermie eine sinnvolle Lösung dar. Aber wir sollten auch bedenken, dass wir 18 Millionen Wohnungen ans Gasnetz angeschlossen haben. Hinzu kommen Mittelständler, die ebenfalls am Gasnetz hängen und enormen Bedarf an Wärme haben. Perspektiv lässt sich die Wärmeversorgung auch über das Gasnetz dekarbonisieren. Darin steckt enormes Potenzial, ebenso wie im Ausbau der Fern- und Nahwärmenetze zur Versorgung mit grüner Fernwärme.

Mehr: Merkels letzter Auftritt als Klimakanzlerin

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  • Wir haben etwa einmal pro Jahr eine Periode von plus/minus 7 Tage, in der Wind und Sonne nichts bringen. Diese Periode kommt dann, wenn im Winter ein Hoch über Mitteleuropa liegt. In dieser Zeit muss fast 100% der geforderten Leistung durch Kraftwerke auf fossiler Basis erbracht werden. Das ändert sich erst dann, wenn die Stromerzeugung durch Kraftwerke auf Wasserstoffbasis, Kernspaltung oder Kernfusion möglich ist. Der Wasserstoff dazu muss m.E. aus Gegenden mit mehr Sonne oder mehr Wind als hier möglich kommen. Alle Varianten sind m.E. erst in fernerer Zukunft realisierbar.

    Ich halte es für sinnvoll, nicht Geld in neue Gaskraftwerke zu stecken, sondern vorhandene Kohlekraftwerke auch über 2038 hinaus für die relativ kurzen Perioden einzusetzen, in denen die Erneuerbaren nichts bringen. Diese Perioden sind so früh erkennbar, dass auch Kohlekraftwerke dafür flexibel genug einsetzbar sind.

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