Serie Klimapioniere Alnatura-Gründer Rehn fordert radikale Maßnahmen für den Klimaschutz

Der Alnatura-Gründer sagt: „Für uns gibt es keinen Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie.“
Darmstadt Für manches Bauvorhaben hätte es das rasche Aus bedeutet. Auf dem ehemaligen US-Militärgelände der Kelley Barracks im Südwesten von Darmstadt, auf dem Alnatura seine neue Zentrale bauen wollte, hatte sich die geschützte Zauneidechse angesiedelt. Beim Bau der neuen Gigafabrik von Tesla in Brandenburg hatten diese Tiere zumindest für heftigen Streit und einen vorübergehenden Rodungsstopp gesorgt.
Doch der Biohändler löste die Sache pragmatisch. Mithilfe von Naturschützern wurden 300 Eidechsen eingefangen und vorübergehend umgesiedelt. Nach Ende des Baus wurden die Tiere zurückgebracht und haben jetzt auf dem 55.000 Quadratmeter großen Firmencampus ein Reservat mit Steinen, Totholz, Hecken und sandigen Böden zur Eiablage.
„Wir sind ein Modellunternehmen, wir wollen zeigen: Man kann sinnvoll wirtschaften“, sagt Götz Rehn, Gründer und Chef von Alnatura. „Für uns gibt es keinen Gegensatz zwischen Ökonomie und Ökologie.“
Und während jetzt viele Unternehmen verzweifelt versuchen, ihren Betrieb so zu verändern, dass er klimafreundlicher und im besten Fall sogar klimaneutral ist, hat Alnatura in der Frage einen echten Startvorteil. Nachhaltigkeit und Schutz des Klimas und der Umwelt waren von Anfang an Kern der Gründung und mussten nicht erst eingeführt werden.
„Nachhaltigkeit liegt seit Anbeginn in den Genen unseres Unternehmens, das mussten wir nicht nachträglich erfinden“, beschreibt es der Gründer. „Unser Geschäftsmodell ist von sich aus nachhaltig.“ Und alle Innovationen im Unternehmen würden sorgfältig daraufhin geprüft.
Verzicht auf Pestizide und Düngemittel
„Alnatura gilt zu Recht als Pionier – bei Biolebensmitteln, nachhaltiger Wirtschaftsweise und auch beim Klimaschutz“, bestätigt Katharina Reuter, Geschäftsführerin des Bundesverbands Nachhaltige Wirtschaft. „Sei es ein Hochregallager aus Holz, die Versorgung mit 100 Prozent erneuerbaren Energien, seien es nachhaltig eingerichtete Alnatura-Märkte – beim Vertrieb von Bio-Lebensmitteln in dieser Größenordnung wird hier voraus- und vorangedacht.“
Schon der Biolandbau an sich ist aktiver Klimaschutz. Denn die ökologische Landwirtschaft reichert den Boden mit Humus an, der CO2 bindet. Auch der Verzicht auf chemische Pestizide und mineralische Düngemittel verbessert die CO2-Bilanz der Nahrungsmittelproduktion.
Alnatura fördert mit seiner „Bio-Bauern-Initiative“ gemeinsam mit dem Umweltverband Nabu die Umstellung von konventionell wirtschaftenden Höfen auf bio. „Das ist ein riesiger Hebel für die Rettung des Klimas“, sagt Rehn.
Mit der Bio-Bauern-Initiative habe das Unternehmen in fünf Jahren 15.000 Hektar Ackerfläche auf ökologischen Anbau umgestellt. „Damit konnten wir viel zum Klimaschutz beitragen“, betont der Alnatura-Gründer.
Ganz uneigennützig ist dieses Engagement nicht, ist doch immer noch nur ein Bruchteil der Fläche in der Landwirtschaft ökologisch bewirtschaftet und steht deshalb für eine Produktion für Biohändler zur Verfügung. Zwar ist die Bioanbaufläche in Deutschland seit 2014 um fast 50 Prozent gewachsen, sie liegt aber immer noch bei unter zehn Prozent der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche.
Erster in Deutschland produzierter Ingwer
Zugleich tragen Initiativen wie die von Alnatura zum „Green Deal“ der EU-Kommission bei. Dieser sieht vor, dass bis 2030 in Deutschland 25 Prozent der Flächen ökologisch bewirtschaftet werden sollen. Dafür müssten jedes Jahr 240.000 Hektar umgestellt werden, zuletzt waren es aber erst 100.000 Hektar.
Daneben arbeitet das Unternehmen daran, dass immer mehr seiner Produkte in Deutschland hergestellt werden, um kurze Transportwege zu haben. „Wir haben es beispielsweise geschafft, Ingwer auf der Insel Reichenau anzubauen, das ist der erste in Deutschland produzierte Ingwer“, freut sich Rehn. Die ersten Lieferungen waren schneller weg, als der Händler gucken konnte.
Manchmal kann man auch aus der Not eine Tugend machen. So gab es für das neue Hochregallager keine Genehmigung für die benötigte Höhe der Regale. Kurzerhand versenkte das Unternehmen die Regale zweieinhalb Meter im Boden, um trotzdem 32.000 Europaletten unterzubekommen.
Der positive Nebeneffekt: Da das Lager in Lorch in der Nähe des Rheins liegt, temperiert nun das Grundwasser die Waren in den Regalen, die in einer großen Wanne stehen. Eine zusätzliche Kühlung oder Heizung braucht es im Lager so nicht mehr.
In den Geschäften ist es häufig die Summe vieler scheinbar kleiner Veränderungen, die Fortschritte im Klimaschutz bringt. So hat Alnatura als erster Händler Glastüren vor die Kühlregale montiert – eine Maßnahme, die anfangs von der Konkurrenz belächelt wurde und heute bei vielen Standard ist. Sehr früh hat das Unternehmen die Märkte auch schon komplett auf LED-Beleuchtung umgestellt.
Die Ergebnisse sind messbar. So konnte Alnatura den Stromverbrauch in den Geschäften von 311 Kilowattstunden pro Quadratmeter Verkaufsfläche im Geschäftsjahr 2014/15 auf jetzt unter 278 Kilowattstunden reduzieren. Allein dadurch, dass das Unternehmen zu 100 Prozent Ökostrom nutzt, spart es pro Jahr gegenüber dem durchschnittlichen Strommix in Deutschland rund 12.000 Tonnen CO2-Emissionen.
Europas größtes Bürogebäude aus Stampflehm
Besonders augenfällig ist das Engagement für den Klimaschutz bei der Anfang 2019 eröffneten Zentrale in Darmstadt. Nachhaltigkeitsexpertin Reuter nennt sie „ein echtes Vorbild für klimagerechte Architektur“. Das Gebäude wurde mit dem Deutschen Nachhaltigkeitspreis Architektur 2020 ausgezeichnet.
Es ist das größte Bürogebäude mit Stampflehmfassade und integrierter geothermischer Wandheizung in Europa. Belüftet wird das Haus mit frischer Luft, die per Erdkanal aus einem nahe gelegenen Wald zugeführt wird. Der Strom wird per Photovoltaikanlage erzeugt, eine 1000 Kubikmeter große unterirdische Zisterne sammelt Regenwasser für den Brauchwasserkreislauf und für die Bewirtschaftung des Gartens.
„Hier trifft gestalterische Qualität auf Verantwortung für Mensch und Umwelt“, lobte auch Alexander Rudolphi, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen, der von der „hochwertigen, klimagerechten Architektur“ schwärmt. Und Hessens Wirtschaftsminister Tarek Al-Wazir (Grüne) sagte bei der Eröffnung, das Unternehmen zeige, dass man auch mit grünen Ideen schwarze Zahlen schreiben könne, und er räumte ein, dass er lieber in der Alnatura-Zentrale arbeiten würde als in seinem Wiesbadener Ministerium.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass sich Gründer Rehn auch um Details kümmert. So gefiel ihm der graue Farbton des Lehms nicht. Deshalb ließ er ihn mischen mit recyceltem Material vom Tunnelaushub des Bauprojekts Stuttgart 21, was dem Lehm eine bräunliche Farbe gab. Innen hat das 18 Meter hohe Gebäude eine komplett offene Architektur, aus allen Etagen blickt man ins Atrium. Selbst Rehn hat kein geschlossenes Büro mehr.
Begleitet wurde der Neubau von einem Mobilitätskonzept, das sogar von der Bundesregierung ausgezeichnet wurde. Es wurde ein Fahrradparkhaus für die Mitarbeiter gebaut, rund 250 Diensträder gibt es mittlerweile bei Alnatura. Auch kostenlose Ladestellen für E-Bikes und E-Autos stehen auf dem Campus.
Was den Chef besonders freut: Die Baukosten für die klimafreundliche Zentrale hätten sogar unter denen konventioneller Bürogebäude gelegen. Denn er sei zwar „in erster Linie Mensch, in zweiter Linie kümmere ich mich um die Natur, und in dritter Linie bin ich Unternehmer.“ Aber er betont auch: „Dass sich das, was ich tue, rechnen muss, ist doch selbstverständlich.“
Kritik an Kompensation von Klimasünden
Insgesamt ist dem Unternehmer das Tempo der Umwandlung der Wirtschaft in Deutschland hin zu mehr Klimafreundlichkeit viel zu langsam. „Es ist allerhöchste Zeit, dass wir radikal handeln und nicht mehr nur Kosmetik an der Oberfläche betreiben“, mahnt Rehn.
Es nutze ja nichts, wenn man Verschmutzungszertifikate verkaufe, damit jemand anderes damit seine Umweltverschmutzung kompensiere. „Das ist ein Nullsummenspiel“, schimpft er. „Unsere Devise ist: Handeln statt kompensieren.“
Die Gesellschaft überfordere die Regenerationsfähigkeit der Umwelt maßlos, in Deutschland verbrauchten wir mittlerweile die Ressourcen von drei Erden pro Jahr. „Wenn man sich klarmacht, dass die Biokapazität der Erde zu 50 Prozent für die Herstellung von Nahrungsmitteln genutzt wird, dann steht uns das Wasser nicht nur bis zum Hals, sondern wir gucken gerade noch oben raus und atmen schon durch einen Schnorchel“, wählt Rehn ein drastisches Bild.
Um die Menschen auf dem Weg zu mehr Klimaschutz besser mitzunehmen, brauche es eine positivere Herangehensweise, rät er. „Wir müssen im Klimaschutz weg vom Frust und hin zur Lust.“ Er wolle mit seinem Unternehmen zeigen, dass „wir auf nichts verzichten müssen“ bei einem adäquaten Umgang mit der Natur. „Wir sind ja keine Asketen, wir laufen nicht in Sackleinen rum“, sagt er lachend.
Natürlich müsse man auch Mut haben, um radikale Entscheidungen zu treffen, die auch mal Gewinn kosten. „Aber ein echter Unternehmer hat ja keine Angst“, sagt er. „Wir sind von dem überzeugt, was wir tun, und ein gewisses Risiko gehört dann dazu.“
Und zu mehr Mut rät er auch der Politik. Denn Rehn ist überzeugt: „Wir müssen die Rahmenbedingungen in unserer Gesellschaft ändern. Die Menschen selbst wissen ziemlich genau, was sinnvoll ist.“
Serie – Klimapioniere der Wirtschaft: Es gibt kaum einen Tag, an dem nicht ein neues Unternehmen auf der Welt seine frisch gesetzten Klimaziele und Ambitionen für die Energiewende erklärt. Dabei gibt es einige, die dem Trend der „Green Economy“ schon lange vorausgehen und seit vielen Jahren beweisen, dass Ökologie und Ökonomie kein Widerspruch sein müssen. In unserer Serie stellen wir einige dieser „Klimapioniere“ vor.
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