Kommentar: Die Angriffe auf türkische Soldaten sind ein geopolitischer Game Changer – auch für Europa

Rauchwolken über der Stadt Saraqib in der syrischen Region Idlib
In Syrien steht ein offener Krieg an. Nachdem syrische Regimetruppen in der Nacht zum Freitag mutmaßlich Dutzende türkische Soldaten in der Rebellenhochburg Idlib getötet haben, hat das türkische Militär sofort zum Gegenschlag ausgeholt, gegen syrische und auch russische Stellungen.
Die Angriffe auf das Nato-Mitglied sind nicht nur dramatisch für die Angehörigen der getöteten Soldaten, ebenso für Zivilisten in der Region. Darüber hinaus hat die militärische Eskalation erhebliche geopolitische Auswirkungen: Das äußerst fragile Gleichgewicht in Syrien ist nun zusammengebrochen. Der offene Konflikt verschiebt auch die Bündnis-Situation vor Ort und in internationalen Gremien. Europa könnte einmal mehr mit den Folgen zu kämpfen haben.
Die Türkei und Russland hatten sich im sogenannten Astana-Prozess gemeinsam mit dem Iran darauf geeinigt, in einzelnen Regionen in Syrien die Waffen ruhen zu lassen, um am Verhandlungstisch zu einer Lösung zu kommen.
Der Iran ist durch das Coronavirus und den Tod eines ihrer wichtigsten Militärkommandanten außen- und sicherheitspolitisch geschwächt. Und zwischen Moskau und Ankara hatte es zuletzt schon gekriselt. Nach mehreren Angriffen syrischer Truppen auf türkische Einheiten, bei denen bereits vereinzelt türkische Soldaten ums Leben gekommen waren, wurde schnell klar, dass Russlands Präsident Wladimir Putin nicht an der Seite des türkischen Staatschefs Recep Tayyip Erdogan steht, wie viele zuvor immer vermutet hatten. Russland hatte in den vergangenen Tagen den Kontakt zur Türkei gemieden und damit angedeutet, dass das Zweckbündnis am Ende sein könnte.
Die USA wiederum hatten sich zuletzt demonstrativ an die Seite der Türkei gestellt. Kurz vor den Angriffen gab es sogar Spekulationen darüber, ob die Amerikaner Luftabwehrraketen vom Typ Patriot an die türkisch-syrische Grenze verlegen – genau in die Gegend, wo es nun zu den tödlichen Angriffen gekommen ist.
Türkei hindert Flüchtlinge nicht mehr an Weiterreise nach Europa
Kurz nach den Angriffen forderte US-Senator Lindsey Graham eine Flugverbotszone über Idlib. Das ist genau das, was die Türkei seit 2015 gefordert hatte. Wenn die USA diesen Wunsch nun erfüllt, ist das auch ein Zeichen dafür, dass sich Washington und Ankara nach mehreren Jahren voller diplomatischer Streits wieder annähern könnten.
Auch Europa ist betroffen, und das nicht nur indirekt. Präsident Erdogan hatte kurz nach den Angriffen bekannt gegeben, syrische Flüchtlinge in der Türkei nicht mehr an einer Weiterreise nach Europa zu hindern. Einem offiziellen Statement zufolge seien Grenzbeamte an Land und auf See angewiesen worden, Menschen auf der Reise in die EU nicht aufzuhalten. „Die Flüchtlingspolitik der Türkei bleibt dieselbe, doch wird die Türkei nicht mehr in der Lage sein, die Menschen zu versorgen“, erklärte Ibrahim Kalin, Sprecher von Präsident Erdogan, in der Nacht zum Freitag.
Damit will die türkische Führung Europa in die Pflicht nehmen und gleichzeitig unter Druck setzen. Die EU zahlt der Türkei bis zu sechs Milliarden Euro, damit die Türkei mehr als drei Millionen syrische Schutzsuchende im Land versorgt und sie nicht nach Europa schickt. Die Ankunft von gut 1,5 Millionen Syrern in Europa im Jahr 2015 hatte für großes Chaos auf dem Kontinent gesorgt und rechtsradikalen Parteien Auftrieb verliehen.
Jetzt steht die EU unter Zugzwang. In Idlib sind rund 900.000 Menschen auf der Flucht. Wenn diese Menschen über die Türkei nach Europa kommen, droht eine Situation ähnlich wie 2015. Die türkische Führung will offenbar die europäischen Regierungen dazu zwingen, sich für eine Lösung im Syrienkrieg einzusetzen, der nun fast neun Jahre andauert.
Aus Sicht der USA sowie von US-Präsident Donald Trump dürfte wiederum alles nach Plan laufen. Amerikanische Soldaten sind nicht betroffen. Das Nato-Mitglied Türkei wird offenbar künftig Abstand von Russland nehmen und sich stattdessen seiner alten Allianz zuwenden. Europa ist schon jetzt geschwächt, auch das ist im Sinne Trumps.
Der US-Präsident könnte jetzt mit verschiedenen Mitteln darauf drängen, dass sich zumindest Europas Nato-Mitglieder militärisch stärker in den Syrienkrieg einmischen. Die Unterstützung bei der Errichtung einer Flugverbotszone wäre eine Möglichkeit Trumps, die Europäer in die Pflicht zu nehmen.
So oder so: Die Regierungen in Berlin, Paris, Rom und anderen Hauptstädten sowie die Verantwortlichen in Brüssel stehen unter Zugzwang und müssen sich nun schnell positionieren. Die nächste Krise steht vor Europas Haustüre – wortwörtlich.
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