Kommentar Die EU braucht wieder Mut zur Kooperation mit der Türkei

Europa und die Türkei sollten sich unabhängig von Regierenden wieder näherkommen.
Recep Tayyip Erdogan ist in Europa unten durch. Wer Hunderttausende verhaftet, Nazivergleiche anstrebt und europäische Werte verachtet, der braucht nicht darauf zu hoffen, dafür hofiert zu werden.
Dennoch: Die Ignoranz, die der Türkei aus Europa entgegenschlägt, ist verhängnisvoll. Es gibt Bereiche, in denen das Land am Bosporus strategische Vorteile besitzt. Die muss Europa nutzen – egal, wer in Ankara regiert.
Der Besuch des russischen Staatschefs Wladimir Putin in Istanbul am Mittwoch hat gezeigt: Russland und die Türkei teilen Europas Gasversorgung unter sich auf.
Russland liefert den Rohstoff, durch die Türkei führen die Leitungen, mit denen Griechenland, der Balkan oder auch Österreich künftig versorgt werden sollen. Damit begeben sich diese Länder in eine Abhängigkeit: Was, wenn Erdogan den Gashahn künftig als politisches Druckmittel einsetzt?
Jetzt die besten Jobs finden und
per E-Mail benachrichtigt werden.
Im Libyenkonflikt sind es ebenso Russland und die Türkei, die das Geschehen bestimmen. Putin und Erdogan haben dort unlängst eine Waffenruhe vereinbart.
Beschließen aber beide autoritäre Staatschefs, die Lage dort eskalieren zu lassen, fliehen mehr Menschen über das Mittelmeer nach Europa. Wozu das europaweit führt, hat das Jahr 2015 gezeigt.
Erdogan ist, was viele seiner Ansichten angeht, in der Historie seines Landes kein Sonderfall. 1974 zum Beispiel war es ein linker Ministerpräsident, der den Einmarsch türkischer Truppen nach Nordzypern befahl; ein Problem, das Europas Regierungen noch heute beschäftigt.
Die drei Militäreinsätze in Nordsyrien in den vergangenen Jahren wurden wiederum beinahe von der gesamten Gesellschaft unterstützt. Und: Die türkische Opposition will Flüchtlinge noch schneller loswerden als Erdogan – das wäre ein Problem für die EU und den Flüchtlingspakt.
Die Frage, wie die Türkei behandelt werden muss, hängt nicht am Präsidenten. Auch der Hoffnungsträger der Opposition, der neue Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu, vertritt teilweise Ansichten, mit denen er in Berlin bereits für große Enttäuschung gesorgt hat. Es ist richtig, sich Erdogans Verhalten entgegenzustellen, wo es angebracht ist.
Die Frage lautet aber: Mit welchen Mitteln?
Ausgrenzung führt dazu, dass die Türkei unkontrollierbar wird. Erdogan macht, was er will. Auch deswegen, weil Europa selbst die Gesprächsformate abgeschaltet hat, mit denen Merkel, Macron und andere Führungspersönlichkeiten noch auf ihn einwirken konnten.
Die gelegentliche Teilnahme türkischer Minister an Treffen des EU-Ministerrats, etwa bei Flüchtlings- oder Energiethemen, wäre eine Möglichkeit, das Land wieder mehr einzubinden. Nicht nur, um der Regierung aus Ankara zuzuhören, sondern auch, um auf sie einzuwirken.
Mehr: Im Fall Libyen wirkt der Westen schwach – und Russland nutzt das aus. Ein Kommentar.
Das Kommentieren dieses Artikels wurde deaktiviert.