Morning Briefing Mach mal Selfie, mach mal Politik
Guten Morgen liebe Leserinnen und Leser,
ein Selfie macht Karriere. Wer nach Belegen sucht, wie Social Media politische Debatten beherrscht, greift einfach zu jenem Kunstwerk, das die Chef-Vorsondier-Unterhändler von den Grünen und der FDP am Dienstagabend produziert haben. Wir sehen ein Quartett voll bei der Sache, also fixiert auf die Kamera. Die Herren im Bloß-keine-Krawatte-Freizeitlook, die einzige Frau etwas forsch einrahmend. Man lächelt nur leicht angedeutet, man weiß ja nicht, ob alle in der hochwahrscheinlichen „Ampel“-Bundesregierung landen werden oder aber in der christlichen Trostrunde namens „Jamaika“.
Was sich Volker Wissing, Annalena Baerbock, Christian Lindner und Robert Habeck da medienstrategisch an ihrem Gesprächsabend ausdachten, ging am Ende voll auf: 24 Stunden Gruppenbild mit Dame auf allen Kanälen. Die Vier inspirierten offenbar zum Kreativ-Contest der Websites – die mal fragten, wie diese Popband wohl heiße oder lieber gleich verkündeten, „Silbermond“ sei doch ganz schön alt geworden.

Da denkt man also in deutschen Redaktionsstuben plötzlich mit „Titanic“-Esprit über die Selfie-Runde nach, über diese in einem kahlen Raum mit herunterhängendem Kabel symbolisierte Sprungbereitschaft ins digitale Zeitalter. Und weiß doch: Es ist nichts weiter passiert, als die neu in Umfragen dokumentierte „Ampel“-Präferenz der Deutschen mit Habeck als Wunsch-Vizekanzler.
Und es ist nun klar, dass die Liberalen zunächst mit der langsam aus dem Koma erwachenden Union am Krankenbett sprechen, während die Grünen die auf einmal kraftstrotzenden Sozialdemokraten in ihrem Rehabilitierungszentrum besuchen. Wie viel anders war die Bilderwelt doch vor vier Jahren: Als man in der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft in Berlin über „Jamaika“ verhandelte und sich zum Foto-Abschuss auf dem Balkon sammelte. Nichts hatte man im Griff: weder Motiv, noch Technik, noch den Koalitionsvertrag.

Wenn wir nun schon mal bei Social Media sind, machen wir hier einfach weiter: mit der großen Bewegtbildermaschine Youtube aus dem Monopoly-Häuschen Google. Sie hat diese Plattform, auf der nichts zu platt ist, für die deutschsprachigen Kanäle des russischen Propagandasenders RT gesperrt. RT habe gegen die Richtlinien zu medizinischen Fake-News über Covid-19 verstoßen. Für den Kreml handelt es sich um „beispielslose Informationsaggression“, ja um „Infobarbarossa“, eine Anspielung auf den 1941er Angriff von Nazi-Deutschland auf die damalige Sowjetunion – die Aktion hieß „Barbarossa“. Russlands Behörden überlegen jetzt ihrerseits, Youtube zu sperren. Fazit: Diese Bildstörung wird anhalten.
Wer in den vergangenen Jahren durch China gereist ist, dem sind Rohbauten mit Kränen davor aufgefallen, denen die dazu passenden Arbeiter fehlten. Oder man sah sogar komplette Geisterstädte. Der Immobilienboom als große Erzählung vom staatskapitalistischen Sturm und Drang war schon länger nur ein Kapitel im dicken Buch chinesischer Volksmärchen. Nun brechen die Verkäufe von Eigenheimen und von Land und Grund ein, referiert unser Report, die Kaufpreise für Immobilien wiederum steigen kaum.
Intensiv arbeitet die kommunistische Regierung in Peking an einer Restrukturierung. Eine staatliche Investmentgruppe hat dem in Strudel geratenen Baukonzern Evergrande einfach für viel Geld dessen Anteil an einer lokalen Bank abgekauft. Auch Konkurrenten sind in Nöten, zudem gibt es aktuell in einzelnen Regionen große Stromausfälle. Wie sagt es ein Wirtschaftsanalyst in Singapur so schön: „Mit Evergrande will man die Affen erschrecken, aber man will sie nicht vertreiben.“
Mit der geplanten schnellen Wahl der Fraktionsspitze der AfD im neu gewählten Bundestag wird es nichts. Parteichef Jörg Meuthen und Noch-Fraktionschefin Alice Weidel streiten – nebst ihrer Bataillone –, ob die 10,3 Prozent vom Sonntag wohl Flop oder Fügung gewesen seien. In diesem Deutungszank musste die geplante Wahl von Weidel und Tino Chrupalla auf den heutigen Donnerstag verschoben werden.
Einen Abgeordneten ist die AfD wieder los: Matthias Helferich verzichtet freiwillig, er hat sich in Chats selbst als „freundliches Gesicht des NS“ bezeichnet, was eine gar nicht freundliche Ironie gewesen sein soll. Bleiben durfte dagegen Cellist Matthias Moosdorf, der dem alten Fraktionschef Alexander Gauland „Bockigkeit“ sowie zu viel Verständnis für Radikalinskis in der Partei vorgeworfen hatte. Wenn es so weitergeht, kommen die ersten AfDler auf die Idee, den Zankapfel zur verbotenen Frucht zu erklären.

In Los Angeles hat ein Gericht gestern Abend die Vormundschaft für den Vater der Popsängerin Britney Spears mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Das sei im „besten Interesse“ der Künstlerin, erklärte die Richterin. Nach psychischen Problemen seiner Tochter hatte Jamie Spears vor 13 Jahren die Kontrollfunktion übernommen. Nun wird erstmal ein Buchhalter als neuer Vormund eingesetzt. Mittelfristig sieht es so aus, als könne die 39-jährige Sängerin wieder selbst über ihr 60-Millionen-Dollar-Vermögen bestimmen. Sie selbst erklärte vor Wochen: „Ich will bloß mein Leben zurück.“
Und dann ist da noch die Berliner Landeswahlleiterin Petra Michaelis, die diesmal die aktuelle Kolumne „Der tägliche Rücktritt“ füllt. Noch vor zwei Tagen hatte sie nicht erkannt, dass die vier Wahlen vom Sonntag – plus Marathon – die ohnehin dauergestresste Hauptstadt komplett überfordert haben. „Wenn da was schiefgegangen ist, dann muss ich leider sagen, sind es die Bezirkswahlämter gewesen“, versuchte Michaelis zu erklären, was nicht zu erklären ist: die fehlenden oder falschen Wahlzettel, zu wenige Wahlkabinen, lange Schlangen vor den Wahllokalen und Stimmabgaben kurz vor der „Tagesschau“, als schon die nächste Hochrechnung versendet wurde.
Sie übernehme die Verantwortung im Rahmen ihrer Funktion und bitte den Senat, sie „unverzüglich abzuberufen“, sagte Michaelis. Ähnliche Worte haben in der Union übrigens nicht wenige Mitglieder vom untergegangenen Armin Laschet erwartet.
Ich wünsche Ihnen einen gelungenen, pannenfreien Tag.
Es grüßt Sie herzlich
Ihr
Hans-Jürgen Jakobs
Senior Editor
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